«Mein Kind hat MS»
Multiple Sklerose kann zu schweren Behinderungen führen. Was bedeutet es, wenn das eigene Kind diese Diagnose erhält? Zwei betroffene Familien erzählen.
An Besuche beim Kinderarzt war man in der Familie gewöhnt. «Alina* hatte immer etwas», sagt Monika Baumann*, die Mutter. Das von Zeit zu Zeit aufretende Kopfweh in den frühen Morgenstunden erklärten sich die Ärzte mit dem Heuschnupfen, die Müdigkeit am Mittag mit den Medikamenten gegen Asthma und Neurodermitis.
Als aber das Kopfweh regelmässig wurde und einmal sogar Erbrechen dazukam, sagte sich die Mutter: «Das kann nicht sein.» Auf Anraten einer befreundeten Arztgehilfin liess sie Alinas Augen untersuchen. Alina sah auf dem rechten Auge nur drei Prozent. Diagnose: Sehnerventzündung. Drei Monate und viele Untersuchungen später war klar: Alina, 6 Jahre alt, eben in die erste Klasse eingeschult, hat Multiple Sklerose (MS).
Monika Baumann sitzt auf ihrem Balkon, Alina spielt in ihrem Zimmer mit Legoklötzen. «Die Diagnose war ein Schock», sagt die Mutter. Es hätte ein tolles Jahr werden können für die Familie Baumann: Im Frühling hatte man sich den Traum einer Eigentumswohnung in der Nähe des Sempachersees verwirklicht. Und Alina freute sich auf die Schule, die Mitte August beginnen sollte. Doch die Diagnose veränderte alles. «Die folgenden Monate waren die schlimmsten», sagt die Mutter rückblickend, «das war kein schönes Jahr.»
Krankheit mit 1000 Gesichtern
Bekannt ist, dass die Nervenkrankheit MS unheilbar ist. Und auch, dass sie zu schweren Behinderungen führen kann. Nur wenige hingegen wissen, dass die Krankheit bereits bei Kindern und Jugendlichen auftreten kann. Man geht von 3 bis 5 Prozent pädiatrischer Fälle aus, bei denen die Diagnose vor dem 16. Lebensjahr gestellt wird. Weil sich die Kinder aber oft schnell und vollständig von den ersten Symptomen erholen, wird MS häufig erst viele Jahre später diagnostiziert.
Weniger bekannt ist auch, dass MS-Patienten nicht in jedem Fall ein Leben im Rollstuhl bevorsteht. In vielen Fällen leben Betroffene jahrzehntelang behinderungsfrei. «Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern» wird MS wegen der sehr unterschiedlichen Verläufe auch genannt. Die Krankheit verläuft in Schüben, wobei ein Schub irgendwann auftreten kann – am kommenden Tag, aber auch erst in 20 Jahren. Dies löst bei Betroffenen Angst und Hoffnung gleichzeitig aus. Man rechnet mit dem Schlimmsten. Und hofft doch immer das Beste.
Alinas Sehprobleme waren schnell behoben. Kortison half gegen die Entzündung, eine Brille gegen die anhaltende Sehschwäche. Alinas MS wurde mit «Rebif» therapiert – einem Präparat, das unter die Haut gespritzt wird. Doch nicht nur die dreimal wöchentlichen Prozeduren wurden für Alina zur Tortur.
In den Kontrollen zeigte sich auch, dass sich ihr Leberwert erhöht hatte. Erst reduzierten die Ärzte die Dosierung, dann verschrieben sie ihr ein neues Medikament namens Copaxone. Dieses hatte aber Nebenwirkungen, die zwar unregelmässig, aber gravierend waren. Nach der Einnahme bekam Alina mehrmals Atemnot, manchmal erbrach sie. «Zwei Minuten spritzen, 15 Minuten Panik», umschreibt es die Mutter. Für die Ärzte war das eine unangenehme, aber ungefährliche Reaktion. Für Monika Baumann war sie angsteinflössend. Sie liess die Therapie stoppen.
Obwohl MS nicht heilbar ist, wird die Krankheit mit Medikamenten behandelt. Diese bewirken, dass der Verlauf der Krankheit beziehungsweise der nächste Schub hinausgezögert wird. «Wir wissen, dass wiederkehrende entzündliche Attacken auf das sich noch entwickelnde Gehirn schwere Auswirkungen haben können», sagt Oberärztin Sandra Bigi vom Inselspital Bern, die einzige Kinderneurologin in der Schweiz mit Spezialisierung auf MS bei Kindern und Jugendlichen.
Mit einer Therapie stellt sie jungen MS-Patienten gute Prognosen: «Es ist ein sehr realistisches Ziel, eine normale Jugend zu erleben und ein unabhängiges Leben zu führen.»
Nerven leiten langsamer
Ohne die Spritzen ging es Alina besser. «Sie ging wieder raus, spielte und lachte. Ich dachte: Das ist endlich wieder mein Kind», sagt die Mutter. Doch auch sie weiss, dass auf Dauer kein Weg an der medikamentösen Therapie vorbeiführt. Derzeit informiert sie sich über ein neues Präparat, das einen grossen Vorteil hat: Es wird per Infusion verabreicht und nicht gespritzt. Ob Alinas Immunsystem bei diesem dritten Versuch besser reagieren wird, kann sie allerdings nicht wissen.
Typisch für pädiatrische MS-Patienten sind kognitive Probleme wie Aufmerksamkeits-, Konzentrations- oder Gedächtnisstörungen. Kinderneurologin Sandra Bigi erklärt: «Die Nerven leiten um Bruchteile von Millisekunden langsamer, was zur Folge hat, dass die Betroffenen eine längere Verarbeitungszeit haben.»
Das bedeutet: «Kinder mit MS sind nicht weniger intelligent, aber sie brauchen mehr Zeit, um sich zu organisieren und zu strukturieren.» In solchen Fällen werden Schulanpassungen notwendig – also etwa Nachteilsausgleiche in Form von mehr Zeit oder reduziertem Umfang bei Prüfungen. «Manchmal ist das bei den Schulen schwierig durchzubringen, da Kindern und Jugendlichen mit MS äusserlich häufig nichts anzumerken ist», sagt die Kinderneurologin.
Erzieherischer Balanceakt
Im vergangenen Jahr absolvierte Alina zur Abklärung von allfälligen kognitiven Einschränkungen einen umfassenden Test. Sie schnitt für ihr Alter überdurchschnittlich ab. Doch der Erstklässlerin macht im Schulalltag anderes zu schaffen. Einerseits plagt sie häufig eine grosse Müdigkeit – ein typisches MS-Symptom. Andererseits leidet sie unter Inkontinenz. Aus diesen Gründen entschied sich die Familie dafür, Schule und Lehrer über die Krankheit zu informieren.
Alina durfte in der Folge selber entscheiden, ob ihre Klassenkameraden von der MS erfahren sollten – sie entschied sich dafür. Seither sorgt eine Fachperson für integrierte Förderung dafür, dass Alina nicht ausgelacht wird, wenn sie mal in die Hosen machen sollte.
Nicht nur für die Kinder, auch für die Eltern kann die Diagnose MS eine grosse Herausforderung sein. So in der Erziehung, wenn es ums Ausloten von Über- und Unterforderung sowie von Verständnis und autoritärem Anspruch geht. «Alina sagt mittlerweile bei allem, was sie nicht will, dass sie müde ist», sagt Monika Baumann. Ihr, die an sechs Tagen der Woche bei der Tochter ist, bereite das keine grossen Schwierigkeiten. «Ich sehe Alina an, wenn sie wirklich nicht mehr kann.»
Jugendliche empfinden die Krankheit oft als Rückschritt im Ablösungsprozess.
Sandra Bigi, Neurologin
Ihrem Mann, der einen Tag pro Woche zu Hause bei den Kindern bleibt, falle das aber schwerer. Neben diesem erzieherischen Balanceakt stellt auch der Umgang mit den eigenen Ängsten Eltern vor Schwierigkeiten. «Bin ich ängstlich, überträgt sich das auf das Kind», sagt die Mutter. Also versucht sie, nicht ängstlich zu sein.
Wenn Alina in die Pubertät kommt, stellen sich neue Probleme. Sandra Bigi, die am Inselspital Bern viele betroffene Familien berät, sagt: «Vielen Jugendlichen fällt es schwer, in einer Zeit, in der sie alles andere im Kopf haben, die Krankheit zu akzeptieren, dass sie anders sind als ihre Peers.» Ausserdem würden die Jugendlichen die Krankheit oft als Rückschritt in einem Prozess der Ablösung von den Eltern erleben.
Die Kinderneurologin empfiehlt den betroffenen Familien jeweils eine psychologische Begleitung. Zentral sei, dass die Jugendlichen von sich aus mitmachen, selber in die Verantwortung gezogen werden. «Die Aufgabe der Eltern ist es, sie darin zu bestärken.»
So weit voraus denkt man bei Baumanns noch nicht. «Wir müssen es nehmen, wie es kommt», sagt Alinas Mutter. Wie für jede Mutter sei es ihr Ziel, dass die Kinder eine glückliche Kindheit erleben dürfen. Sorgen bereitet ihr derzeit, dass sich wegen der Krankheit das zweite gemeinsame Kind, der 9-jährige Marco, vernachlässigt fühlen könnte. Über solche Dinge würde sich Monika Baumann gerne mit anderen betroffenen Eltern austauschen. Dieser Wunsch ist wegen der geringen Anzahl an Betroffenen – weniger als 1 Prozent der MS-Diagnosen wird unter 10 Jahren gestellt – gar nicht so einfach zu erfüllen.
«MS? – Was ist das überhaupt?»
Tina Furer, eine junge Frau aus dem Kanton Solothurn, hatte ihren ersten Schub, als sie 12 Jahre alt war. Sie war damals in der sechsten Klasse und auf Abschlussreise in Bern. Mitschüler und Lehrer hätten ihr gesagt, dass sie schiele. «Selber habe ich das gar nicht gemerkt.» Der Kinderarzt diagnostizierte eine Sehnerventzündung, worauf Tina ins Spital überwiesen wurde, wo sie eine Woche blieb.
Nach mehreren Untersuchungen, unter anderem einer Magnetresonanztomografie (MRI) und einer sogenannten Lumbalpunktion – der Entnahme von Nervenwasser aus der Wirbelsäule –, stand die Diagnose fest. Dass sie MS habe, habe sie damals nicht sonderlich bewegt, sagt Tina. «Ich wusste ja gar nicht, was MS ist. Ausserdem hatte ich keine Schmerzen.»
Wann und in welcher Form der neue Schub kommt, ist ungewiss.
Wie Alina erholte sich auch Tina Furer vom unmittelbaren Schub nach der Verabreichung von Kortison innerhalb weniger Monate. Das Medikament, das sie zur Therapie der MS spritzte, vertrug sie gut. Doch nach zwei Jahren brachte ein MRI «versteckte Schübe» zum Vorschein, die Tina gar nicht mitbekommen hatte. Seither erhält sie ein neues Medikament, mit dem sie keine Probleme hatte. Auch die Untersuchungen, die sie zweimal jährlich am Kopf und einmal jährlich am Rückenmark machen lässt, verliefen positiv.
Heute ist Tina Furer 18 Jahre alt und lebt das Leben eines normalen Teenagers. Kognitive Einschränkungen hat sie keine. Im Gegenteil: Sie hat eben das Gymnasium abgeschlossen – mit der Bestnote 6 im Schwerpunktfach Mathematik. Seit sechs Jahren und dem ersten Schub hat sich die MS äusserlich nie mehr bemerkbar gemacht.
An ihre Krankheit erinnert sie nur, dass sie alle vier Wochen ins Berner Inselspital fährt, wo ihr das Medikament zur Therapie intravenös verabreicht wird. «Im Alltag merke ich davon nichts», sagt Tina. Ihre Mutter ergänzt: «Wir gehen davon aus, dass das auch so bleibt.» Und der Vater hofft: «Vielleicht gibt es bald schon ein Medikament, das MS nicht nur stoppt, sondern auch heilt.»
Gelernt, damit zu leben
Tina weiss, dass der nächste Schub ganz bestimmt kommt. Aber sie kann nicht wissen, wann das ist und in welcher Form er auftritt. Niemand weiss, welches der 1000 Gesichter die Krankheit bei ihr zeigen wird. Und wie MS das Leben, das Tina für sich im Kopf hat, beeinträchtigen wird.
«Ich muss es so nehmen, wie es kommt», sagt Tina. «Ich habe gelernt, damit zu leben.» Bald beginnt sie ihr Mathematikstudium mit Nebenfach Informatik. Vielleicht gehe sie vorher noch reisen, sagt sie.
* Namen der Redaktion bekannt.