Erwünschtes Verhalten zu belohnen, ist Machtmissbrauch - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Erwünschtes Verhalten zu belohnen, ist Machtmissbrauch

Lesedauer: 4 Minuten

Viele Eltern wollen ihre Kinder heute nicht mehr bestrafen. Doch ist Belohnung die bessere Erziehungsmethode? Familientherapeut Jesper Juul sagt: Nein!

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Das Wichtigste zum Thema 

«Wenn du das machst, bekommst du später…!» – Eine Belohnung bei gutem Verhalten, aber auch eine Bestrafung bei schlechtem Verhalten ist immer noch ein verbreitetes Erziehungsmodell. Diese Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode sieht Familientherapeut Jesper Juul äusserst kritisch und erklärt, welche Probleme damit verbunden sind.

Denn: Mit dieser Art der Erziehung geben Eltern dem Kind das Gefühl, seinen Fähigkeiten, sich in einer Situation richtig zu verhalten, nicht zu vertrauen. 

Lesen Sie den gesamten Text und erfahren Sie, welche Auswirkungen eine solche Erziehungsmethode auf Kinder haben kann und welche Rolle die elterlichen Erwartungen dabei spielen. Eltern wünschen sich Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl. Jesper Juul erklärt, weshalb der Tauschhandel mit dem Kind alles andere als zielführend ist.  

Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel über Belohnung als Teil der Kindererziehung verfasst. Meine Aussagen haben eine breite Debatte ausgelöst. Ich war sehr überrascht, wie viele Menschen glauben, dass es in Ordnung ist, Kinder zu belohnen, um als Erwachsener etwas von ihnen zu bekommen. Unter anderem stellte ich die Frage: Sollen Kinder belohnt werden, wenn sie höflich sind?

Belohnen ist seit einiger Zeit als Erziehungsmethode auf dem Vormarsch und wird heute sowohl in Kindergärten als auch Schulen praktiziert. Aber tun wir unseren Kindern damit wirklich etwas Gutes? 

Immer mehr wollen

Das Problem mit der Belohnungsmethode ist, dass sie tatsächlich oft funktioniert, ganz besonders bei ein- bis fünfjährigen Kindern. Jedoch meist nur für kurze Zeit. Dann stellen
sich die Kinder darauf ein: Sie fordern eine immer grössere Belohnung oder reagieren gar nicht mehr darauf.

Ein weiteres Problem ist, dass die Methode logischerweise nach Bestrafung verlangt, wenn die Belohnung nicht mehr funktioniert.Viele Eltern landen deshalb – trotz anfänglichem Widerwillen – letztlich bei der Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode.

In der Debatte nach meinem Artikel zeigten sich manche Eltern überzeugt, dass es unmöglich ist,  Kinder ohne Strafe – heute wird oft  das Wort «Konsequenz» benutzt – zu erziehen. Sie setzen auf Einschüchterung. Dies wird auch in der Schule oft so gemacht, wenn auch nicht in aktiver Art und Weise. Die Frage, ob Erziehen ohne Strafen möglich ist, wurde bereits vor langer Zeit beantwortet: Viele Eltern rund um den Globus lassen ihre Kinder ohne Strafen heranwachsen – und das mit grossem Erfolg. Also ist es möglich! Deshalb müssen wir die Frage vielleicht anders formulieren: Gibt es Eltern, die ihre Kinder ohne den Einsatz von Strafe und Belohnung erfolgreich grossziehen? Ja, die gibt es. 

Viele Eltern landen letztlich
bei der Zuckerbrot-und-
Peitsche-Methode.

Im Laufe der Zeit haben wir die Manipulation unserer Kinder immer sanfter gestaltet. Wir haben unsere Beziehung zu ihnen demokratisiert und gewähren ihnen grössere Autonomie und das Recht, ihre eigene Wahl im Leben zu treffen. Beides sind meiner Einschätzung nach gute Ideen.

Die Erwartungen überdenken

Ein Grossteil der Eltern will heute vieles mit sanfteren Mitteln erreichen. Aber das ist schwierig. Das konfrontiert uns Erwachsene mit der Wahlmöglichkeit: Werden wir effizientere Erziehungsmethoden finden, oder überdenken wir unsere Erwartungen und Anforderungen?

Viele Eltern mögen es beispielsweise, wenn ihr Kind ruhig bei Tisch sitzt und isst. Als Kind hatte ich einen Freund, bei dem ich sehr gerne ass. In seiner Familie war es nett, sich bei Tisch zu unterhalten, das Essen selbst auszuwählen, und es herrschte nie Hektik am Tisch. In allen anderen Familien, meine eigene eingeschlossen, war die Stimmung angespannt, und es herrschte die Überzeugung, dass Kinder «gesehen, aber nicht gehört» werden sollten. Es ging darum, das Essen irgendwie zu überstehen, Bestrafungen zu vermeiden und so schnell wie möglich wieder an die frische Luft zu kommen. 

Heute erleben viele Familien ein regelrechtes Chaos bei Tisch. Diesem Chaos liegt immer das Fehlen von Führung oder eine schlechte Führung zugrunde. Den Kindern in diesen Familien wird nun die Führungsmethode der Belohnung angeboten: «Wenn du ruhig sitzt und brav isst, bekommst du …» Ist das eine angemessene Entschädigung für eine schlechte elterliche Führung oder ein wünschenswerter Ersatz für eine gute Beziehung?

Heute erleben viele Familien ein
regelrechtes Chaos bei Tisch.
Diesem Chaos liegt ein Fehlen
von Führung zugrunde.

Das eigentliche Problem ist sehr viel komplizierter: Es ist die Botschaft hinter der Belohnung, die dem Kind mitteilt: «Ich vertraue nicht darauf, dass du dich angemessen benimmst, wenn ich dich nicht belohne.» Das ist ein eindeutiger Misstrauensantrag an das Kind. Er ignoriert die nachgewiesene Fähigkeit des Kindes und seine Bereitschaft, sich «anzupassen» und zu kooperieren. Die überwiegende Mehrheit von Eltern, die ich kennengelernt habe, wünscht sich, dass ihre Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl und viel Selbstvertrauen aufwachsen. Ganz anders als die Generation meiner Eltern.

Liebe als Tauschhandel

Strafe und Belohnung als Verhaltensmethoden haben eines gemeinsam: Sie setzen Endorphine im Gehirn der Kinder frei. Ein Hormon, das ein kurzfristiges Glücksgefühl verursacht, wie beim Sport oder beim Einkaufen. Aber das Hormon wird nicht im «Selbst» gespeichert. Es erzeugt keine existenzielle Substanz, sondern Abhängigkeit. Diese Art der Abhängigkeit verlangt eine permanente Rückbestätigung von aussen.

Jede Frau und jeder Mann, die bzw. der versuchen würde, den Partner, die Partnerin mit einem Belohnungssystem zu regulieren, würde sich zum Gespött machen. Stellen wir uns vor, eine Frau ist verärgert, weil ihr Mann am Sonntagmorgen arbeitet, anstatt Zeit mit ihr zu verbringen. Wenn man davon überzeugt wäre, dass eine Belohnung die angemessene Form für eine auf Liebe basierende Beziehung ist, könnte dieser Mann zu ihr sagen: «Wenn du still bist, bis ich fertig bin, können wir am Nachmittag zum Strand gehen.»

In diesem Fall wäre Liebe ein Tauschhandel. Der einzige Unterschied zwischen dieser Frau und einem Kind ist, dass ein Kind seine Eltern bedingungslos liebt und es deshalb viel einfacher ist, es zu manipulieren. Aber ist es das, was wir wollen?   

In Zusammenarbeit mit familylab.ch

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

Jesper Juul: Exklusiv im Dezember 2017

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