«Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!» -
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«Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!»

Lesedauer: 4 Minuten

Elterncoach Sandra Schwendener sagt, wie Mütter und Väter es schaffen können, ihre eigenen Kräfte richtig einzuschätzen, bevor sie ausbrennen.

Interview: Kristina Reiss
Bild: Désirée Good / 13 Photo

Frau Schwendener, als Eltern haben wir oft derart hohe Ansprüche an uns, dass wir dazu neigen, uns zwischen Beruf und Familie aufzureiben. Wie schätzt man seine eigenen Kräfte richtig ein?

Wichtig ist eine gute Selbst- und Körperwahrnehmung. Habe ich dies nicht, dann spüre ich auch nicht, wenn ich an meine Belastungsgrenzen komme. In meinen Kursen vermittle ich Entspannungstechniken, damit Eltern sich selbst besser spüren und frühzeitig merken, falls sie auf einen Erschöpfungszustand zusteuern.

Sandra Schwendener, 44, ist Psychologin, Stressmanagement-Coach, diplomierte Fachfrau für medizinische Achtsamkeits-Interzeption und medizinische progressive Muskelentspannung. Die Mutter einer 8-Jährigen unterstützt Eltern in Zürich und online, gelassener und entspannter zu werden und besser für sich selbst zu sorgen.
www.mama-care.ch

Gleichzeitig braucht es Momente des Innehaltens. Hetze ich dauernd durch den Alltag, blende ich aus, wie es mir wirklich geht. Deshalb ist es wichtig, sich Zeit für sich zu nehmen, für die Partnerschaft. Sich zu fragen: Wie geht es mir? Sind wir gut unterwegs als Familie? Wie geht es uns als Paar? Und auch in der Partnerschaft darüber zu sprechen.

Von der Erkenntnis «Ich muss was für mich tun» bis zur Umsetzung ist es jedoch ein weiter Weg.

Natürlich, das geht nicht von heute auf morgen. Insbesondere junge Eltern sind zunächst völlig auf das hilflose Baby fokussiert – was richtig ist. Gleichzeitig sollten Mutter und Vater relativ bald wieder an sich denken – und beispielsweise schauen, wer sich mal zwei bis drei Stunden um den Nachwuchs kümmern könnte. Ich kenne Paare, die haben seit fünf Jahren Kinder und hatten noch nie einen Abend für sich.

Weil sich niemand findet, der auf die Kinder aufpasst?

Nein, eher weil uns Glaubenssätze davon abhalten. Die Frage ist: Wie haben uns die eigenen Eltern geprägt? Hatten diese etwa sehr hohe Ansprüche an sich selbst – was Kindererziehung angeht oder wie der Haushalt geführt werden soll? Dann glaubt man, es selbst auch so handhaben zu müssen.

Gleichzeitig wollen wir – und dies gilt insbesondere für Mütter – im Job ebenfalls perfekt sein. Es soll bloss niemand denken: Seit sie Kinder hat, bringt sie nicht mehr die volle Leistung. Der Druck kommt also nicht nur von aussen, sondern ist auch im eigenen Kopf.

Wer langfristig auf Zeit für sich verzichtet, schadet nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Familie.

Deshalb ist es wichtig, sich bewusst zu machen, was Prägungen von früher sind. Wir sollten uns lösen von Sätzen wie «Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen». Und kontern mit einem klaren: «Nein, auch wenn ich mich jetzt aufs Sofa setze und die Wäsche morgen mache, bin ich ein vollwertiger Mensch.»

Die Aufforderung, sich zu entspannen, kommt oft von aussen. Das suggeriert aber auch: Beschwer dich nicht, nimm halt eine Auszeit! Wie aber mache ich das konkret, wenn ich so eng getaktet bin?

Den Partner oder die Partnerin miteinbeziehen! Gemeinsam überlegen: Wie gestalten wir unseren Abend? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem sich nicht beide um die Kinder kümmern müssen? Dann nimmt sich ein Elternteil raus und deklariert klar: «Mama macht jetzt Pause, Papa kümmert sich.» Machen Sie die Tür zu, lesen Sie etwas, unternehmen Sie einen Spaziergang – oder was Ihnen sonst guttut.

Ist kein Partner vorhanden, schauen Sie, wer sonst mal eine Stunde auf den Nachwuchs aufpassen könnte. Diese Auszeiten gilt es dann konkret in den Alltag einzuplanen. Vor allem aber sollte man sich klar machen: Wer langfristig auf Zeit für sich verzichtet, schadet nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Familie.

Wie meinen Sie das?

Ich kann mich erst dann gut um mein Kind kümmern, wenn ich mich gut um mich selbst kümmere. Wer ständig auf dem Zahnfleisch läuft, die Batterien ständig auf null hat, dem fehlt die Basis. Anders gesagt: Nur wenn ich die Energie behalte und mich erholen kann, habe ich die nötige Ruhe, den Herausforderungen im Erziehungsalltag zu begegnen.

An welchem Punkt stehen Klientinnen und Klienten, wenn sie zu Ihnen in die Praxis kommen?

Die meisten haben einen gewissen Leidensdruck. Weil sie merken, dass sie mit Job und Nachwuchs an ihre Grenze kommen. Weil sie, statt ruhig und geduldig zu bleiben gegenüber den Kindern, schnell die Nerven verlieren und immer öfter laut werden. Weil sie realisieren: «Ich will das so nicht mehr, es muss sich etwas ändern.»

Allein schon zu erkennen, dass es den anderen genauso geht, ist unheimlich entlastend und nimmt Druck raus.

Vor allem die Zeit, in der Kinder zwischen null und fünf Jahren alt sind, ist herausfordernd – bevor der Nachwuchs in die Schule geht, oft noch nicht gut schläft oder zwei Kinder dicht aufeinander folgen. Rein energetisch gesehen ist ein geringer Altersabstand total unvernünftig – auch wenn der auf anderen Ebenen Vorteile haben mag. Kommt dann noch das Konzept der Kleinfamilie hinzu, die die Kindererziehung weitgehend alleine zu stemmen hat, wird es schwierig.

Was raten Sie erschöpften Eltern?

Ich versuche als Erstes aufzuzeigen, dass es völlig okay ist zu sagen: Mir ist es zu viel! Allein diese Erkenntnis entlastet in der Regel ungemein. Gleichzeitig geht es darum, sich ein Unterstützungsnetzwerk aufzubauen. Mit anderen Eltern beispielsweise, sodass die Kinder einmal dort und einmal da spielen und Mutter und Vater jeweils zwei Stunden Zeit für sich haben. Oder einfach mal die ältere Nachbarin fragen, ob sie kurz nach dem Kind schaut – und sich dafür mit Einkaufen revanchieren. Am wichtigsten ist es aber, sich nicht zu scheuen, um Hilfe zu fragen. Dies geschieht viel zu selten.

Weil man glaubt, es alleine schaffen zu müssen?

Ja, aber auch weil man denkt: Andere Familien schaffen das schliesslich auch. Was bei genauem Hinsehen überhaupt nicht stimmt. Wichtig ist, nicht zu sehr auf andere zu schauen, sondern sich selbst zu fragen: Wie geht es uns als Eltern? Was brauchen wir, damit es für uns stimmt? Überhaupt sollten wir mit unserem engeren sozialen Umfeld viel offener über diese Dinge reden. Allein schon zu erkennen, dass es den anderen genauso geht, ist unheimlich entlastend und nimmt Druck raus.

Was soll ich tun, wenn ich merke, dass ich nicht mehr kann und mich als Elternteil überfordert fühle?

In akuten Fällen professionelle Unterstützung holen, sich an Mütter- und Väterberatungsstellen wenden, an Elterncoaches, oder – wenn es bereits Richtung Erkrankung und Burnout geht – an den Hausarzt. Am besten aber bereits möglichst früh mit dem Partner oder der Partnerin darüber sprechen, mit Freunden, mit der Patentante des Kindes und schauen: Wer kann was für mich übernehmen? Sich überlegen: Was macht mir Freude? Wie habe ich mich früher erholt? Manchmal reicht kurzfristig schon Kaffeetrinken mit der Freundin oder ein warmes Bad. Es muss nicht immer gleich ein Wellnesswochenende sein.

Kristina Reiss
ist freischaffende Journalistin und Mutter einer Tochter, 12, und eines Sohnes, 9. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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