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«Die Eltern dürfen lernen, an sich zu denken»

Lesedauer: 3 Minuten

Mütter und Väter, deren Kind schwer erkrankt, sind mit vielen Ängsten konfrontiert und zum Teil mit einer lebenslangen Aufgabe. Um nicht auszubrennen, müssen sie Hilfe annehmen, sagt Sonja Kiechl, Leiterin der Kinderhäuser Imago.

Text: Nadja Tempest
Bilder: Rawpixel, zVg

Frau Kiechl, was passiert mit einer Familie, deren Kind schwer krank und pflegebedürftig wird?

Bei vielen Eltern löst eine solche Diagnose grosse Ängste aus. Der ganze Lebens­entwurf wird über den Haufen geworfen. Sie sehen sich bis ans Lebensende gebunden, weil das Kind unter Umständen nie selbständig wird. Die Betroffenen sind plötzlich mit unzähligen Themen konfron­tiert: Spitalaufenthalte, medizinische Kontrollen, Angst vor den Ergebnissen, unangenehme Untersuchungen und Behandlungen für das Kind.

Die Trennungsrate ist doppelt so hoch wie bei anderen Paaren.

Sie müssen lernen, das Kind zu pflegen. Rund um die Uhr. Das kann beinhalten, nachts eine Ernährungssonde zu bedienen. Ein krankes Kind fordert unglaublich viel Raum und Zeit; es ist eine Kunst, dem gerecht zu werden.

Trennen sich viele betroffene Eltern aufgrund dieser Belastung?

Die Trennungsrate ist doppelt so hoch wie bei anderen Paaren. Diese Mütter und Väter kommen mit Fragen in Berührung, die über das hinausgehen, was Eltern in der Regel entscheiden müssen. Ethische Fragen zum Beispiel. Wenn der eine das todkranke Kind gehen lassen möchte und der andere bis zum Letzten kämpft, sind die Spannungen kaum mehr zu überbrücken.

Zur Person: Sonja Kiechl hat Individualpsychologie und organismisch­integrative Psychotherapie studiert und leitet heute die Kinderhäuser Imago für Kinder mit und ohne Handicap. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und lebt mit ihrem Mann in Dübendorf.
Sonja Kiechl hat Individualpsychologie und organismisch­integrative Psychotherapie studiert und leitet heute die Kinderhäuser Imago für Kinder mit und ohne Handicap. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und lebt mit ihrem Mann in Dübendorf.

Auch unter­schiedliche Präsenzzeiten zu Hause können Neid gegenüber dem Partner, der scheinbar mehr Freiheiten hat, auslösen. Deswegen brauchen Paare Verständnis für den übermenschlichen Einsatz und die Erschöpfung des anderen. Es ist ein Marathonlauf, jeden Tag. Dabei noch die Liebe füreinander zu spüren, ist schwierig.

Wie können Eltern in ihrer Aufgabe konkret entlastet werden?

Um als Person oder als Paar gesund zu bleiben, muss man Hilfe annehmen. Das kranke Kind sollte regelmässig ein paar Stunden oder über Nacht zu einer Vertrauensperson oder in eine Einrichtung wie das Kinderhaus Imago gehen. Die Eltern dürfen lernen, an sich zu denken, die Verantwortung zeitweise abzugeben, sonst brennen sie aus.

Es gibt auch Anlässe für die ganze Familie. Dort spüren die Eltern, dass sie nicht alleine auf der Welt sind mit ihrem Schicksal. So erleben sie zusammen mit ihren kranken Kindern wertvolle Momente.

Ist es vertretbar, dass zur Entlastung zeitweise jemand anderes die Pflege übernimmt?

Sein Kind jemandem zur Pflege zu geben, braucht viel Vertrauen, das erst aufgebaut werden muss. Ein krankes Kind kann sich nicht äussern und erzählen, wie es den Tag verbracht hat. Da fühlt man sich ausge­liefert. Aber mit der Zeit spüren die Eltern, dass es funktionieren kann und den Kindern Spass macht.

Warum tun sich viele so schwer damit?

Je mehr Pflege ein Kind benötigt, desto enger ist die Bindung zu ihm, weil man wirklich alles für das Kind tut. Da ist Loslassen eine grosse Herausforderung. Oder die Eltern glauben, es sei medizinisch nicht vertretbar. Man kann aber sehr vieles organisieren.

Ein schwer krankes Kind ist eine lebens­lange Aufgabe. Aber auch dessen Eltern werden alt. Kommt das Kind dann ins Heim?

In manchen Fällen wird das Kind bereits im Schulalter in einem Wocheninternat untergebracht. Die Eltern nehmen das Kind dann am Wochenende zu sich nach Hause. Später leben Kinder mit Handicap oft in betreuten Wohngruppen, wo sie zum Teil einer Beschäftigung nachgehen können.

Gesunde Kinder ziehen eines Tages aus, um alleine oder mit einem Partner zusammen­zuleben. Auch junge Erwachsene mit Behinderung haben dieses Recht. Der Prozess des Loslassens sollte früh beginnen, sonst ist das Kind an nichts gewohnt, was von aussen kommt.

Welche Zukunftsängste oder Sorgen haben Eltern von pflegebedürftigen Kindern? 

Viele wichtige Fragen sind zu klären: Bezahlt die IV noch in 30 Jahren? Wer kümmert
sich um mein Kind, wenn die heutigen Betreuungspersonen nicht mehr da sind? Daher ist es sinnvoll, weit vorauszudenken und vorzusorgen.

Geschwister oder Freunde können beispielsweise Beistand des Kindes werden. Eltern, die ihr Schicksal akzeptieren und nicht damit hadern, kommen besser durch den Alltag. Das ist aber leichter gesagt als getan. Die Gesellschaft erwartet, dass man weiter funktioniert, doch solch eine Diagnose bringt eine riesige Trauerarbeit mit sich.

Nadja Tempest
ist Fotografin und Journalistin. Für diesen Beitrag hat sie Milla und ihre Mutter Andrea mehrere Monate begleitet. Nadja Tempest lebt mit ihrer Familie in Zürich.

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