«Papa, warum habe ich das Sprechen verlernt?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Papa, warum habe ich das Sprechen verlernt?»

Lesedauer: 4 Minuten

Auch Kinder können die Sprache verlieren und von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr, wie es war. Die «kindliche Aphasie» ist den wenigsten bekannt und doch wirkt sich diese Krankheit massiv auf das Leben der betroffenen Kinder und ihren Familien aus. Aber was genau steckt dahinter und was können betroffene Eltern tun?

Enzo hatte einen schweren Fahrradunfall. Er lag lange im Krankenhaus mit einem Schädel-Hirn-Trauma. Nach einem halben Jahr Rehabilitation konnte er bereits wieder in die Schule gehen. Der Weg dahin war steinig und mühselig, aber die vielen Therapien und sein starker Durchhaltewille halfen ihm dabei. Der 8-jährige geht heute seinen geliebten Hobbies, wie Skateboard fahren und Schwimmen, ohne Probleme nach. Auch in der Schule sitzt er wieder neben seinen alten Klassenkameraden. Aber es hat ihn viel Zeit und Energie gekostet, den verpassten Stoff aufzuholen. Auch fällt ihm heute die Konzentration und das Lernen in der Schule nicht mehr so leicht wie früher. Besonders beim Lesen und Sprechen merkt Enzo, dass etwas noch nicht so richtig stimmt. Was ist da eigentlich wirklich bei seinem Unfall passiert und was hat das mit seiner Sprache zu tun?

Was genau ist kindliche Aphasie?

Eine kindliche Aphasie, genauer eine erworbene Störung der Sprache, hat man nicht von Geburt an, sondern sie entsteht durch eine Schädigung des Gehirns. Die Ursachen können ein Unfall, Schlaganfall, ein Tumor oder eine Hirnhautentzündung sein. In 80 Prozent der Fälle tritt eine kindliche Aphasie durch einen Unfall, sprich ein Schädel-Hirn-Trauma auf. Dabei können auch wichtige Gebiete der Sprache im Hirn betroffen sein, vorübergehend oder länger andauernd. Fachleute sprechen erst ab einem Alter von ca. zwei Jahren von einer kindlichen Aphasie. Denn per Definition muss die Sprache beim Kind soweit entwickelt sein, dass es die ersten Wörter erworben hat. 

Im Unterschied dazu kann Mutismus als kompletter oder teilweiser (selektiver Mutismus) Sprachverlust verstanden werden. Dieses Schweigen hat häufig psychische Ursachen und weist andere Symptome als die kindliche Aphasie auf. 

Wie macht sich eine kindliche Aphasie in der Sprache bemerkbar?

Die kindliche Aphasie kann zu Störungen bei der Wortfindung und beim Sprachverständnis führen. Fähigkeiten des Sprechens, Verstehens, Schreibens und Lesens, sowie in der Gestik und Mimik können unterschiedlich stark betroffen sein. Sie wirkt sich jedoch nicht auf die Intelligenz des Kindes aus.
 
Sehr häufig verstummen die Kinder nach ihrem einschneidenden Ereignis komplett. Man nennt dies «posttraumatischen Mutismus». Die Dauer des Schweigens kann unterschiedlich lang sein, abhängig vom Ort und der Art der Verletzung des Hirns. Nach dieser «mutistischen» Phase beginnen die Kinder wieder vereinzelt Wörter und Sätze zu formulieren. Oft fehlen ihnen aber nicht nur die Wörter, auch die Aussprache an sich kann betroffen sein. Enzo war früher ein richtiges Plappermaul, aber heute fällt ihm nicht immer das passende Wort ein und manchmal versteht er auch gar nicht richtig, was die anderen Kinder ihm eigentlich erzählen wollen.

Kindliche Aphasie kann sich massiv auf das Leben der betroffenen Kinder und ihren Eltern auswirken. (Bild: Anja Petri) 
Kindliche Aphasie kann sich massiv auf das Leben der betroffenen Kinder und ihren Eltern auswirken. (Bild: Anja Petri) 

Wie beeinflusst kindliche Aphasie den (schulischen) Alltag?

Bei einer kindlichen Aphasie kann es zu vielen unterschiedlichen Lese- und Schreibstörungen kommen, die den schulischen Alltag stark beeinflussen. Ausserdem kommt es sehr häufig zu Verhaltensauffälligkeiten, wie zum Beispiel Impulsivität und Ängstlichkeit. Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen sowie Wahrnehmungsstörungen und Bewegungseinschränkungen kommen nicht selten hinzu.

Oft machen sich Probleme erst mit gesteigerten Anforderungen in der Schule bemerkbar. (Bild: Anja Petri)
Oft machen sich Probleme erst mit gesteigerten Anforderungen in der Schule bemerkbar. (Bild: Anja Petri)

All diese Schwierigkeiten stellen eine Belastung für das Kind und sein Umfeld dar, welche sich auf die Psyche, das Familienleben, das soziale Leben und die schulische Bildung auswirken können. Die Beeinträchtigung des Kindes kann das ganze Familienleben finanziell, zeitlich und emotional stark belasten. Enzos Mutter reduzierte ihre Stellenprozente, weil zum familiären Alltag plötzlich Therapien, Nachhilfe und Beratungen hinzukamen. Ausserdem schränkten sich die Freizeitaktivitäten der Familie durch die Erkrankung stark ein.

Warum bleiben einige Probleme bestehen?

Oft scheint die kindliche Aphasie nach einer Zeit der Rehabilitation überwunden. Je höher aber die schulischen Ansprüche werden, desto mehr besteht die Gefahr des «growing into the deficit». Das heisst, dass die Folgen der Krankheit oft erst durch erhöhte Anforderungen sichtbar werden, die erst später auf das Kind zukommen. Die Kinder wachsen so in ihr Defizit hinein. Dies kann sogar zu Verhaltensstörungen und Angstzuständen sowie Depressionen oder dem Rückzug aus dem sozialen Leben führen.

Wie geht es Enzo heute, zwei Jahre nach dem Unfall?

Enzo weiss, dass er für alles etwas mehr Zeit braucht und wenn alle durcheinander sprechen, ist es manchmal schwierig. Obwohl ihn heute alle gut verstehen und er aus Sicht der anderen wieder ohne Probleme sprechen kann, geht er von Zeit zu Zeit immer noch in die Logopädie. «Das gibt mir Sicherheit», sagt Enzo und lacht.

Was können Sie als Eltern tun?

  • Sprechen Sie möglichst viel mit Ihrem Kind, auch wenn dieses sich weniger an dem Gespräch beteiligt.
  • Machen Sie sich bewusst, dass eine Sprachstörung keine Denkstörung ist und somit die Intelligenz und das Denken Ihres Kindes nicht betroffen sind.
  • Vermeiden Sie Über- und Unterforderung Ihres Kindes im Alltag und überprüfen Sie diese in der Schule.
  • Akzeptieren Sie mögliche Veränderungen im Verhalten Ihres Kindes und suchen Sie sich gegebenenfalls professionelle Hilfe.
  • Akzeptieren Sie auch Ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse und setzen Sie sich nicht unter Druck.
  • Tauschen Sie Ihre Probleme und Fragen mit anderen betroffenen Eltern aus.
  • Hilfreiche Links: 

Anja Petri studiert im 5. Semester Logopädie (BA) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich.
Anja Petri studiert im 5. Semester Logopädie (BA) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich.
Nicole Meyer studiert ebenfalls im 5. Semester Logopädie (BA) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich.
Nicole Meyer studiert ebenfalls im 5. Semester Logopädie (BA) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich.


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