Die Botox-Kultur schadet dem Selbstgefühl der Kinder - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Die Botox-Kultur schadet dem Selbstgefühl der Kinder

Lesedauer: 5 Minuten

Mütter und Väter realisieren oft nicht, wie katastrophal sich ihre Jagd nach dem perfekten Leben auswirkt: Kinder übernehmen das Besessensein von Sinnlosem – und schon Fünfjährige ­beschäftigt, wie dumm, hässlich oder uncool sie sind, anstatt fröhlich zu sein und sich geborgen zu fühlen.

Text: Jesper Juul
Illustration:
Petra Dufkova / Die Illustratoren

Originaltitel «Botoxkulturen ødelægger børns selvværd»Übersetzt von Knut Krüger

Die in unserer Gesellschaft herrschende Konkurrenz bringt immer mehr Kinder und Jugendliche mit ernsthaften existenziellen und psychosozialen Problemen hervor. Aktuell spielen wir das Spiel: Wer ist schuld und wer ist verantwortlich? Eltern trauen sich nicht, zu erziehen, lautet eine von mehreren Aussagen, die in der Luft hängen.

Viele Eltern fürchten sich davor, ihre Kinder zu kränken oder ihnen sonstwie Schaden zuzufügen. Es fällt ihnen schwer, zwischen verschiedenen Gefühlen, beispielsweise zwischen Trauer und Frustration, zu unterscheiden, genauso, wie ihnen ihre eigenen Gefühle fremd sind.

Nicht Erziehung erzieht Kinder, sondern das innere und äussere Verhalten von Eltern und anderen Erwachsenen.

In erster Linie haben sie im Umgang mit den Kindern grosse Schwierigkeiten, für sich selbst und ihr erwachsenes Leben Sorge zu tragen. Die Angst, den Kindern «Schaden zuzufügen», hat in den letzten zwei Jahrzehnten die elterliche Führung am meisten beeinflusst. Es entstand ein defensiver Führungsstil, unter dem sich weder Kinder noch Erwachsene gut entfalten können.

Dass unsere Haltungen und Verhaltensweisen zwischen Extremen hin- und herpendeln, ist unglücklich, aber nicht neu. Wir kommen aus einigen Jahrhunderten, in denen Kindererziehung und Schulpädagogik sehr kränkend waren. Danach folgten drei Jahrzehnte, in denen viele Erwachsene ein Dominieren und Indoktrinieren von Kindern panisch zu vermeiden versuchten.

Das entsprach dem Zeitgeist, war aber eher politisch begründet, als dass es auf psychologische und existenzielle Erkenntnisse baute. Es ist wenig verwunderlich, dass es vielen Kindern und Jugendlichen an Erfahrung fehlt, wie man sich zu Begrenzungen, Grenzen und Anforderungen verhält. Doch ihre Eltern haben es selbst auch nicht erlebt, sich für einen klaren Führungsstil oder eine entsprechende Erziehungsphilosophie entscheiden zu können.

Den Erwachsenen geht es auch nicht gut

Nicht Erziehung erzieht Kinder, sondern das innere und äussere Verhalten von Eltern und anderen Erwachsenen. Lassen Sie mich dies an ein paar Beispielen illustrieren:

Seit mehr als einem Jahrzehnt leben wir in einer Botox-Kultur, in der sogar intelligente und hochgebildete Erwachsene viel kostbare Zeit und Energie für narzisstische Versuche aufwenden, die «richtige» Oberfläche, das «ideale» Gewicht, Muskeln der «richtigen» Grösse an der «richtigen» Stelle und so weiter zu bekommen.

Die wenigsten halten dem ­Tempo auf dem Arbeitsmarkt ohne ernsthafte Konsequenzen für die Gesundheit stand. Es fehlt ihnen ein innerer Kompass.

Sie haben gelernt, ihr Tun damit zu begründen, dass es ihren «Selbstwert» stärkt, was ein sinnlos anmassender Begriff ist. Es bedeutet etwa so viel wie soziales Selbstvertrauen, aufgebauscht, um die chronische Angst und Unsicherheit abzumildern; die Angst, durchzufallen, und die Angst, den ­Konkurrenzkampf um Lob, Aufmerksamkeit, Sex und das perfekte Leben zu verlieren. 

Alles reine Äusserlichkeiten.

Den Erwachsenen geht es in der Konkurrenzgesellschaft auch nicht gut. Egal, wie viel sie trainieren und sich einen trendigen Vollbart anlegen, fahren sie in ihrem Leben, ihrer Ehe und in ihrer Elternfunktion gegen die Wand, und nur die wenigsten halten dem Tempo auf dem Arbeitsmarkt ohne ernsthafte Konsequenzen für ihre Gesundheit und Lebensqualität stand. Es fehlt ihnen ganz entscheidend an einem inneren Kompass.

Kinder übernehmen sehr früh diese Besessenheit von Sinnlosem. Schon als Fünfjährige sind viele damit beschäftigt, wie dick, dumm, hässlich und uncool sie sind, anstatt fröhlich zu sein und sich geborgen zu fühlen. Wenn sich diese Empfindungen erst mal in der Seele eines Kindes festgesetzt haben, kann das niemand mehr aberziehen oder wegpädagogisieren.

Was bleibt, ist ein fehlendes Selbstgefühl und ein negatives Selbstbild. Diese Kombination führt zu grossem Leiden und selbstzerstörerischem Verhalten die gesamte Pubertät hindurch bis weit ins Erwachsenenleben hinein.

Ich habe nie einen Schönheitschirurgen, Hausarzt, Psychologen oder Therapeuten kennengelernt, der das ­Wissen und den Mut hatte, einer 30-jährigen Mutter von zwei kleinen Kindern zu erzählen, in welch katastrophalem Mass sie deren Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen beeinflusst, wenn sie sich dafür entscheidet, ein glattes Gesicht zu kaufen. Das Gleiche gilt für den 40-jährigen Mann, der davon überzeugt ist, einfacher eine neue Frau zu finden, wenn es ihm gelingt, auszusehen wie der Mensch, der er sich zu sein wünscht.

Die meisten Machtmenschen haben grosse Angst vor dem innerlich gelenkten Mitmenschen oder verwechseln diese Anstrengung mit Egozentrik und Individualismus.

Ist das nicht ihre eigene Sache? Natürlich. Aber irgendwer muss sie darauf aufmerksam machen, welche Auswirkungen ihre Entscheidung auf ihre nächsten Mitmenschen und die ganze Gesellschaft hat.

Sollen Kinder, Jugendliche und Erwachsene qualifizierte persönliche Entscheidungen treffen können, müssen sie sich klar werden über mögliche Konflikte zwischen dem, was das Umfeld und äussere Autoritäten wünschen, und dem, was ihnen ihr eigener innerer Kompass – ihr Selbstgefühl – erzählt.

Nie zuvor war der öffentliche Raum so voll von Slogans wie «Wozu hast du denn selber Lust?», «Sei einfach nur du selbst!», «Was sagt dein Bauchgefühl?».

Wenn die Vorbilder äusserlich gesteuerte Leisetreter sind

Das Problem bei Kindern ist, dass sie keine wesentliche Weisheit, Lebenskompetenz und kein Selbstgefühl aufbauen, solange sie kein qualifiziertes, empathisches Zusammenspiel und keinen Widerstand von Eltern, Lehrpersonen, Grosseltern erfahren.

Der Grund dafür, dass sie diese lebensnotwendigen Nährstoffe nicht bekommen, besteht darin, dass ihre Erwachsenen oft selbst äusserlich gesteuerte «Pleaser», angepasste ­Leisetreter und Karrieristen, sind, die wichtige Konflikte und ernst­hafte Gefühle umgehen und vermeiden. Man kann sein Kind nicht dazu anregen, selbständig zu reflektieren und in sich hineinzufühlen, wenn man selber partout das Gleiche tun und meinen muss wie die beste Freundin oder der Coach.

Kinder sind so kompetent, wie sie schon immer gewesen sind, aber sie sind nicht allumfassend kompetent, und wissen es nicht immer selber oder besser. Darum brauchen sie auf Dialog basierende Führung von Erwachsenen, unter anderem Eltern, die den Unterschied zwischen Lust und Bedürfnis erkennen und den Mut haben, zentrale Werte zu vertreten.

Dreh- und Angelpunkt dieser Werte ist die ewige Frage: «Wie kann ich für meine persönliche Integrität und wichtigsten Bedürfnisse eintreten, ohne die Grenzen anderer Menschen zu verletzen oder sie daran zu hindern, das zu bekommen, was sie brauchen?»

Einige Jahrhunderte lang haben moralische Prinzipien, Regeln und Verbote relativ gut als Regulatoren für das Verhalten von Kindern und Erwachsenen im öffentlichen Raum funktioniert. Ein gutes Leben war ein konformes Leben, dessen Qualität an der Fähigkeit gemessen ­wurde, mit der Tapete eins zu werden. 

Viele der ‹übergelobten› Kinder werden zu unsicheren, ängstlichen, nervösen Jugendlichen und Erwachsenen.

Heute verfügen wir über keinen moralischen Konsens mehr. Wir leben in einer Zeit, in der die äusseren Kompasse in alle Richtungen gleichzeitig weisen. Wenn wir gesündere Menschen und stärkere Gemeinschaften wollen, müssen wir uns bemühen, einen besseren inneren Kompass zu schaffen. Das ist ein steiler Weg, denn die meisten Machtmenschen haben grosse Angst vor dem innerlich gelenkten Mitmenschen oder verwechseln diese Anstrengung mit Egozentrik und Individualismus.

Es gibt Hinweise darauf, dass ein Teil der Eltern vor der Furcht, dass sie ihre Kinder verlieren werden, kapituliert haben. Was sich oft darin zeigt, dass sie die ohnehin schon in Superlativen eskalierte Sprache noch mehr verstärken – und damit bei den Kindern die Möglichkeiten zur Entwicklung eines gesunden Selbstgefühls völlig unterbinden: «Super!», «Richtig, richtig, richtig gut, mein Liebling!», «Supertoll, superfantastisch!»

Unmögliche Erwartungen an sich selbst 

Das klingt am Ende alles wie «Voice Junior» (eine dänische Talentshow für Kinder), wo das Lächeln der Kinder mit dem Beitritt der Eltern und Geschwister in den Fanclub erstarrt. Nur eine kleine Minderheit von Kindern hat ein so gut entwickeltes Selbstgefühl, dass sie der ganze Lärm nicht stört. Aber das sind viel zu wenige.

Viele der «übergelobten» Kinder werden zu unsicheren, ängstlichen, nervösen Jugendlichen und Erwachsenen, die in jedem Kontext völlig unmögliche Anforderungen an sich selbst stellen, es sei denn, sie ent­wickeln stattdessen supertolle, asoziale Egos.

Sie sind nicht das Produkt von Eltern, denen der Mut fehlt, Anforderungen zu stellen, sondern von Eltern, die keine Ahnung davon haben, wie destruktiv ihr schrilles Lob und ihre schrille Bewunderung sind.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

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