Weshalb sind so viele Eltern überfordert?
Peter Sumpf spricht als Leiter des Elternnotrufs oft mit überforderten Müttern und Vätern. Er weiss, weshalb immer mehr Mütter und Väter ein Eltern-Burnout haben.
Herr Sumpf, melden sich überforderte Eltern bei Ihnen?
Oh ja. Ich habe eben ein Mail von einer jungen Mutter bekommen. Sie hat zwei Kinder, das eine ist ein Kleinkind, oft trotzig, das andere ist ein Säugling, schläft schlecht und schreit viel. Ihr Mann kommt abends erst spät nach Hause. Die Frau beschreibt sich als erschöpft und gereizt, sie glaubt, sie schaffe nicht, was alle anderen um sie herum spielend schafften. Das ist der Zustand realer, handelsüblicher Erschöpfung. Ihr Fall ist ein sehr typisches Beispiel.
Was haben Sie der Frau geantwortet?
Ich habe sie in ihrer Empfindung bestärkt. Egal, was andere sagen: Ihre Situation und ihre Überforderungsgefühle sind so normal wie Familie nur sein kann. Ich habe ihr versichert, dass dies eine der allerhäufigsten Situationen ist, die an uns als Elternnotruf herangetragen wird.
Ich hätte gedacht, unter jungen Leuten gehe man heute offener mit Belastungen um.
Ausserdem habe ich für sie herausgefunden, welche Organisationen, Dienstleister und so weiter in ihrer Nähe sie unterstützen können. Ich bin immer wieder verblüfft, wie häufig ich höre, dass alle anderen spielend mit den Belastungen zurecht kämen. Ich hätte gedacht, unter jungen Leuten gehe man heute offener mit Belastungen um.
Familie wird offenbar noch immer idealisiert?
Sie ist «heilige Kuh», wie ein Bekannter kürzlich sagte. Diejenigen, die Erschöpfungsgefühle haben, erleben sich als alleine damit. Eine Komponente, die wir in diesem Zusammenhang übrigens oft hören, ist die fehlende konkrete Unterstützung: Diese Eltern haben meist keine Möglichkeit, die Kinder abzugeben.
Viele Eltern haben heutzutage auch das Gefühl, ihre eigenen Eltern hatten das alles besser im Griff.
Das kann täuschen und vielleicht ist da manchmal auch etwas Verklärung im Spiel. Die Eltern der heutigen Eltern entspringen oft der Generation der «Babyboomer», geboren und aufgewachsen in einer Phase des kontinuierlichen wirtschaftlichen Fortschritts.
Die eigenen Ansprüche an sich, die Karriere, Beziehung und an die Kinder sind enorm gestiegen.
Die Diskussion der bestehenden Werte, zum Beispiel in der Rollenteilung oder der Erziehung, nahm damals ihren Anfang. Ich spreche von der 1968-er Generation. Vergleiche bringen da wenig: Die Art der Belastung hat sich verändert und die Ansprüche an sich und sein Gelingen in Erziehung, Laufbahn oder Beziehung sind grösser geworden.
Sind berufliche Ambitionen ein Problem?
Die eigenen Ansprüche sind es. Egal, ob an die Karriere, die eigene Erziehungsarbeit, das Verhalten der Kinder – die Ansprüche sind enorm gestiegen. Schauen Sie mal, was es allein in der Erziehung für Normen gibt, was man da alles falsch machen kann. Und natürlich hat jeder Vater, jede Mutter den Anspruch, es richtig zu machen.
Gemessen an diesen hohen Erwartungen sind die Chancen des Scheiterns grösser. Wir wissen, dass es ein Weg in die Erschöpfung ist, an sich selbst zu hohe Ansprüche zu stellen und permanent zu versuchen, diese zu erfüllen. Oft sind es aber natürlich die Ansprüche, die man aus der Gesellschaft übermittelt bekommt.
Sie meinen sozialen Druck?
Absolut. Gesellschaftliche Normen sind heute vielleicht weniger ausschliesslich, aber deutlich vielfältiger und manchmal vielleicht auch widersprüchlicher als noch vor wenigen Jahrzehnten. Zu jedem Thema, das eine Familie betrifft, finden Sie zig Ratgeber, die erklären, wie etwas richtig geht. Wie gestalte ich den perfekten Kindergeburtstag? Wie unterstütze ich mein Kind bei den Aufgaben?
Wie schaffe ich eine gute Beziehung zum Kind? Hinzu kommt, dass jeder weiss: Gute Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Wenn mein Kind schulisch vielleicht nicht den Erwartungen entspricht, investiere ich hier auch noch einmal. Und übertrage damit meine Ansprüche übrigens auch auf das Kind.
Machen Sie hier den Selbsttest und finden Sie heraus, ob Sie an einem Eltern-Burnout leiden oder nah dran sind. Sie können den Test als PDF herunterladen und ausdrucken.
Das heisst, wir müssen an den Ansprüchen – den eigenen und den gesellschaftlichen – arbeiten?
In der Tat. Die gesellschaftlichen Ansprüche zu ändern, dauert lang, deshalb ist es sinnvoll, bei sich selbst anzufangen und sich zu fragen: Was ist wichtig und muss wirklich sein? Was ist nicht so wichtig? Das bezieht sich auf alles: Unternehmungen, finanzielle Aufwendungen, die Ansprüche an sich selbst, an das Kind und an das eigene Verhalten gegenüber dem Kind und dem Partner.
Und dann lautet meine Grundbotschaft: Eltern sollen sich mehr Unterstützung holen, wo immer es geht. Das Kind in Zeiten hoher Belastung abgeben, wann immer es möglich ist. Und sich deshalb nicht schämen oder Gedanken darüber machen, dass es traumatisiert werden könnte. Darüber hinaus gibt es eine geniale Hilfe, deren Wirkung mich immer wieder erstaunt: darüber reden.