Freundschaften: So wird mein Kind sozialkompetent
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Ich, du, wir – so wird mein Kind sozialkompetent

Lesedauer: 7 Minuten

Schon im zweiten Kindergartenjahr können sich die meisten Buben und Mädchen in andere Kinder hineinversetzen. Trotzdem muss das soziale Miteinander geübt werden. Wie man sein Kind unterstützt, Freundschaften zu schliessen und Konflikte konstruktiv auszutragen.

Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
Bilder: Maike Vara

Die Sommerferien sind vorbei, nun beginnt für Ihr Kind das letzte Kindergartenjahr. Plötzlich gehört es zu den Grossen, wird immer selbständiger und übernimmt mehr Verantwortung für sich und andere. Beziehungen zu Gleichaltrigen intensivieren sich und Freundschaften gewinnen in dieser Zeit an Bedeutung – auch wenn diese noch sprunghaft und häufig von Konflikten geprägt sind. 

Damit Ihr Kind sich gut in der Gruppe und in Freundschaften zurechtfinden kann, wird es in den nächsten Monaten seine sozialen Kompetenzen weiter ausbauen. Doch was versteht man darunter? Was tut der Kindergarten, um diese zu fördern? Und wie können Sie Ihr Kind unterstützen?

Kinder sollen nach und nach lernen, sich an Regeln zu halten, sich in andere einzudenken und einzufühlen.

Zu den sozialen Kompetenzen gehören eine Reihe von Fähigkeiten, die uns dabei helfen, Beziehungen zu gestalten und in einer Gemeinschaft zusammenzuleben. Welche davon im Kindergarten und später in der Schule besonders gefördert werden sollen, ist schweizweit im Lehrplan 21 festgelegt.

Demnach sollen Kinder nach und nach lernen, sich an Regeln zu halten, sich in andere einzudenken und einzufühlen, Rücksicht zu nehmen, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren und geltend zu machen, aber auch mal zu warten, mit aufkommendem Frust umzugehen, Gefühle zu regulieren und Konflikte zu lösen. Die Kinder sollen entdecken, wie sie Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen und ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten einschätzen können.

Welch grosse, herausfordernde Aufgabe! Zum Glück hat Ihr Kind im ersten Chindsgi-Jahr bereits wichtige Grundlagen gelegt und ist in seiner Entwicklung nicht auf sich alleine gestellt: Sie als Eltern wie auch die Kindergartenlehrpersonen und die Gruppe stehen ihm zur Seite.

Die Älteren als Vorbilder

Carmen Furrer, Dozentin für Kindergartendidaktik und Entwicklungspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Wallis, erklärt: «Im zweiten Kindergartenjahr arbeiten die Kinder ganz natürlich an den Zielen der sozialen Kompetenz: Sie sind nun die Grossen, die Experten, dank derer sich die neuen Kindergartenkinder viel schneller und besser zurechtfinden können. Die Älteren schlüpfen in die Rolle der Vorbilder, übernehmen Verantwortung und helfen den Jüngeren. Damit entwickeln sie ihre soziale Kompetenz beiläufig weiter.»

Kinder schnappen wichtige Fertigkeiten im Alltag auf, auch wenn diese gar nicht explizit vermittelt werden.

Dabei benötigen die Kinder eine besonders achtsame Begleitung, wie Andrea Elsener, Kindergartenlehrperson in Baar, betont, denn der Rollentausch kann Kinder auch verunsichern: «Viele Jungs zeigen zu Beginn des zweiten Jahres plötzlich ihre wilde, fast schon ‹angeberische› oder ‹machohafte› Seite. Es scheint mir, als würden sie wie in einem Rudel ihre Position verteidigen.

Die Rollen in der Klasse werden also wie in einer Familie bei einem Familienzuwachs neu verteilt. Da die neuen Kinder viel Unterstützung und Aufmerksamkeit brauchen, müssen die Älteren lernen, ihre Bedürfnisse zurückzustellen und sich in die der neuen Kinder hineinzuversetzen.» 

Das Spiel als Entwicklungsmotor

Das Zusammensein mit Kindern unterschiedlichster Charaktere, die Regeln und Absprachen in der Gruppe, wiederkehrende Kindergartenrituale und insbesondere das freie Spiel bieten Ihrem Kind die Möglichkeit, seine sozialen Kompetenzen weiterzuentwickeln.

Carmen Furrer verweist auf die aktuellen Forschungsergebnisse, denen zufolge Kindergartenkinder vor allem beiläufig lernen: Sie schnappen wichtige Fertigkeiten im Alltag auf, auch wenn diese eigentlich gar nicht explizit vermittelt werden. «Und da Kinder im Kindergarten noch sehr verspielt, kreativ und fantasievoll sind, geschieht das beiläufige Lernen im Spiel», erklärt die Pädagogin. 

So lernen Kinder in selbst entwickelten Rollenspielen, ihre Positionen und Regeln zu verhandeln und Kompromisse zu schliessen. Ob Familie, Baustelle, Zirkus, Löwenrudel oder Kaufladen: Immer wieder schlüpfen die Kleinen in neue Rollen, entdecken andere Sichtweisen, fühlen sich in ihr Gegenüber ein, müssen Absprachen beachten und aufeinander Rücksicht nehmen. 

Auch gemeinsame Brettspiele mit klar definierten Regeln schulen soziales Lernen: Mal wählt ein Kind die Spielfigur in der Farbe, die man selbst gerne gehabt hätte, worauf man vor der Wahl steht, nachzugeben oder den eigenen Wunsch zu verteidigen. Dann wieder muss man warten, bis man zum Zug kommt. Und wenn man verliert, sind da plötzlich all die heftigen Gefühle, die ausgedrückt werden wollen. Nach und nach entwickeln sich so Geduld, Kooperationsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Gefühlsregulation der Kinder weiter. 

Im Sitzkreis folgt Ihr Kind zunehmend länger werdenden Gesprächen, entwickelt den Mut, sich in der Gruppe zu äussern, trainiert das aktive Zuhören und die Fähigkeit, sich auszudrücken. Hier und da wird es mit dem, was seine Gleichaltrigen behaupten oder erklären, nicht einverstanden sein – und steht vor der Herausforderung, auch fremde Sichtweisen zu akzeptieren. 

Bedürfnisse in Worte fassen

Die Kindergärtnerinnen und Kindergärtner bringen sich auf diesem Weg in vielfältiger Art und Weise ein, wie Carmen Furrer erklärt: «Oft ist es deren Aufgabe, die Kinder im Spiel zu beobachten und dann gezielt Spielangebote anzubieten oder auch mitzuspielen beziehungsweise ein Spiel von aussen zu begleiten. So können sie die Rolle der Mutter oder des Vaters übernehmen und ganz beiläufig vorspielen, wie man jemanden trösten kann.» 

Darüber hinaus helfen die Kindergartenlehrpersonen den Kindern dabei, ihre Gefühle und Bedürfnisse in Worte zu fassen. Sie vermitteln bei Konflikten nach dem Prinzip «so viel Unterstützung wie nötig, so wenig wie möglich» und planen an passender Stelle Spiele im Kreis oder Vorlesestunden ein, um wichtige Themen aufzugreifen. 

Ungeschriebene soziale Gesetze

Andrea Elsener nutzt gerne eine Strategie, die sie als «Meinungsforschung» bezeichnet, um die Kinder dazu anzuregen, sich ineinander hineinzuversetzen und über Gefühle zu sprechen. So diskutiert sie mit der Gruppe Fragen wie: «Was glaubt ihr, wie sich die neuen Kinder am ersten Tag bei uns fühlen werden? Wie hast du dich damals gefühlt? Worüber wärst du froh, wenn du zum ersten Mal bei uns wärst?»

Gerne greift sie dabei auch Situationen auf, die typischerweise zu Konflikten führen können: «Was würdest du tun, wenn dir ein neues Kind immer nachläuft, weil es dich vielleicht nett findet oder weil es sich noch unsicher fühlt?», worauf die Kinder beispielsweise antworten: «Dann lasse ich es halt. Auch wenn es schon ein bisschen nervt. Ich weiss ja jetzt, warum es mir nachläuft.»

Als Eltern können wir einiges dazu beitragen, dass unsere Kinder Freundschaften knüpfen.

«Wie gehen wir gut miteinander um? Wie ist man nett zu anderen Menschen? Wie kann ich dazu beitragen, dass andere mich mögen und gerne mit mir zusammen sind?» Antworten auf diese Fragen entdecken Kinder nach und nach im Miteinander mit anderen.

Wir können sie im Kindergarten, aber auch zu Hause darin bestärken, sich prosozial zu verhalten, indem wir unsere positiven Beobachtungen mit ihnen teilen. Dabei halten wir Ausschau nach Momenten, in denen unsere Kinder zugewandt, freundlich, hilfsbereit, geduldig, respektvoll oder kompromissbereit handeln – und beschreiben die Wirkung davon auf ihre Mitmenschen:

Prosoziales Verhalten fördern

• «Ist dir aufgefallen, wie Eliah gestrahlt hat, als du ihn mit deinem Roller hast fahren lassen?»

• «Schau mal, wie gut Emily die Guetsli schmecken! Sie hat sich so gefreut, dass du sie mit ihr geteilt hast!»

• «Du wolltest auch so gerne gleich rutschen und hast trotzdem geduldig gewartet. Wenn jeder wartet, bis er an der Reihe ist, und keiner drängelt, können alle ihren Spass haben.»

• «Danke, dass du mir geholfen hast, die Spülmaschine auszuräumen. Ich bin richtig froh, dass das erledigt ist. Und zusammen ist man viel schneller!»

• «Ja, das ist wirklich blöd, dass Louis heute krank ist und nicht zu deinem Geburtstag kommen kann. Wie könnten wir ihn aufmuntern? … Ja, gute Idee! Er ist bestimmt glücklich, wenn wir ihm trotzdem ein Stück Kuchen vorbeibringen und ihn am Wochenende zu uns einladen.»

Auch Bilderbücher können Kindern vermitteln, was man konkret tun kann, um zu einer guten Freundin, zu einem guten Freund zu werden. Liebevoll an dieses Thema führen beispielsweise «Das kleine Wir» von Daniela Kunkel oder das Bilderbuch «Freunde wie wir … das gibt’s nur einmal auf der Welt» der beiden Schreibenden heran.

Wenn Kinder in Konflikte geraten, neigen wir rasch dazu, uns als Schiedsrichter einspannen zu lassen: Wer hat angefangen? Wer trägt die Schuld? Wer muss sich entschul-digen? Wollen wir die Fähigkeit der Kinder fördern, Streitigkeiten zukünftig zunehmend selbst zu lösen, können wir uns eher als «Konflikt-Coach» verstehen – ganz ähnlich einem Sporttrainer, der seine Spielerinnen und Spieler durch herausfordernde Situationen navigiert.

Vielleicht setzen wir uns zwischen die beiden Streithähne, atmen gemeinsam tief durch und besprechen den Vorfall in ruhigem Ton: «Was ist hier los? Wie geht es dir gerade? … Und wie geht es dir? … Verstehe, du bist sauer, weil du gerne … wolltest – und du bist wütend, weil du … wolltest. Was könnt ihr tun, um das Problem zu lösen / damit es euch wieder besser geht und ihr wieder miteinander spielen könnt?» 

Die Umsetzung ist schwierig

Dabei können wir von Kindergartenkindern noch nicht so viel erwarten und sollten uns in Verständnis und Geduld üben. Carmen Furrer erklärt: «Die Herausforderung bei der Entwicklung der sozialen Kompetenz im Kindergartenalter ist, dass die Kinder zwar irgendwann sehr gut wissen, was von ihnen erwartet wird und wie man sich angepasst verhält, dieses Wissen aber zum Beispiel in einer emotionalen Situation, etwa beim Verlieren in einem Spiel, noch nicht immer abrufen können.

Ein Beispiel: Kinder wissen, dass man andere nicht schlägt. Im Gespräch können sie dies auch so beschreiben und erklären. Wenn aber ein Kind in einem Spiel verliert und vielleicht noch etwas Müdigkeit dazukommt, kann es passieren, dass es trotzdem einen Streit anfängt und ein anderes Kind schlägt. Wissen und Tun sind zwei unterschiedliche Komponenten in Bezug auf die soziale Kompetenz.»

Kinder lernen in selbst entwickelten Rollenspielen, ihre Positionen und Regeln zu verhandeln und Kompromisse zu schliessen.

Konflikte unter Kindergartenkindern gehören zum Alltag und Freundschaften sind in diesem Alter noch sprunghaft und instabil. Rasch fällt ein Satz wie: «Dann bist du nicht mehr meine Freundin», wenn sich die eben noch heiss geliebte Spielkameradin auf einmal nicht mehr so verhält, wie man das möchte. In der Psychologie wird dieses Muster als «Schönwetterkooperation» bezeichnet.

Hier dürfen wir als Eltern gelassen bleiben im Wissen, dass solche Uneinigkeiten auch rasch wieder vorüberziehen und die Kinder im Laufe der Jahre langfristigere und krisenfestere Beziehungen knüpfen werden.  

Einen Freund an seiner Seite

Als Eltern können wir einiges dazu beitragen, dass unsere Kinder Freundschaften knüpfen. Wir können den Kontakten der Kleinen freundlich und liebevoll Tür und Tor zu unserem Zuhause öffnen, uns vielleicht mit einer anderen Familie aus dem Kindergarten einmal pro Woche mit dem Hütedienst abwechseln, andere Kinder beziehungsweise deren Familien zu Ausflügen einladen und uns mit anderen Familien aus dem Quartier anfreunden. Wir können dafür sorgen, dass Kinder aus der Nachbarschaft den Schulweg zusammen gehen, Fahr- und Abholgemeinschaften bilden.

Wenn der Mittwochnachmittag ohne Termine bleibt, geben wir den Kindern die Möglichkeit, sich ohne Zeitdruck miteinander zu verabreden und zu spielen. Freundinnen und Freunden unserer Kinder sowie deren Eltern können wir signalisieren, dass wir sie mögen und glücklich sind, dass unser Kind so eine gute Freundin, so einen tollen Freund an seiner Seite hat.

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund
sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Die beiden eint der Wunsch, dass Kindergarten und Schule Orte sind, wo sich Kinder, Eltern und Lehrpersonen wohl fühlen und voneinander lernen können.

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