Erwünschtes Verhalten zu belohnen, ist Machtmissbrauch

Viele Eltern wollen ihre Kinder heute nicht mehr bestrafen. Doch ist Belohnung die bessere Erziehungsmethode? Familientherapeut Jesper Juul sagt: Nein!
Das Wichtigste zum Thema
«Wenn du das machst, bekommst du später…!» – Eine Belohnung bei gutem Verhalten, aber auch eine Bestrafung bei schlechtem Verhalten ist immer noch ein verbreitetes Erziehungsmodell. Diese Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode sieht Familientherapeut Jesper Juul äusserst kritisch und erklärt, welche Probleme damit verbunden sind.
Denn: Mit dieser Art der Erziehung geben Eltern dem Kind das Gefühl, seinen Fähigkeiten, sich in einer Situation richtig zu verhalten, nicht zu vertrauen.
Lesen Sie den gesamten Text und erfahren Sie, welche Auswirkungen eine solche Erziehungsmethode auf Kinder haben kann und welche Rolle die elterlichen Erwartungen dabei spielen. Eltern wünschen sich Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl. Jesper Juul erklärt, weshalb der Tauschhandel mit dem Kind alles andere als zielführend ist.
Belohnen ist seit einiger Zeit als Erziehungsmethode auf dem Vormarsch und wird heute sowohl in Kindergärten als auch Schulen praktiziert. Aber tun wir unseren Kindern damit wirklich etwas Gutes?
Immer mehr wollen
sich die Kinder darauf ein: Sie fordern eine immer grössere Belohnung oder reagieren gar nicht mehr darauf.
Ein weiteres Problem ist, dass die Methode logischerweise nach Bestrafung verlangt, wenn die Belohnung nicht mehr funktioniert.Viele Eltern landen deshalb – trotz anfänglichem Widerwillen – letztlich bei der Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode.
In der Debatte nach meinem Artikel zeigten sich manche Eltern überzeugt, dass es unmöglich ist, Kinder ohne Strafe – heute wird oft das Wort «Konsequenz» benutzt – zu erziehen. Sie setzen auf Einschüchterung. Dies wird auch in der Schule oft so gemacht, wenn auch nicht in aktiver Art und Weise. Die Frage, ob Erziehen ohne Strafen möglich ist, wurde bereits vor langer Zeit beantwortet: Viele Eltern rund um den Globus lassen ihre Kinder ohne Strafen heranwachsen – und das mit grossem Erfolg. Also ist es möglich! Deshalb müssen wir die Frage vielleicht anders formulieren: Gibt es Eltern, die ihre Kinder ohne den Einsatz von Strafe und Belohnung erfolgreich grossziehen? Ja, die gibt es.
Viele Eltern landen letztlich
bei der Zuckerbrot-und-
Peitsche-Methode.
Die Erwartungen überdenken
Viele Eltern mögen es beispielsweise, wenn ihr Kind ruhig bei Tisch sitzt und isst. Als Kind hatte ich einen Freund, bei dem ich sehr gerne ass. In seiner Familie war es nett, sich bei Tisch zu unterhalten, das Essen selbst auszuwählen, und es herrschte nie Hektik am Tisch. In allen anderen Familien, meine eigene eingeschlossen, war die Stimmung angespannt, und es herrschte die Überzeugung, dass Kinder «gesehen, aber nicht gehört» werden sollten. Es ging darum, das Essen irgendwie zu überstehen, Bestrafungen zu vermeiden und so schnell wie möglich wieder an die frische Luft zu kommen.
Heute erleben viele Familien ein
regelrechtes Chaos bei Tisch.
Diesem Chaos liegt ein Fehlen
von Führung zugrunde.
Liebe als Tauschhandel
Jede Frau und jeder Mann, die bzw. der versuchen würde, den Partner, die Partnerin mit einem Belohnungssystem zu regulieren, würde sich zum Gespött machen. Stellen wir uns vor, eine Frau ist verärgert, weil ihr Mann am Sonntagmorgen arbeitet, anstatt Zeit mit ihr zu verbringen. Wenn man davon überzeugt wäre, dass eine Belohnung die angemessene Form für eine auf Liebe basierende Beziehung ist, könnte dieser Mann zu ihr sagen: «Wenn du still bist, bis ich fertig bin, können wir am Nachmittag zum Strand gehen.»
In diesem Fall wäre Liebe ein Tauschhandel. Der einzige Unterschied zwischen dieser Frau und einem Kind ist, dass ein Kind seine Eltern bedingungslos liebt und es deshalb viel einfacher ist, es zu manipulieren. Aber ist es das, was wir wollen?
In Zusammenarbeit mit familylab.ch
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