Multiple Sklerose: Wenn das Kind MS hat
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«Mein Kind hat MS»

Lesedauer: 7 Minuten

Multiple Sklerose kann zu schweren Behinderungen führen. Was bedeutet es, wenn das eigene Kind diese Diagnose erhält? Zwei betroffene Familien erzählen.

Text: Andres Eberhard
Bilder: Gabi Vogt / 13 Photo

An Besuche beim Kin­derarzt war man in der Familie gewöhnt. «Alina* hatte immer etwas», sagt Monika Baumann*, die Mutter. Das von Zeit zu Zeit aufretende Kopfweh in den frühen Morgenstunden erklärten sich die Ärzte mit dem Heuschnup­fen, die Müdigkeit am Mittag mit den Medikamenten gegen Asthma und Neurodermitis.

Als aber das Kopfweh regelmäs­sig wurde und einmal sogar Erbre­chen dazukam, sagte sich die Mutter: «Das kann nicht sein.» Auf Anraten einer befreundeten Arztge­hilfin liess sie Alinas Augen unter­suchen. Alina sah auf dem rechten Auge nur drei Prozent. Diagnose: Sehnerventzündung. Drei Monate und viele Untersuchungen später war klar: Alina, 6 Jahre alt, eben in die erste Klasse eingeschult, hat Multiple Sklerose (MS).

Als Alina 6 Jahre alt war, wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert.
Als Alina 6 Jahre alt war, wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert.

Monika Baumann sitzt auf ihrem Balkon, Alina spielt in ihrem Zim­mer mit Legoklötzen. «Die Dia­gnose war ein Schock», sagt die Mutter. Es hätte ein tolles Jahr werden können für die Familie Baumann: Im Frühling hatte man sich den Traum einer Eigentumswohnung in der Nähe des Sempachersees ver­wirklicht. Und Alina freute sich auf die Schule, die Mitte August begin­nen sollte. Doch die Diagnose ver­änderte alles. «Die folgenden Mona­te waren die schlimmsten», sagt die Mutter rückblickend, «das war kein schönes Jahr.»

Krankheit mit 1000 Gesichtern

Bekannt ist, dass die Nerven­krankheit MS unheilbar ist. Und auch, dass sie zu schweren Behinderungen führen kann. Nur wenige hingegen wissen, dass die Krankheit bereits bei Kindern und Jugendli­chen auftreten kann. Man geht von 3 bis 5 Prozent pädiatrischer Fälle aus, bei denen die Diagnose vor dem 16. Lebensjahr gestellt wird. Weil sich die Kinder aber oft schnell und vollständig von den ersten Sympto­men erholen, wird MS häufig erst viele Jahre später diagnostiziert.

Weniger bekannt ist auch, dass MS­-Patienten nicht in jedem Fall ein Leben im Rollstuhl bevorsteht. In vielen Fällen leben Betroffene jahr­zehntelang behinderungsfrei. «Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern» wird MS wegen der sehr unter­schiedlichen Verläufe auch genannt. Die Krankheit verläuft in Schüben, wobei ein Schub irgendwann auftre­ten kann – am kommenden Tag, aber auch erst in 20 Jahren. Dies löst bei Betroffenen Angst und Hoffnung gleichzeitig aus. Man rechnet mit dem Schlimmsten. Und hofft doch immer das Beste.

Alinas Sehprobleme waren schnell behoben. Kortison half gegen die Entzündung, eine Brille gegen die anhaltende Sehschwäche. Alinas MS wurde mit «Rebif» therapiert – einem Präparat, das unter die Haut gespritzt wird. Doch nicht nur die dreimal wöchentlichen Prozeduren wurden für Alina zur Tortur.

In den Kontrollen zeigte sich auch, dass sich ihr Leberwert erhöht hatte. Erst reduzierten die Ärzte die Dosierung, dann verschrieben sie ihr ein neues Medikament namens Copaxone. Dieses hatte aber Nebenwirkungen, die zwar unregelmässig, aber gravie­rend waren. Nach der Einnahme bekam Alina mehrmals Atemnot, manchmal erbrach sie. «Zwei Minu­ten spritzen, 15 Minuten Panik», umschreibt es die Mutter. Für die Ärzte war das eine unan­genehme, aber ungefährliche Reak­tion. Für Monika Baumann war sie angsteinflössend. Sie liess die Thera­pie stoppen.

Obwohl MS nicht heilbar ist, wird die Krankheit mit Medikamen­ten behandelt. Diese bewirken, dass der Verlauf der Krankheit bezie­hungsweise der nächste Schub hin­ausgezögert wird. «Wir wissen, dass wiederkehrende entzündliche Atta­cken auf das sich noch entwickelnde Gehirn schwere Auswirkungen haben können», sagt Oberärztin Sandra Bigi vom Inselspital Bern, die einzige Kinderneurologin in der Schweiz mit Spezialisierung auf MS bei Kindern und Jugendlichen.

Mit einer Therapie stellt sie jungen MS­-Patienten gute Prognosen: «Es ist ein sehr realistisches Ziel, eine normale Jugend zu erleben und ein unabhän­giges Leben zu führen.»

Nerven leiten langsamer

Ohne die Spritzen ging es Alina besser. «Sie ging wieder raus, spielte und lachte. Ich dachte: Das ist end­lich wieder mein Kind», sagt die Mutter. Doch auch sie weiss, dass auf Dauer kein Weg an der medikamen­tösen Therapie vorbeiführt. Derzeit informiert sie sich über ein neues Präparat, das einen grossen Vorteil hat: Es wird per Infusion verabreicht und nicht gespritzt. Ob Alinas Immunsystem bei diesem dritten Versuch besser reagieren wird, kann sie allerdings nicht wissen.

Typisch für pädiatrische MS-Patienten sind kognitive Probleme wie Aufmerksamkeits-, Konzentrations- oder Gedächtnisstörungen. Kinderneurologin Sandra Bigi erklärt: «Die Nerven leiten um Bruchteile von Millisekunden langsamer, was zur Folge hat, dass die Betroffenen eine längere Verarbeitungszeit haben.»

Sowohl  für die Kinder als auch die Eltern kann die Diagnose eine grosse Herausforderung sein.
Sowohl für die Kinder als auch die Eltern kann die Diagnose eine grosse Herausforderung sein.

Das bedeutet: «Kinder mit MS sind nicht weniger intelligent, aber sie brauchen mehr Zeit, um sich zu organisieren und zu strukturieren.» In solchen Fällen werden Schulanpassungen notwendig – also etwa Nachteilsausgleiche in Form von mehr Zeit oder reduziertem Umfang bei Prüfungen. «Manchmal ist das bei den Schulen schwierig durchzubringen, da Kindern und Jugendlichen mit MS äusserlich häufig nichts anzumerken ist», sagt die Kinderneurologin.

Erzieherischer Balanceakt

Im vergangenen Jahr absolvierte Alina zur Abklärung von allfälligen kognitiven Einschränkungen einen umfassenden Test. Sie schnitt für ihr Alter überdurchschnittlich ab. Doch der Erstklässlerin macht im Schulalltag anderes zu schaffen. Einerseits plagt sie häufig eine grosse Müdigkeit – ein typisches MS-Symptom. Andererseits leidet sie unter Inkontinenz. Aus diesen Gründen entschied sich die Familie dafür, Schule und Lehrer über die Krankheit zu informieren.

Multiple Sklerose Alina
Zurzeit geht es Alina gut und sie verbringt gerne viel Zeit draussen.

Alina durfte in der Folge selber entscheiden, ob ihre Klassenkameraden von der MS erfahren sollten – sie entschied sich dafür. Seither sorgt eine Fachperson für integrierte Förderung dafür, dass Alina nicht ausgelacht wird, wenn sie mal in die Hosen machen sollte.
 
Nicht nur für die Kinder, auch für die Eltern kann die Diagnose MS eine grosse Herausforderung sein. So in der Erziehung, wenn es ums Ausloten von Über- und Unterforderung sowie von Verständnis und autoritärem Anspruch geht. «Alina sagt mittlerweile bei allem, was sie nicht will, dass sie müde ist», sagt Monika Baumann. Ihr, die an sechs Tagen der Woche bei der Tochter ist, bereite das keine grossen Schwierigkeiten. «Ich sehe Alina an, wenn sie wirklich nicht mehr kann.»

Jugendliche empfinden die Krankheit oft als Rückschritt im Ablösungsprozess.

Sandra Bigi, Neurologin

Ihrem Mann, der einen Tag pro Woche zu Hause bei den Kindern bleibt, falle das aber schwerer. Neben diesem erzieherischen Balanceakt stellt auch der Umgang mit den eigenen Ängsten Eltern vor Schwierigkeiten. «Bin ich ängstlich, überträgt sich das auf das Kind», sagt die Mutter. Also versucht sie, nicht ängstlich zu sein.

Wenn Alina in die Pubertät kommt, stellen sich neue Probleme. Sandra Bigi, die am Inselspital Bern viele betroffene Familien berät, sagt: «Vielen Jugendlichen fällt es schwer, in einer Zeit, in der sie alles andere im Kopf haben, die Krankheit zu akzeptieren, dass sie anders sind als ihre Peers.» Ausser­dem würden die Jugendlichen die Krankheit oft als Rückschritt in einem Prozess der Ablösung von den Eltern erleben.

Die Kinder­neurologin empfiehlt den betroffenen Familien jeweils eine psychologische Begleitung. Zentral sei, dass die Jugendlichen von sich aus mit­machen, selber in die Verantwor­tung gezogen werden. «Die Aufgabe der Eltern ist es, sie darin zu be­stärken.»

So weit voraus denkt man bei Baumanns noch nicht. «Wir müssen es nehmen, wie es kommt», sagt Ali­nas Mutter. Wie für jede Mutter sei es ihr Ziel, dass die Kinder eine glückliche Kindheit erleben dürfen. Sorgen bereitet ihr derzeit, dass sich wegen der Krankheit das zweite gemeinsame Kind, der 9-­jährige Marco, vernachlässigt fühlen könn­te. Über solche Dinge würde sich Monika Baumann gerne mit ande­ren betroffenen Eltern austauschen. Dieser Wunsch ist wegen der gerin­gen Anzahl an Betroffenen – weni­ger als 1 Prozent der MS-Diagnosen wird unter 10 Jahren gestellt – gar nicht so einfach zu erfüllen.

«MS? – Was ist das überhaupt?»

Tina Furer, eine junge Frau aus dem Kanton Solothurn, hatte ihren ersten Schub, als sie 12 Jahre alt war. Sie war damals in der sechsten Klasse und auf Abschlussreise in Bern. Mitschü­ler und Lehrer hätten ihr gesagt, dass sie schiele. «Selber habe ich das gar nicht gemerkt.» Der Kinderarzt diagnostizierte eine Sehnerventzün­dung, worauf Tina ins Spital über­wiesen wurde, wo sie eine Woche blieb.

Nach mehreren Untersuchungen, unter anderem einer Magnetre­sonanztomografie (MRI) und einer sogenannten Lumbalpunktion – der Entnahme von Nervenwasser aus der Wirbelsäule –, stand die Dia­gnose fest. Dass sie MS habe, habe sie damals nicht sonderlich bewegt, sagt Tina. «Ich wusste ja gar nicht, was MS ist. Ausserdem hatte ich kei­ne Schmerzen.»

Wann und in welcher Form der neue Schub kommt, ist ungewiss.

Wie Alina erholte sich auch Tina Furer vom unmittelbaren Schub nach der Verabreichung von Kortison innerhalb weniger Monate. Das Medikament, das sie zur Therapie der MS spritzte, vertrug sie gut. Doch nach zwei Jahren brachte ein MRI «versteckte Schübe» zum Vor­schein, die Tina gar nicht mitbe­kommen hatte. Seither erhält sie ein neues Medikament, mit dem sie keine Probleme hatte. Auch die Untersuchungen, die sie zweimal jährlich am Kopf und einmal jähr­lich am Rückenmark machen lässt, verliefen positiv.

Das Ziel von Alinas Mama ist es, ihr eine möglichst schöne Kindheit zu ermöglichen.
Das Ziel von Alinas Mama ist es, ihr eine möglichst schöne Kindheit zu ermöglichen.

Heute ist Tina Furer 18 Jahre alt und lebt das Leben eines normalen Teenagers. Kognitive Einschränkun­gen hat sie keine. Im Gegenteil: Sie hat eben das Gymnasium abge­schlossen – mit der Bestnote 6 im Schwerpunktfach Mathematik. Seit sechs Jahren und dem ersten Schub hat sich die MS äusserlich nie mehr bemerkbar gemacht.

An ihre Krank­heit erinnert sie nur, dass sie alle vier Wochen ins Berner Inselspital fährt, wo ihr das Medikament zur Thera­pie intravenös verabreicht wird. «Im Alltag merke ich davon nichts», sagt Tina. Ihre Mutter ergänzt: «Wir gehen davon aus, dass das auch so bleibt.» Und der Vater hofft: «Viel­leicht gibt es bald schon ein Medi­kament, das MS nicht nur stoppt, sondern auch heilt.»

Gelernt, damit zu leben

Tina weiss, dass der nächste Schub ganz bestimmt kommt. Aber sie kann nicht wissen, wann das ist und in welcher Form er auftritt. Nie­mand weiss, welches der 1000 Gesichter die Krankheit bei ihr zeigen wird. Und wie MS das Leben, das Tina für sich im Kopf hat, beeinträchtigen wird.

«Ich muss es so nehmen, wie es kommt», sagt Tina. «Ich habe gelernt, damit zu leben.» Bald beginnt sie ihr Mathe­matikstudium mit Nebenfach Informatik. Vielleicht gehe sie vorher noch reisen, sagt sie.

 * Namen der Redaktion bekannt.

Andres Eberhard
ist freischaffender Journalist und lebt mit seiner Familie in Zürich.

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