«Eltern sollten weniger hart mit sich ins Gericht gehen» -
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«Eltern sollten weniger hart mit sich ins Gericht gehen»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Psychotherapeutin Felizitas Ambauen weiss, dass viele Eltern ihre Kinder anders erziehen wollen, als sie selbst erzogen wurden, und in stressigen Momenten doch in alte Muster fallen. Sie rät, Druck aus dem Familienalltag zu nehmen.

Interview: Sandra Markert
Bild: Lucas Ziegler / 13 Photo

Frau Ambauen, Kindern eine Strafe anzudrohen, hält heute kaum mehr jemand für richtig. Trotzdem kommen Eltern im Alltag «Wenn du nicht dies oder das machst, dann …»-Sätze über die Lippen. Warum ist das so?

Viele von uns planen, eine andere Erziehungsmethode anzuwenden als unsere Eltern. Das heisst aber nicht, dass wir das automatisch im Alltag umsetzen können. Dazu müssten wir uns zuerst einmal klarmachen, welche Glaubenssätze unser Verhalten prägen.

Felizitas Ambauen ist Psychotherapeutin und Paartherapeutin mit eigener Praxis in Fürigen NW. Ihr Schwerpunkt ist die verhaltenstherapeutische Schema-Arbeit mit Eltern und Paaren. In ihrem Podcast «Beziehungskosmos» nimmt sie seit 2020 zusammen mit der Journalistin Sabine Meyer die Glaubenssätze der Nation unter die Lupe. Sie lebt mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter in der Zentralschweiz.

Und wie macht man das?

Bevor ich etwas anders machen kann, muss ich wissen, wie es in meiner eigenen Kindheit war und wie ich es bisher mache. Dazu kann man, wenn man hat, seine Geschwister befragen. Und vor allem sich selbst beobachten. Vielleicht lege ich im Alltag Wert auf eine aufgeräumte Wohnung. Ist das so, weil ich das möchte? Oder weil ich selbst in einem ordentlichen Haushalt aufgewachsen bin und als Kind immer viel aufräumen musste?

Unter Stress haben wir oft nicht mehr die Kapazität, mit genügend Abstand und Reflexion unsere Reaktionen zu kontrollieren.

Will ich diesen Wert auch meinen eigenen Kindern so mitgeben? Oder stelle ich mir da einen anderen Weg vor, weil ich merke, dass das Thema Aufräumen auch zu vielen Konflikten führt? Dann habe ich einen Ansatzpunkt, um schrittweise etwas zu ändern. Das braucht aber sehr viel Zeit und Geduld. Denn die Glaubenssätze, die wir durch den Umgang mit unseren Eltern kennengelernt haben, sitzen ganz tief in uns drin.

Kann man sie überhaupt ganz loswerden?

Vermutlich nicht, meist werden sie nur in den Hintergrund gedrängt. Das merkt man, sobald man in eine stressige Situation kommt und in die alten Glaubenssätze verfällt. Denn unter Stress haben wir oft nicht mehr die Kapazität, mit genügend Abstand und Reflexion unsere Reaktionen zu kontrollieren. Das ist normal. Dann schalten wir in den Autopiloten, weil das am wenigsten Ressourcen braucht.

Und dann rutschen uns wieder Drohungen über die Lippen wie zum Beispiel «Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, darfst du deine Freunde nicht treffen».

Eine solche Drohung ist oft einfach nur eine Bewältigungsstrategie, weil uns auf die Schnelle keine andere Variante einfällt, um das Kind zum Aufräumen zu bewegen.

Muss man das hinnehmen?

In manchen Momenten vermutlich schon. Es hilft aber auf jeden Fall, sich bewusst zu machen, wann solche Situationen passieren, in denen man in unerwünschte Verhaltensweisen und Glaubenssätze zurückfällt. Und sich dann zu überlegen, wie man dem vielleicht vorbeugen kann. Wer ausgeschlafen ist, kann beispielsweise besser mit Stress umgehen.

Wenn man nun also eine Woche mit sehr vielen beruflichen Terminen vor sich hat, kann man versuchen, ausreichend zu schlafen. Und vielleicht weniger private Termine zusätzlich auszumachen. Das trägt zur Entspannung bei, und in entspanntem Zustand verhalten wir uns der Familie gegenüber anders als unter Stress. Tiefenentspannte und reflektierte Eltern sein zu wollen, wenn das System unter zu hoher Spannung und zu grosser Erschöpfung steht, das ist illusorisch.

Ein Familienalltag ganz ohne Stress ist auch illusorisch. Eltern können sich also gar nicht immer so verhalten, wie sie gerne möchten. Trotzdem löst Fehlverhalten immer ein schlechtes Gewissen aus.

Oh ja, die Erwartungen der Eltern an sich selbst sind riesig. Sie sollten unbedingt üben, weniger hart mit sich ins Gericht zu gehen. Wir dürfen Fehler machen. Mehrere am Tag.

Einige Eltern drehen alles ins Gegenteil um, was sie in ihrer eigenen Erziehung erlebt haben. So finden sie jede Grenze zu viel.

Nicht die Fehler schaden unseren Kindern. Viel schwieriger ist es, wenn man als Eltern diese dann versteckt oder verleugnet und denkt, man verliere das Gesicht, wenn man sich entschuldigt. Und wir müssen unsere Kinder nicht in Watte packen.

Ist es das, was häufig passiert, wenn man alte Glaubenssätze loswerden will: dass man die Kinder zu sehr behütet und beschützt und sich möglichst gegenteilig zu dem verhält, was im autoritären Erziehungsstil wichtig war?

Ja. Einige Eltern versuchen, die Fehler der eigenen Eltern nicht zu wiederholen. Also dreht man einfach alles ins Gegenteil um. Deshalb finden manche Eltern inzwischen jede Grenze zu viel. Sie versuchen, jede negative Emotion zu vermeiden, nie laut zu werden, nie zu schimpfen, nie «wenn, dann» zu sagen – und sie denken, das sei das Beste, was man für sein Kind tun kann.

Ich sehe das anders. Kinder brauchen klare, gesunde Grenzen. Man darf sie nicht vor allen schwierigen Emotionen beschützen, sonst können sie keine Frustrationstoleranz entwickeln. Und bedürfnisorientiert erziehen heisst auch nicht, immer allen Bedürfnissen und Wünschen der Kinder nachzukommen. Zumal Bedürfnisse und Wünsche zwei ganz verschiedene Dinge sind. Und eben auch Eltern Bedürfnisse haben, für die sie Zeit brauchen.

Verwenden Sie selbst auch Wenn-dann-Sätze?

Klar, ich finde sie wichtig, um Grenzen zu setzen und um Bedingungen zu stellen. Es hat für mich nichts mit einer Drohung zu tun, wenn ich sage: «Nach dem Essen hilfst du, den Tisch abzuräumen, machst dich bettfertig und dann darfst du noch zwanzig Minuten ‹Uno› spielen.» Ich finde, das sind wichtige «Wenn-dann-Regeln» für ein gutes Miteinander.

Kinder, die nicht lernen, dass es Regeln und Grenzen gibt, entwickeln keine Frustrationstoleranz.

Ich erlebe in meinen Beratungen Eltern, die finden, so etwas sei bereits gewaltsame Erziehung. Aber Kinder, die nicht lernen, dass es Regeln, Bedingungen und Grenzen gibt, entwickeln genau diese Fähigkeit schlecht. Sie lernen stattdessen nur, dass ihre Bedürfnisse immer an erster Stelle stehen und immer sofort befriedigt werden müssen.

Nun gibt es aber Eltern, die etwas an ihrem Verhalten verändern möchten, es aber nicht schaffen. Sie merken, da läuft etwas falsch, finden den Ausweg aber nicht.

Oh ja, das ist ein Gefühl wie auf Treibsand. Die Gedanken werden immer dunkler, die Energie schwindet. Dann ist es Zeit, sich Hilfe zu holen, und zwar bei einer zertifizierten psychotherapeutischen Fachperson, das muss im Werdegang stehen. «Psychologe» oder «Coach» sind nicht geschützte Begriffe, das sagt zunächst nichts über die Expertise aus. Die Fachleute helfen, negative Glaubenssätze und nicht hilfreiche Verhaltensweisen aufzuspüren, und erarbeiten Strategien, wie man damit im Alltag besser umgehen kann.

Sandra Markert
ist freie Journalistin und Mutter von drei Kindern im Kindergarten- und Primarschulalter. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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