Ängste: Das Monster unter dem Bett
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Ängste: Das Monster unter dem Bett

Lesedauer: 7 Minuten

Nicht nur Verlustängste beim Abschied von ihren Eltern können Kinder plagen, auch manch gruselige Kreatur durchstreift ihre Fantasie. Doch keine Bange: Ängste erfüllen eine wichtige Funktion.

Text: Julia Meyer-Hermann
Bild: Maike Vará

Neulich in der Nacht. Aus dem Kinderzimmer ertönt ein Schrei, dann trappeln ­nackte Füsse über den Gang. Kurz darauf steht der Sechsjährige neben meinem Bett, tastet nach meiner Schulter und sagt: «Mama, ich habe Angst, in meinem Zimmer ist es zu dunkel.»

Ich denke an das Nachtlicht, das dort in der Steckdose steckt und das mein Sohn vor dem Einschlafen noch als «Babyzeug» bezeichnet hat. Soll ich ihn zurückbringen? Ihm zeigen, dass er sich dort vor nichts fürchten muss? Aber noch bevor ich mich dazu aufgerafft habe, ist das Kind schon zwischen mich und meinem Mann ins Bett gekrabbelt und in Sekundenschnelle eingeschlafen.

Am nächsten Morgen sind wir Eltern müde. Kein Wunder, wenn man dauernd eine Kinderhand oder einen Kinderfuss ins Gesicht gepatscht oder gekickt bekommt. «Schon die fünfte Nacht in Folge», denke ich. «Hoffentlich ist diese Phase bald vorbei.»

Zurzeit tummeln sich ständig Monster unter dem Bett unseres Sohnes. Manchmal klingt der Wind wie ein Gespenst. Vielleicht auch wie eine Hexe, die ums Haus fliegt. Woher kommen diese Ängste?, fragen wir uns. Hat ihn etwas auf­geschreckt? Ein Buch, ein Film, ein Spiel mit der grossen Schwester?

Der Mythos der sorglosen Kindheit

Solche Ängste seien zunächst nicht besorgniserregend, sondern «ganz typisch für die Entwicklungsphase, in der sich der Sechsjährige befindet», erklärt Silvia Zanotta. Die promovierte Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie arbeitet in ihrer Praxis in Zürich immer wieder auch mit Schülern und Kindergartenkindern, die auffallend ängstlich sind. Sie kennt die «Monster-Phase» ausserdem von ihren eigenen, inzwischen erwachsenen Kindern.

«Ab drei Jahren beginnt das sogenannte magische Alter», so Zanotta. Der Erfahrungshorizont weitet sich, die Kinder beginnen sich mit der Welt ausserhalb der Familie aktiv auseinanderzusetzen. Sie spielen Rollenspiele mit Gleichaltrigen, in denen sie fliegen oder zaubern ­können. «Die Grenzen zwischen Realität und Fantasiewelt sind in diesem Alter nicht klar gezogen.» Die Gespenster aus dem morgendlichen Spiel können also abends Realität werden.

Es ist ein Sehnsuchtsbild von uns Eltern, dass die Kindheit eine unbeschwerte Zeit sein soll. «Kinder haben dieselbe Dimension an Ängsten wie Erwachsene, ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechend», sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort aus Hamburg.

Manche Kinder haben vor ganz bestimmten Situationen oder Dingen Angst, vor Gewittern etwa oder vor Hunden. Andere haben soziale Ängste und sorgen sich, nicht gemocht zu werden. Manchmal überinterpretieren Kinder auch etwas, was sie zwischendurch aufgeschnappt haben. Michael Schulte-Markwort nennt zwei Beispiele: «Im Nachbarort hat es gebrannt. Vielleicht erscheint der Feuerteufel heute Nacht bei uns? Und im Zoo ist ein Krokodil entlaufen. Was, wenn es zu uns kommt?»

Die Angst verschwindet nicht, indem man sie dem Kind ausredet.

Udo Baer, Pädagoge

Mir fällt die Schilderung einer Freundin ein: Ihre Tochter ver­steckte plötzlich abends alle ihre Bilder unter dem Bett. Später wollte die Fünfjährige auf keinen Fall einschlafen. Es dauerte lange, bis meine Freundin die Ursache herausfand: Das Mädchen hatte ein Gespräch mitbekommen, in dem ihre Eltern sich über einen Museumseinbruch unterhalten hatten. Nun fürchtete sie, dass der Einbrecher auch bei ihnen einsteigen könnte.

Wie reagiert man in so einem Moment? Meine Freundin war müde. Sie hätte dem gern ein Ende gesetzt und gesagt: «Das ist doch Blödsinn. Der kommt nicht hierher. Schlaf jetzt.» Aber ihr war klar, dass sie der Furcht ihrer Tochter nicht mit Erwachsenenvernunft beikommen konnte. Stattdessen erfand sie also zusammen mit der Fünfjährigen eine Einbrecherfalle, spannte vor Tür und Fenster eine Schnur, an der ein Dieb hängen bleiben würde. So einfach, so wirkungsvoll.

Ängste ernst nehmen

«Eltern tun gut daran, die Angst ­ihrer Kinder nicht zu bagatellisieren», sagt Udo Baer, Therapeut und Diplompädagoge. Der Gesundheitswissenschaftler forscht seit Jahrzehnten zu kindlichen Ängsten. In seinem Ratgeber «Wenn Oskar Angst hat» gibt er Tipps zum Umgang mit Kinderängsten.

Sätze wie «Jetzt nimm dich mal zusammen» oder «Da musst du ­keine Angst haben» hält er für kontraproduktiv. «Gefühle können nicht einfach weggeredet werden. Die Angst verschwindet dadurch nicht. Beim Kind entsteht dann aber noch zusätzlich der Eindruck, dass seine Gefühle falsch seien.» Das kann fatale Folgen haben: Das Kind verlernt, seine Angst richtig zu deuten.

Phobien und Ängste im Kindesalter lassen sich gut und erfolgreich behandeln.

«Angst ist ein wichtiges Warn­system, das die Funktion hat, uns zu schützen», so Udo Baer. Wer sich zu wenig fürchtet, bringt sich in Gefahr. Beim letzten Räbeliechtli-Umzug unseres Kindergartens war ein Knirps so begeistert und hatte so wenig Scheu vor der Dunkelheit, dass er im Wald unbemerkt davonlief. Knapp 50 Eltern suchten ihn laut rufend. Kurz bevor wir die Polizei rufen wollten, entdeckten wir ihn auf einer Lichtung wieder, wo er fröhlich «Laterne, Laterne» sang.

Kinder müssen von ihren Eltern lernen, wann Vorsicht hilfreich ist. Und sie müssen mit ihnen Strate­gien entwickeln, wie sie mit Ängsten umgehen können. «Der erste Schritt ist, sich an die eigene Kindheit zu erinnern und sich um einen Rollentausch zu bemühen, sich zu fragen: Wie sieht die Situation aus der Sicht meines Kindes aus?», rät Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort.

Wenn Kinder sich gesehen und verstanden fühlen, entspanne das die Situation. Dann könne man versuchen, über ihre finsteren Vorstellungen zu reden. Zum einen, weil die Kinder dabei lernen, ihre Gefühle zu benennen. Zum anderen, weil die Eltern dadurch feststellen können, was sich hinter der Verzagtheit verbirgt. Ein Fantasiegebilde? Oder eine konkrete Situation wie beispiels­weise der Abschied am Morgen?

Ich erinnere mich noch gut an die Phase, in der meine damals vier­jährige Tochter in Tränen ausbrach, sobald wir den Kindergarten betraten. Mein Mädchen klammerte seine Finger um mich, rief «Lass mich nicht allein», die Lehrperson sagte «Jetzt gehen Sie mal schnell». Draus­sen auf der Strasse war ich oftmals schweissgebadet und den Tränen nah. Manchmal bekam ich im Büro dann einen Anruf: «Sie war schon nach drei Minuten wieder fröhlich.» Wenn ich sie nachmittags abholte, meckerte meine Tochter mich an, weil ich so früh kam. Am nächsten Morgen wiederholte sich das Drama, ein paar Wochen lang ging das so.

Manchmal verschwinden sie einfach

«30 Prozent aller Kinder entwickeln während ihrer Kindergartenzeit mindestens vorübergehend eine Trennungsangst. Das muss nicht während der Eingewöhnung passieren, sondern kann auch völlig unerwartet nach einem Jahr auftreten», sagt Michael Schulte-Markwort. Dahinter steckt sehr selten ein tief sitzendes Problem. Im Gegenteil, vielen Kindern ist der Wert der Eltern-Kind-Beziehung in diesem Moment besonders bewusst und sie haben Angst vor Verlust.

Für die Eltern ist der Trennungsschmerz ihres Kindes ebenfalls schwer zu ertragen. Manche versuchen daher, sich in einem unbemerkten Augenblick davonzustehlen. Ohne bewussten Abschied wegzugehen, verstärkt aber eher die Verlustängste der Kinder. «Sie brauchen in solchen Situationen eine Erklärung und eine klare Absprache wie ‹Ich gehe jetzt zur Arbeit und hole dich danach ganz ­sicher wieder ab›», sagt Pädagoge Udo Baer.

Wenn einen die Angst im Alltag einschränkt und sie konstant bleibt, sollte man Hilfe holen.

Silvia Zanotta, Psychologin

In der Regel enden diese Trennungsdramen irgendwann wieder, auch die anderen Ängste verschwinden manchmal so plötzlich, dass man sich verwundert fragt, was jetzt des Rätsels Lösung war. Die Antwort ist: Das Kind hat gelernt, mit der Situation umzugehen.

Bei einigen wenigen aber bleibt die Angst. Einer der besten Freunde meines Sohnes reagiert seit Jahren panisch, sobald er einen Hund auch nur aus der Ferne sieht. Er erstarrt, schreit und will von den Eltern in den Arm genommen werden. Diese Phobie begleitet ihn schon, seit er laufen kann. Inzwischen kann er keine Geburtstage mehr besuchen, wenn dort ein Hund ist – auch nicht, wenn das Tier weggesperrt wird. Beim Kindergartenausflug zu einem Bauernhof blieb er zu Hause. Alle Plätze, wo vielleicht ein Hund auftauchen könnte, sind tabu.

Der Umgang mit Ängsten

«Wenn eine Angst so eine Einschränkung im Alltag darstellt und konstant bleibt, sollte man sich professionelle Unterstützung holen», sagt Silvia Zanotta, die in ihrer Praxis auch mit erwachsenen Patienten arbeitet, von denen einige durch kindliche Ängste traumatisiert sind. «Angststörungen, die nicht behandelt werden, verstärken sich in der Regel.» Ein Grossteil der Erwachsenen, die unter sozialen Ängsten ­leiden, habe schon als Kind mit ­diesen Problemen gekämpft, sagt die Therapeutin und Buchautorin.

«Ängste und Angststörungen sind die häufigsten Probleme und Erkrankungen im Kindesalter», sagt Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort. «Etwa zehn Prozent der Kinder leiden massiv unter ihren Ängsten.» Eine Zunahme dieser Probleme hat er nicht beobachtet.

Geändert hat sich aber der Umgang damit. Lange Zeit galt ein auffallend ängstliches Kind als Ärgernis, als etwas, das die Familie in den Griff bekommen musste. Entsprechend unangenehm war es den Eltern, wenn sie ihr vermeintliches Versagen eingestehen mussten. ­Heute würden die meisten Eltern offener und sensibler auf die Sorgen und Ängste ihrer Kinder reagieren.

Zeigt ein Kind eine solch ausge­prägte Angst wie beispielsweise der Bub mit der Hundephobie, ist der Punkt erreicht, an dem trotz allem elterlichen Engagement ein Profi hinzugezogen werden sollte. Die Angst wird sonst zum Selbstläufer und verfestigt sich: Die betroffenen Familien vermeiden viele Situationen, in denen ihr Kind sich fürchten könnte, und schonen es. Als Eltern sind sie schliesslich in der Rolle der Beschützer. Eine sogenannte «Expositionsbehandlung», in der ein Patient langsam an das angstauslösende Element gewöhnt wird, sollte allerdings nur ein dazu ausgebildeter Therapeut durchführen.

Typische Ängste im Kindergarten- und Primarschulalter

  • Trennungsängste: Kinder vom ersten bis zum sechsten Lebensjahr können Angst haben, sich von der Mutter oder dem Vater zu trennen, ­insbesondere in einer ungewohnten Umgebung. Diese Angst tritt in mehr oder weniger starker Ausprägung auf.
  • Furcht vor Dunkelheit und Monstern: Ab dem dritten oder vierten Lebensjahr befinden sich Kinder in der «magischen Phase». Nachts haben sie oft Angst vor bedrohlichen Kreaturen und auch vor der Dunkelheit generell.
  • Tierphobien: Die Angst vor Hunden oder Katzen ist eine sehr häufige Angstform und tritt in der Regel ab dem dritten Lebensjahr auf.
  • Umweltängste: Ab dem sechsten Lebensjahr fürchten sich Kinder vor Katastrophen, Kriegen und Verbrechen. Oft übertragen sie eine Nachricht aus dem Alltag oder Fernsehen auf ihren Alltag.
  • Soziale Ängste und Ängste vor Krankheit: Diese Angstformen treten verstärkt ab dem Ende des sechsten Lebensjahrs auf.
  • Leistungsängste: Die Angst vor dem eigenen Versagen oder vor Prüfungen beginnt mit der ­Primarschulzeit.

(Quelle u. a.: Berufsverbände und Fachgesellschaften für ­Psychiatrie, Kinder- und Jugend­psychiatrie, Psychotherapie, ­Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland und der Schweiz)

«Phobien und Ängste im Kindes­alter lassen sich gut und erfolgreich behandeln», sagt Silvia Zanotta. Die Therapie ist auch eine Begleitung der ganzen Familie: Die Eltern werden darin gecoacht, das Selbstbewusstsein ihrer Tochter oder ihres Sohnes zu stärken. Es geht auch darum, «zwar wohlmeinende, aber übervorsichtige Haltungen der Eltern» zu verändern. Michael Schulte-Markwort hofft, dass die Scheu vor psychologischer Beratung bei Angststörungen in Zukunft weiter nachlassen wird. «Uns ist es lieber, wenn Eltern frühzeitig kommen, wir sagen können, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt und sich die Angst wieder geben wird.»

Bei uns ist nachts übrigens wieder Ruhe eingekehrt. Kürzlich durfte mein Sohn das erste Mal im Kindergarten übernachten. Wir hatten geübt, wie er allein in seinem Bett zur Ruhe kommen kann, Traumfänger aufgehängt und Monsterfresserchen gebastelt. Ich hatte dennoch Bedenken, ob er die Übernachtung hinbekommen würde. Als ich ihn aber am nächsten Tag abholte, strahlte er vor Stolz. Er hatte ein kleineres Mädchen getröstet und darüber die eigene Aufregung vergessen. Nun sind die Monster und Gespenster im Zimmer meines Sohnes also wieder ausgezogen. So plötzlich, wie sie vorher eingezogen waren.

Julia Meyer-Hermann
lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Hannover. Ihre Schwerpunkte sind Wissenschafts- und Psychologiethemen.

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