Wie wird mein Kind selbstbewusst?

Wir alle sehnen uns danach, vorbehaltlos angenommen und geliebt zu werden. Dieses Gefühl ist die Basis für unser Selbstbewusstsein, das in der Kindheit entsteht. Schwächelt es, kann dies später Lebenschancen verbauen, Beziehungen erschweren und sogar die Gesundheit gefährden. Doch wie wird ein Kind selbstbewusst? Welchen Einfluss haben Eltern und Schule?
Wer kennt es nicht: Man steht morgens vor dem Spiegel, sieht ein neues Fältchen oder merkt, dass die Jeans ein bisschen enger geworden ist. Dann nörgelt das Kind am Frühstückstisch, weil der Lieblingspulli noch nicht gewaschen ist.
Man hetzt auf den Bus, arbeitet die überquellende Mailbox ab, und im Büro sagt der Kollege: Oh, du siehst aber gehetzt aus heute! Na super. Toller Morgen. Dankeschön.

Wie wird mein Kind stark?
Wir verfügen über ein hohes Selbstbewusstsein, wenn wir viel über uns wissen und dieses Wissen möglichst korrekt ist.
Die Saat für unser Selbstbewusstsein wird in unserer frühen Kindheit gelegt. Die ersten Lebensjahre in der Entwicklung eines Menschen sind deshalb so wichtig, weil sich in dieser Zeit seine Gehirnstruktur mit ihren ganzen neuronalen Netzen und Verschaltungen herausbildet. Die Erfahrungen, die wir in dieser frühen Entwicklungsphase mit unseren nahen Bezugspersonen machen, graben sich tief in unser Gehirn ein.
Kinder sind existenziell darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie bedingungslos lieben und auf ihre Bedürfnisse feinfühlig reagieren. Ob und wie diese Bedürfnisse nach grundsätzlicher Akzeptanz in unserer Kindheit gestillt werden, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir später durchs Leben gehen. Am allerwichtigsten ist für Kinder die verlässliche und körperliche Nähe der Eltern, deren Fürsorge und unmittelbare Zuneigung. Das ist «das Ticket zum Überleben», sagt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster.
Die vier Grundbedürfnisse unseres Selbstbewusstseins
1. Bindung
Die frühe Bindungserfahrung hat einen fundamentalen Einfluss auf die spätere Gesundheit, die Beziehungsfähigkeit und die Stressresistenz. Sie ist wie eine Art Flugzeugträger, aus dem man in die Welt starten kann. In den ersten sechs Lebensjahren erfährt das Kind: «Ich kann mich auf Mama und Papa verlassen.» «Ich werde gehört und gesehen.» «Ich darf weinen.» «Man erkennt meine Bedürfnisse.» Ein enger, fürsorglicher und verlässlicher Kontakt zwischen Kind und Bezugspersonen ist die Voraussetzung dafür. Vermag diese erste Beziehungserfahrung Geborgenheit, Verlässlichkeit und Schutz zu schenken, entsteht so etwas wie ein stabiles Grundgefühl. Wird das kindliche Bedürfnis nach Bindung frustriert – durch Vernachlässigung, Ablehnung oder psychische oder physische Misshandlung –, leidet das Gefühl, wertvoll, stark und kompetent zu sein.
2. Autonomie
Kinder brauchen Geborgenheit, aber auch Autonomie und Selbständigkeit. Kinder, so der Bindungsforscher John Bowlby, sind von Natur aus mit einem Forschungsprogramm ausgerüstet, mit dem sie auf die Umwelt zugehen, sich in das Leben der anderen Menschen einklinken. Sie möchten sich als «wirksam» empfinden. Dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten kann nur entwickeln, wer seinen eigenen Willen ausdrücken darf. Viele Kinder sind emotional so stark in den Mittelpunkt der Familie gerückt, dass sie «aus Liebe behindert werden», sagt Herbert Renz-Polster. Ein Beispiel: Die Zehnjährige möchte allein die drei Stunden Zugfahrt entfernte Oma besuchen. Instinktiv ziehen viele Eltern die Leine stramm – aus Furcht, das Mädchen könnte niemals bei der Oma ankommen. Diese Ängste sind verständlich, gelten aber als «elterliche Überfürsorge». Denn Autonomie bedeutet auch, dass Kinder altersabhängig und im Rahmen ihrer Fähigkeiten über gewisse Dinge selbst entscheiden können.
3. Lustbefriedigung
Das Kind strebt danach, Lust zu empfinden und Unlust zu vermeiden. Es ist für das spätere Leben existenziell wichtig, dieses Lustempfinden zu regulieren. Das Kind muss die Fähigkeit zur Frustrationstoleranz, zum Belohnungsaufschub und zum Triebverzicht erlernen, und so ist Erziehung zum grossen Teil darauf angelegt, dem Kind einen angemessenen Umgang mit Lust und Unlust beizubringen. Oft geht Bedürfnis Nummer 2 mit Bedürfnis Nummer 3 einher (das Dessert vor der Hauptmahlzeit essen zum Beispiel). Gefragt ist ein gesunder Umgang damit. Wird dieses Bedürfnis zu stark reglementiert, kann es dazu führen, dass das Kind später zwanghaftes Verhalten entwickelt – oder aber umgekehrt seinen Gelüsten nur allzu gerne nachgibt.
4. Anerkennung
Hier geht es um die Erkenntnis: «Ich bin willkommen, so wie ich bin.» Ist das der Fall, ist die Welt ein freundlicher Ort. Wir sind darauf konditioniert, Anerkennung durch andere zu erhalten – schon von klein auf. Problematisch wird es, wenn diese Anerkennung an eine Bedingung geknüpft wird. Dass man ein Kind also nur liebt, weil es etwas besonders gut gemacht hat oder sich von einer besonders schönen Seite gezeigt hat. Dann merkt sich das Kind, dass es nur wertvoll ist, wenn es sich in bestimmter Weise verhält. Stark erschüttert wird das Selbstbewusstsein durch die Erfahrung, nicht respektvoll behandelt zu werden. Verbale Schmähungen wie Herabsetzung, Demütigung, aber auch Liebesentzug lassen ein Kind zum Schluss kommen, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Aber auch das Umgekehrte gilt: Werden seine Fähigkeiten nicht beachtet oder als selbstverständlich genommen, kann es schwer sein, ein Gefühl für das eigene Können zu entwickeln und auf sich selbst stolz zu sein.
Ein gesundes Selbstbewusstsein zu haben, heisst demnach, sich kompetent zu fühlen (lat. competere = zu etwas fähig sein) und aus tiefstem Herzen sagen zu können: «Ich kann etwas.» – «Ich werde geliebt, so wie ich bin.» – «Ich darf einen eigenen Willen haben.» – «Ich werde respektiert und wahrgenommen.» – «Selbst wenn es mal nicht so gut läuft, bin ich «okay.»
Wir haben gesehen, dass diese Kompetenzen in den Kinderjahren zu einem grossen Teil aus funktionierenden Beziehungen gebildet werden. Somit lastet auf Eltern grosser Druck, «es» möglichst gut zu machen, damit das Kind «gut herauskommt». Viele Eltern empfinden den Alltag mit Erziehung, Schule und Beruf als fordernd. Hat es negative Folgen für das kindliche Selbstbewusstsein, wenn die Eltern gestresst, beruflich eingespannt oder perfektionistisch sind? Was, wenn ein Schicksalsschlag, eine Trennung uns vor grosse Herausforderungen stellt?

Definitionen
(Quellen: Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler via www.biber-blog.ch; Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik, lexikon.stangl.eu).
Eltern sind nicht für alles verantwortlich
Am allerwichtigsten ist für Kinder die verlässliche und körperliche Nähe der Eltern.
Eine Vergleichsstudie aus dem deutschen Trier widmet sich speziell der Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Schule. Das Ergebnis der Studie bei 1500 Mädchen und Buben zwischen 8 und 15 Jahren: Alle Kinder hatten in den Lebensbereichen Familie und Freizeit ein hohes, im Bereich der Schule aber ein geringeres Selbstbewusstsein. Die Folgerung: Die Schule, der Leistungsdruck und der damit verbundene Stress beeinflussen das kindliche Selbstbewusstsein eher negativ.

Wenig selbstbewusste Kinder leiden in der Schule eher
Tatsächlich sind Kinder, die sich selbst als unsicher und wenig kompetent sehen, in der Schule besonders gefährdet, sagt die Berner Erziehungswissenschaftlerin Tina Hascher. Kinder mit geringem Selbstbewusstsein haben mehr Angst in der Schule, trauen sich weniger zu, strengen sich in der Folge weniger an und sehen die Zukunft eher negativ.
Auf Eltern lastet ein grosser Druck, ‹es› möglichst gut zu machen, damit das Kind ‹gut herauskommt›.
Aber selbst wenn das schulische Leben das Selbstbewusstsein mindert oder es in der Familie gerade harzt, muss ein Kind nicht zwangsläufig scheitern. «Nicht jeder Kratzer führt gleich zu Krankheiten», sagt Renz-Polster. «Es braucht viele ungünstige Einflüsse, um ein Kind aus dem Gleis der Entwicklung zu werfen.» Um unsicher durchs Leben zu gehen, müssen die Grundbedürfnisse massiv nicht erfüllt oder missachtet worden sein.
Die eigene Widerstandskraft anregen
Der Leistungsdruck und der damit verbundene Stress in der Schule beeinflussen das kindliche Selbstbewusstsein eher negativ.

Die nachhaltigsten Botschaften für das kindliche Selbstbewusstsein sind demnach: «Ich darf Erfahrungen machen.» «Ich werde nicht in Watte gepackt.» «Ich kann etwas bewirken, das mir und anderen Spass und Freude bereitet.» Daraus nährt sich das kindliche Selbstvertrauen. Positive und eigenwirksame Erfahrungen in der Spielgruppe oder Kita, im Kindergarten und in der Schule, aber auch im Wald, auf dem Fussballplatz oder durch ein Hobby speisen dieses Vertrauen wie ein inneres Kraftwerk.
Daraus schöpft das Kind, wenn sich Zweifel melden. Zum Beispiel Glaubenssätze, also verinnerlichte Botschaften etwa von den Eltern, einfache Aussagen wie «Mathe ist ja einfach nicht dein Ding!». Bei unsicheren Kindern meldet sich diese innere Stimme häufiger als bei selbstbewussteren, und unsichere Kinder lassen sich davon eher beeinflussen. Sie hören diese innere zurechtweisende, kritisierende Stimme beim kleinsten Fehler. Die Folge könne Scham sein, sagt der Verhaltenstherapeut und Buchautor Mathew McKay: Aus Angst, Risiken einzugehen, abgelehnt zu werden, bewegt man sich sehr vorsichtig in der Welt. «Das Gefühl, es nicht zu schaffen oder es nicht zu verdienen, kann die Funktionsfähigkeit und Zufriedenheit in praktisch jedem Lebensbereich behindern.»
Freundlich zu sich selbst sein
Positive und eigenwirksame Erfahrungen speisen das Vertrauen ins Selbst wie ein inneres Kraftwerk.