Was tun, wenn das Kind unter chronischen Schmerzen leidet?
Bei der Behandlung von chronischen Schmerzen werden neben körperlichen auch psychische und soziale Aspekte berücksichtigt. Dabei können die Eltern ihre Kinder aktiv unterstützen.
Bei Melisa (Namen der Betroffenen geändert) fingen die Schmerzen im Alter von zehn Jahren an: Beim Laufen taten ihr Knie und Hüfte weh. Es folgte eine Reihe von Untersuchungen, sie bekam Einlagen und eine Physiotherapie. Doch obwohl die vermeintlichen Ursachen der Schmerzen behoben waren, wurden sie stärker und traten an weiteren Körperstellen auf. «Ich war immer wieder bei Ärzten, aber es wurde keine Ursache gefunden», sagt die heute 19-Jährige. «Irgendwann haben dann andere die Schmerzen nicht mehr ernst genommen.»
Bei Oona fing alles im Sommer 2018 mit einem Muskelriss im rechten Arm an. «Die Verletzung war eigentlich harmlos und nach ein paar Monaten geheilt», erzählt die 18-Jährige aus dem Kanton St. Gallen. «Aber die Schmerzen wurden im Laufe eines halben Jahres immer stärker und haben bis in die Finger ausgestrahlt. Später hatte ich Schmerzen am ganzen Körper.»
Laut einer deutschen Studie erleben 31 Prozent der Schülerinnen und Schüler zwischen 10 und 18 Jahren chronische Schmerzen.
Längere Zeit konnte sie nicht mit der rechten Hand schreiben. Es wurde ein Complex Regional Pain Syndrome (CRPS) diagnostiziert – Schmerzen, die stärker sind und länger anhalten, als durch die Gewebeschädigung zu erwarten wäre.
Yael hatte mit 13 Jahren zum ersten Mal sehr starke Unterbauchschmerzen. Wegen einblutender Zysten am Eierstock wurde sie vier Mal notoperiert. «Obwohl dann gynäkologisch alles wieder in Ordnung war, hatte ich ständig mal mehr, mal weniger starke Schmerzen – und dazu alle zwei Wochen eine Schmerzkrise, bei der ich im Spital behandelt werden musste», sagt die heute 17-Jährige. «Mit etwa 14 Jahren war mir und meinen Eltern dann klar, dass ich professionelle Hilfe für die Schmerzen brauche.»
«Kinder sind heute oft belastet»
Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu. «Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2021 mit Schülerinnen und Schülern zwischen 10 und 18 Jahren hat gezeigt, dass 31 Prozent von ihnen chronische Schmerzen erleben. 8 Prozent leiden unter starken Schmerzen, die sie in ihrem Alltag deutlich beeinträchtigen.
In der Schweiz dürften die Zahlen vergleichbar sein», sagt Alice Prchal, Leitende Psychologin und Co-Leiterin der Interprofessionellen Schmerzsprechstunde des Universitäts-Kinderspitals Zürich. Mädchen sind dabei deutlich häufiger betroffen als Buben. Woher die Zunahme kommt, ist nicht ganz klar. «Wahrscheinlich wirken dabei mehrere Faktoren zusammen», so Prchal. «Kinder und Jugendliche müssen heute vielfältige Anforderungen erfüllen und sind dadurch oft belastet.»
Am häufigsten bei Kindern und Jugendlichen sind Schmerzen der Muskeln, der Gelenke und des Skeletts sowie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Bauchschmerzen.
Eva Bergsträsser, Ärztin
Von chronischen Schmerzen spricht man, wenn die Schmerzen mindestens drei Monate anhalten oder immer wieder auftreten. Es werden zwei Formen unterschieden: chronische Schmerzen ohne feststellbare organische Ursache und chronische Schmerzen mit körperlicher Ursache, die jedoch nicht das Ausmass der Schmerzen erklärt. Auslöser für die Schmerzen können ein Unfall, eine Krankheit oder eine Operation sein.
«Am häufigsten bei Kindern und Jugendlichen sind Schmerzen der Muskeln, der Gelenke und des Skeletts sowie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Bauchschmerzen. Diese Schmerztypen sind etwa gleich häufig», erläutert Eva Bergsträsser. Sie ist eine Kollegin von Alice Prchal und Abteilungsleiterin für Palliative Care sowie ärztliche Co-Leiterin der Schmerzsprechstunde in Zürich. «Mit zunehmendem Alter werden chronische Schmerzen häufiger, oft sind dann auch mehrere Körperregionen betroffen», so Bergsträsser.
Lebensqualität ist oft deutlich beeinträchtigt
Die Schmerzen führen häufig zu Einschränkungen im Alltag – etwa in der Schule, bei Freizeitaktivitäten oder beim Sport. Und sie können die Lebensqualität des Kindes und der ganzen Familie deutlich beeinträchtigen. Dazu kommt, dass viele Betroffene gleichzeitig an Depressionen, Angststörungen oder Schlafstörungen leiden. Sie können als Folge der Schmerzen auftreten, aber auch schon vorher da sein und die Schmerzen verstärken.
«Wegen der Schmerzen konnte ich in der Schule nicht mehr richtig mitmachen, habe ich mich weniger mit Freunden getroffen und keinen Sport mehr gemacht», berichtet beispielsweise Melisa. «Und zu Hause war ich häufig gereizt, so dass es öfter mal Streit gab.»
Was können die Betroffenen und ihre Eltern also tun? «Wichtig ist zunächst, mögliche körperliche Ursachen sorgfältig abzuklären», empfiehlt Bergsträsser. «Am besten wendet man sich dazu als Erstes an die Kinderärztin. Sie kann eine Art Drehscheibe sein und an verschiedene Fachärzte oder ein spezialisiertes pädiatrisches Schmerzzentrum überweisen.»
Je früher professionelle Hilfe gesucht wird, desto besser. Denn das erhöht die Chancen, dass die Schmerzen nicht chronisch werden und keine weiteren psychischen Störungen auftreten.
Am Anfang steht eine ganzheitliche Erfassung der Situation
Spezialisierte Schmerzzentren gibt es hierzulande in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen und Lausanne. Dort arbeiten Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen bei Diagnostik und Behandlung zusammen: Ärzte und Kinder- sowie Jugendpsychotherapeutinnen, Physiotherapeuten und Sozialarbeiterinnen.
«Eine solche multimodale Therapie ist derzeit der effektivste Behandlungsansatz bei chronischen Schmerzen», sagt Prchal. Multimodal bedeutet, dass neben körperlichen auch psychische und soziale Aspekte berücksichtigt werden, die bei der Entstehung und Bewältigung der Schmerzen eine Rolle spielen.
Die Schmerzen weisen in der Regel nicht auf eine körperliche Schädigung hin. Zugleich sind sie zu 100 Prozent echt.
Alice Prchal, Psychologin
«Beim ersten Termin in unserer Poliklinik führen eine Ärztin und eine Psychologin gemeinsam ein ausführliches Gespräch mit dem oder der Jugendlichen und den Eltern», erläutert die Kinderärztin Bergsträsser das Vorgehen. «Dabei schauen wir die körperlichen Befunde genau an, erfassen die Situation in der Familie, in der Schule und mit Gleichaltrigen und fragen nach weiteren Belastungen, die möglicherweise zu den Schmerzen beitragen.»
Ein zentrales Ziel der Therapie ist, dass die Kinder und Jugendlichen in allen Lebensbereichen wieder möglichst normal zurechtkommen. Meist kann die Therapie ambulant durchgeführt werden, bei starken Schmerzen und Einschränkungen ist aber eine stationäre Therapie sinnvoll. «Dabei werden immer auch die Eltern in die Therapie einbezogen», so Prchal. «Denn sie können ihr Kind bei der Bewältigung der Schmerzen aktiv unterstützen.»
- Interdisziplinäre Schmerzsprechstunde des Universitäts-Kinderspitals beider Basel (erstes spezialisiertes Schmerzzentrum für Kinder und Jugendliche in der Schweiz): www.ukbb.ch
- Interprofessionelle Schmerzsprechstunde des Universitäts-Kinderspitals Zürich: www.kispi.uzh.ch
- Kurzfilm «Den Schmerz verstehen – und was zu tun ist in 10 Minuten!»: www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de
- Die 10 wichtigsten Tipps, was Eltern bei chronischen Schmerzen tun können, finden Sie hier.
Ein wichtiger Baustein der Therapie ist die Psychoedukation: Dabei wird Wissen über die Schmerzen vermittelt und mit falschen Vorstellungen aufgeräumt.
Prchal: «Wir machen deutlich, dass chronische Schmerzen durch das Zusammenwirken von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren entstehen. Ausserdem erklären wir, dass sie in der Regel nicht auf eine körperliche Schädigung hinweisen und damit ihre Warnfunktion verloren haben. Zugleich betonen wir, dass die Schmerzen zu 100 Prozent echt sind – und deshalb von allen Beteiligten ernst genommen werden sollten.» Weiterhin könnten Schmerzen durch Aufmerksamkeit oder negative Gefühle wie Angst oder Stress verstärkt werden, so die Expertin.
Aus diesen Informationen leitet sich auch das Vorgehen in der Therapie ab. «Ganz wichtig ist, dass die Kinder und Jugendlichen wieder aktiv an allen täglichen Aktivitäten teilnehmen. Dabei kann es sinnvoll sein, manche Anforderungen etwas anzupassen, zum Beispiel in der Schule Pausen zu ermöglichen», sagt Bergsträsser. «Auf diese Weise gehen die Schmerzen nach einer Weile oft deutlich zurück.» Wichtig ist auch, Sport und körperliche Aktivität wieder aufzunehmen – das wird auch durch die Physiotherapie gefördert.
Weiterhin lernen die Betroffenen Strategien zum Umgang mit den Schmerzen: etwa, sich bewusst abzulenken, sich zu entspannen oder die Schmerzen nicht mehr als bedrohlich einzuschätzen, was negative Gefühle deutlich verringern kann.
Wichtig ist auch, Stress und Belastungsfaktoren zu erkennen und zu verändern. «Wenn die Familie grosse Sorgen hat, dass organische Ursachen übersehen worden sein könnten, überlegen wir zudem gemeinsam, welche körperlichen Untersuchungen noch sinnvoll sein könnten, um mehr Sicherheit zu bekommen», sagt Prchal.
Die Psychologin Alice Prchal und die Kinderärztin Eva Bergsträsser, Leiterinnen der Schmerzsprechstunde des Universitäts-Kinderspitals Zürich, fordern eine bessere Ausbildung von Ärzten, weniger Druck in der Schule und mehr Information zum Thema.
Frau Bergsträsser, Frau Prchal, wie gut sind Ärzte für chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen sensibilisiert?
Eva Bergsträsser: «Da ist das Bild eher ernüchternd. So hat eine Studie gezeigt, dass sich nur 20 Prozent der befragten Kinderärztinnen und Kinderärzte in der Schweiz bei der Behandlung chronischer Schmerzen sicher fühlen. Kinder- und Hausärzte sollten daher in diesem Bereich besser ausgebildet werden.»
Wie könnte die Situation verbessert werden?
Alice Prchal: «Sinnvoll könnte es sein, die oftmals hohen Anforderungen in der Schule zu überdenken, etwa Zeitdruck oder Druck bei Prüfungen zu verringern. Aber auch manche Eltern und die Jugendlichen selbst könnten sich die Frage stellen, ob es beispielsweise unbedingt eine bestimmte schulische Laufbahn sein muss.»
Wie könnte chronischen Schmerzen vorgebeugt werden?
Prchal: «Wichtig wäre, Eltern, Lehrpersonen und Schüler mehr zum Thema zu informieren. Das könnte dazu beitragen, dass alle geeignete Strategien zum Umgang mit Schmerzen wählen und die Betroffenen frühzeitig eine geeignete Behandlung erhalten.»
Auch für die Eltern eine grosse Belastung
Yael kam mit 13 Jahren in die Zürcher Schmerzsprechstunde und wurde dort intensiv begleitet. «Am Anfang haben sich die Schmerzen nur wenig gebessert und ich habe mich oft isoliert und hoffnungslos gefühlt», erzählt sie. «Aber mit der Zeit habe ich es geschafft, wieder mehr rauszugehen, etwas mit Freunden zu unternehmen und ins Sommerlager zu fahren. So habe ich wieder mehr Selbstbewusstsein bekommen – und die Schmerzen sind Stück für Stück weniger geworden.»
Auch für die Eltern können die Schmerzen des Kindes sehr belastend sein. Sie sei häufig gereizt, sagt Oona, auf der anderen Seite habe ihre Mutter ihre Krankheit nicht immer vollends verstanden – das habe das Verhältnis zu ihr belastet. Andererseits meint sie, wie auch Melisa und Yael, dass ihre Eltern immer versucht hätten, sie zu unterstützen, und dass sie inzwischen wieder wichtige Vertrauenspersonen seien.
Eltern sollten die Schmerzen nicht in den Mittelpunkt stellen und ihr Kind für aktives Verhalten und für alles, was es geschafft hat, loben.
«Meine Mutter wollte, dass es mir gut geht und dass ich alles machen kann», erzählt Oona. «Sie hat mir Mut gemacht und immer wieder Vorschläge gebracht, was ich noch gegen die Schmerzen probieren könnte.»
Die Eltern können eine grosse Unterstützung bei der Bewältigung der Schmerzen sein. «Allerdings neigen manche Mütter und Väter zu ungünstigem Verhalten, das zwar gut gemeint ist, aber die Schmerzen verstärken kann. Zum Beispiel unterstützen sie Schonverhalten, indem sie ihr Kind in der Schule krankschreiben lassen oder es bei Schmerzen besonders umsorgen», sagt Bergsträsser. Stattdessen sollten Eltern die Schmerzen nicht in den Mittelpunkt stellen und ihr Kind für aktives Verhalten und für alles, was es geschafft hat, loben.
Nach der Therapie oft deutlich weniger beeinträchtigt
Ob Medikamente zur Linderung der Schmerzen eingenommen werden sollten, ist individuell unterschiedlich. «In vielen Fällen helfen sie nicht und können eher schaden. Aber es gibt auch Patienten, die von Schmerzmitteln profitieren», erläutert Bergsträsser. Das kann der Fall sein, wenn eine organische Grunderkrankung wie Rheuma besteht oder wenn die Schmerzen durch das Medikament deutlich zurückgehen.
«Insgesamt sollten Medikamente bei chronischen Schmerzen aber sehr zurückhaltend eingesetzt werden», so die Kinderärztin. «Wenn die Schmerzen sich dadurch nicht oder nur wenig bessern, sollten sie abgesetzt werden.»
Und wie sind die Erfolgsaussichten einer multimodalen Therapie insgesamt? «Das ist natürlich individuell», sagt Prchal. «Manche jungen Kinder sind nach der Therapie komplett schmerzfrei. Bei älteren Kindern und Jugendlichen gehen die Schmerzen oft in Richtung ‹leiser›. Aber wichtig ist auch: Viele haben gute Strategien gelernt, um mit den Schmerzen umzugehen, und sind in ihrem Leben deutlich weniger beeinträchtigt.»
So wie Melisa, Yael und Oona. Yael hat vor einem Jahr die Schule gewechselt und schliesst jetzt ihre Schulausbildung im Ausland ab. «Seitdem habe ich viel erlebt und viel Abwechslung gehabt – und auch die Schmerzen sind deutlich zurückgegangen», sagt sie. Für Oona war wegen der Schmerzen eine Zeit lang nicht klar, ob sie eine normale Matura machen kann. «Jetzt studiere ich Tiermedizin in Zürich und bin sehr froh, dass ich das alles geschafft habe.» Auch Melisa studiert inzwischen: Chemie an der ETH Zürich. «Dort habe ich mit Vorlesungen und Labor viel zu tun und habe gar keine Zeit mehr für die Schmerzen.»
- Chronisch sind Schmerzen dann, wenn sie mindestens drei Monate anhalten oder immer wieder auftreten. Sie können eine körperliche, aber auch keine fassbare körperliche Ursache haben.
- Einer deutschen Studie zufolge haben 31 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren chronische Schmerzen, 8 Prozent haben starke Schmerzen.
- Experten gehen davon aus, dass körperliche, psychische und soziale Aspekte die Schmerzen beeinflussen. Dazu gehören die Bewertung der Schmerzen, Angst oder Belastungen in Schule und Familie.
- Der wirksamste Therapieansatz ist eine interdisziplinäre, multimodale Schmerztherapie. Neben körperlichen werden dabei auch psychische und soziale Faktoren berücksichtigt. Wichtige Aspekte sind Aufklärung über die Schmerzen, Aktivierung und Strategien zum Umgang mit den Schmerzen.