Schonende Hilfe für schmerzende Ohren
Es gibt wohl kaum Eltern, die sie nicht kennen: die Mittelohrentzündung. Da sie sehr schmerzhaft ist, wurden früher rasch Antibiotika verschrieben. Heute warten Mediziner ab. Was Eltern tun können und wann der Gang zur Kinderärztin unumgänglich ist.
Weinend wacht Silvan auf. «Mein Ohr tut weh», erklärt der Siebenjährige seinem Vater, der mitten in der Nacht an dessen Bett geeilt ist. Silvan glüht, er hat fast 39 Grad Fieber. Sein Vater macht Silvan einen Ohrwickel und gibt ihm ein Schmerzmittel, damit er wieder schlafen kann. Am nächsten Morgen klagt Silvan noch immer über Ohrenschmerzen und das Fieber hält an, weshalb sein Vater in der Kinderarztpraxis anruft.
«Behandeln Sie die Schmerzen 48 Stunden lang mit einem entzündungshemmenden Schmerzmittel», rät die medizinische Praxisassistentin. «Sollte Silvan dann immer noch Ohrenschmerzen haben, kommen Sie vorbei.» Silvans Vater ist überrascht. Wer eine Mittelohrentzündung habe, müsse Antibiotika nehmen, dachte er. Denn so kennt er es aus seiner eigenen Kindheit. Doch das ist heute nicht mehr so, wie aus den Empfehlungen von Pädiatrie Schweiz hervorgeht.
«Die meisten nationalen Empfehlungen in Europa raten bezüglich Antibiotikaverschreibung bei einer akuten Mittelohrentzündung zu einer abwartenden Haltung», heisst es auf der Website der professionellen Organisation der Kinderärztinnen und Kinderärzte in der Schweiz.
Eine Mittelohrentzündung ist eine bakterielle Entzündung
Doch von Anfang an. Eine akute Mittelohrentzündung oder eine Otitis media, wie sie in der Fachsprache heisst, ist eine virale oder bakterielle Entzündung des Mittelohres und tritt meistens in Zusammenhang mit einer Infektion der oberen Atemwege auf. Das Mittelohr liegt zwischen dem Trommelfell und dem Innenohr. Es ist luftgefüllt und enthält die drei Knöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel. Über die Eustachische Röhre – auch Ohrtrompete genannt – ist das Mittelohr mit dem Nasenrachenraum verbunden.
Viele Mittelohrentzündungen heilen von alleine ab. Früher wurden schneller Antibiotika verschrieben.
Alexandra Jäggi, Kinderärztin
Leidet ein Kind unter einem Schnupfen oder einer anderen Entzündung der Schleimhäute, schwillt die Ohrtrompete zu. Sammelt sich nun Flüssigkeit im Mittelohr an, kann diese nicht mehr abfliessen. Wandern dann Viren oder Bakterien, die im Nasenrachenraum vorhanden sind, ins Mittelohr, entsteht eine Mittelohrentzündung. Für Kinderärztinnen und -ärzte sichtbar wird dies durch das vorgewölbte, weissliche oder gelbliche Trommelfell, weil das Mittelohr mit Eiter gefüllt ist.
Wird dort der Druck zu gross, platzt das Trommelfell und der Eiter läuft aus dem Ohr hinaus. Dann spricht man von einer perforierten Mittelohrentzündung. Die Verletzung des Trommelfells verursacht in der Regel keine Beschwerden und heilt von alleine wieder ab. Die Mittelohrentzündung an sich ist nicht ansteckend, der vorausgegangene Atemwegsinfekt hingegen schon.
Verkürzte Ohrtrompete
Es gibt wohl wenige Eltern, die noch nie eine Mittelohrentzündung erlebt haben, ist sie doch einer der häufigsten Gründe für das Aufsuchen der Kinderarztpraxis im Kleinkindalter. Die Otitis media tritt denn auch vermehrt in den ersten drei Lebensjahren auf, es können aber auch immer wieder ältere Kinder oder sogar Erwachsene davon betroffen sein.
Die Häufung im Kleinkindalter hat zwei Gründe. Zum einen ist die Ohrtrompete bei kleinen Kindern kürzer und verläuft horizontaler als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Die Erreger aus dem Nasenrachenraum haben es so leichter, ins Mittelohr aufzusteigen. Zum andern leiden Kleinkinder häufiger an Atemwegsinfekten, da ihr Immunsystem noch nicht ausgereift ist. Bemerkbar macht sich eine Mittelohrentzündung in der Regel mit Ohrenschmerzen, Druck auf den Ohren oder Ohrgeräuschen. Oftmals kommen Fieber und eine Hörminderung hinzu, manchmal auch Kopfschmerzen.
Korrekte Diagnose ist wichtig
«Heute wissen wir, dass viele Mittelohrentzündungen von alleine abheilen. Früher wurden schneller Antibiotika verschrieben», erklärt Alexandra Jäggi, Kinderärztin in Freiburg. Dennoch sei es sehr wichtig, eine korrekte Diagnose zu stellen. Einerseits, um eine unnötige Verschreibung von Antibiotika zu vermeiden, andererseits, um keine Komplikation zu verpassen.
Komplikationen treten heute dank der angemessenen Therapie nur sehr selten auf.
Alexandra Jäggi, Kinderärztin
Dazu gehört zum Beispiel die Mastoiditis, die Ausbreitung der Entzündung in einen Teil des Schädelknochens, der hinter dem Ohr liegt. Eine weitere gefürchtete Folgeerkrankung ist die Ausbreitung der Infektion ins Schädel innere, was lebensbedrohlich werden kann. «Schwerwiegende Komplikationen treten heute dank der angemessenen Therapie allerdings nur sehr selten auf», weiss Alexandra Jäggi.
Ein anderer Grund, weshalb früher schneller Antibiotika verschrieben wurden, war die Annahme, dass damit die Schmerzen gelindert würden. Heute ist allerdings bekannt, dass Antibiotika nicht in allen Fällen einen Einfluss auf die Schmerzen haben. Wer als Erwachsener schon einmal eine Otitis media hatte, weiss, wie schmerzhaft eine solche ist. Die Schmerzlinderung und die Entzündungshemmung stehen deshalb im Zentrum der Behandlung.
Die Nachteile von Antibiotika
Der Einsatz von Antibiotika hat zwei grosse Nachteile, weshalb die Pädiaterinnen beziehungsweise Pädiater diese heute zurückhaltender verschreiben. Zum einen kommt es zu einer Resistenzentwicklung der Bakterien. Eine nachfolgende Infektion mit solchen Bakterien zu bekämpfen, ist schwieriger. Zum andern töten die Antibiotika auch die guten Bakterien im Darm ab, was zu Durchfall, Erbrechen oder Bauchschmerzen führen kann. Und: «Die Darmflora kann mehrere Monate gestört bleiben», erklärt Alexandra Jäggi.
Um die Darmflora wieder aufzubauen, empfiehlt Katharina Kolb, Pro- und Präbiotika einzunehmen – auch schon während des Einsatzes von Antibiotika. Die Naturheilpraktikerin aus Schaffhausen erklärt: «Probiotika enthalten lebende Mikroorganismen, die unseren Darm besiedeln. Präbiotika helfen, diese guten Bakterien zu ernähren.» Aus schulmedizinischer Sicht ist der Nutzen dieser Nahrungsergänzungsmittel noch nicht abschliessend geklärt. «Nützen sie nichts, so schaden sie sicher nichts», meint Alexandra Jäggi.
Hilfreiche Hausmittel
Silvan liegt mittlerweile mit einem Ohrwickel auf dem Sofa. Für Katharina Kolb sind Zwiebelwickel bei Ohrenschmerzen das Mittel erster Wahl, da die Zwiebel entzündungshemmend wirkt. Eine ebensolche Wirkung hat die Muttermilch, die – falls vorhanden – auch älteren Kindern direkt ins Ohr geträufelt werden kann. Auch das Trinken von Kräutertees oder das Inhalieren sind Hausmittel, die bei der Heilung einer Mittelohrentzündung helfen können.
Mit einfachen Hausmitteln lässt sich oft Schlimmeres verhindern.
«Die Naturheilpraktik ist für mich immer die erste Wahl. Diese regt den Körper zur Selbstheilung an», erklärt Katharina Kolb. Mit einfachen Hausmitteln lasse sich oft Schlimmeres verhindern. Doch sie sagt auch: «Wenn nach 48 Stunden keine Besserung eintritt, wenn beide Ohren betroffen sind oder wenn Sekret aus dem Ohr läuft und es dem Kind sichtlich schlecht geht, ist die Schulmedizin gefragt.»
Silvan geht es nach zwei Tagen deutlich besser. Die Schmerzen und das Fieber sind fast weg, doch er hört noch nicht so gut. «Hält die Hörminderung länger als einige Tage an, ist ein Besuch in der Kinderarztpraxis nötig», sagt Alexandra Jäggi. Dann könnte es sich um einen sogenannten Paukenerguss handeln. Dabei sammelt sich Flüssigkeit im Mittelohr an, die nicht abfliessen kann, weil die Ohrtrompete verstopft ist.
Auftreten eines Paukenergusses: entsteht oft bei Mittelohrentzündung
Ein Paukenerguss entsteht öfter bei Kindern, die wiederholt an akuten Mittelohrentzündungen leiden. Von sogenannten rezidivierenden Mittelohrentzündungen sprechen die Ärztinnen und Ärzte, wenn ein Kind mindestens dreimal in sechs Monaten oder viermal in einem Jahr daran erkrankt. In einem solchen Fall ist das Aufsuchen eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes angezeigt. Bei einem Paukenerguss kommen in einem ersten Schritt in der Regel cortisonhaltige Nasensprays zum Einsatz. Als weitere Möglichkeit gilt das Absaugen der Flüssigkeit durch das Trommelfell mit einer feinen Nadel. Die letzten Optionen sind das Einlegen von Paukenröhrchen, die das Ohr belüften, oder das Entfernen der Rachenmandeln, falls diese vergrössert sind.
Zigarettenrauch reizt die Schleimhäute der Kinder, weshalb sie anfälliger für Infekte werden.
Alexandra Jäggi
Manche Eltern kennen es: Während das eine Kind immer wieder Mittelohrentzündungen entwickelt, hat es das andere noch nie erwischt. Tatsächlich sind gewisse Kinder anfälliger dafür. Weshalb das so ist, ist unklar. Fest steht, dass eine Veranlagung dazu vererbt werden kann. Neben den genetischen Faktoren gibt es weitere, die das Risiko einer Mittelohrentzündung erhöhen. Dazu gehört zum Beispiel das Passivrauchen. «Der Rauch reizt die Schleimhäute der Kinder, weshalb sie anfälliger für Infekte werden», sagt Kinderärztin Jäggi. Des Weiteren sind Kinder, die eine Kita besuchen, häufiger von Mittelohrentzündungen betroffen, weil sie auch mehr Atemwegsinfekte durchmachen.
Vorbeugende Massnahmen gegen Ohrenschmerzen
Was können Eltern also tun, um Mittelohrentzündungen zu verhindern? Wer in den eigenen vier Wänden raucht, sollte darauf verzichten. Eine weitere Massnahme ist die Pneumokokken-Impfung. Bevor diese aufkam, waren Pneumokokken die häufigsten Verursacher von bakteriellen Mittelohrentzündungen. Seit es die Impfung gibt, hat die Anzahl an Mittelohrentzündungen abgenommen.
Wer ein Kind zu Hause hat, das anfällig auf Otitis media ist, tut gut daran, gleich bei den ersten Anzeichen eines Schnupfens zu reagieren. Wichtig ist, dass die Nase möglichst frei ist, damit die Ohrtrompete nicht zuschwillt. Dabei helfen Nasensprays oder -tropfen sowie andere Hausmittel mit Zwiebeln, Inhalieren oder alternativmedizinische Heilmittel wie Schüsslersalze.
Bei Silvan sind nach einigen Tagen alle Symptome abgeklungen. Er hört auch wieder gut – wenn er denn will. Darf er nun wieder tauchen und in die Berge? «Ja», sagt Alexandra Jäggi, «auf das Tauchen müssen Kinder nur dann verzichten, wenn das Trommelfell geplatzt ist.» Ansonsten sei es nur problematisch, wenn die Kinder sehr tief hinuntertauchen würden, was in der Regel nicht der Fall sei. «Beim Fliegen und In-die-Berge-Fahren sollten Eltern beachten, dass Kinder während oder nach einer Mittelohrentzündung den Druckausgleich oft nicht gleich gut machen können und dies für sie schmerzhaft sein kann.»
Die Schulmedizin empfiehlt:
- Gabe von Schmerzmitteln mit den Wirkstoffen Ibuprofen oder Paracetamol. Da Ibuprofen entzündungshemmend wirkt, wird es oft vorgezogen. Für die Schmerzlinderung gibt es bei der Wirkung jedoch keine Unterschiede.
- Abschwellende Nasentropfen oder -sprays.
- Nasenspülung beispielsweise mit einer Nasendusche.
Die Alternativmedizin empfiehlt:
- Ohrwickel mit Zwiebeln: Zwiebelscheiben auf einem umgedrehten Pfannendeckel erwärmen (wenig Wasser in die Pfanne geben) und in ein Tuch wickeln. Das Tuch mit einer Mütze oder einem Stirnband auf dem Ohr fixieren.
- Aufgeschnittene Zwiebel nachts in einem Säckchen über das Bett hängen oder neben das Bett stellen, damit das Kind besser durch die Nase atmen kann.
- Muttermilch direkt ins Ohr träufeln (auch bei Kindern, die nicht mehr gestillt werden).
- Viel Wasser oder Kräutertee trinken.
- Inhalieren mit heissem Wasserdampf und Meersalz oder Kräuterzusätzen. Achtung vor Verbrühungen. Ungefährliches Inhalieren klappt mit einem Inhalationsgerät.
- Nasentropfen oder Nasensprays mit Kochsalzlösung.
- Schüsslersalze in Schmelztablettenform oder als Dilution (flüssige Form): Nummer 3 oder nach individueller Beratung in einer Naturheilpraxis oder in der Apotheke.
- Gemmo-Sprays oder Spagyrik-Sprays: nach individueller Beratung in einer Naturheilpraxis oder in der Apotheke.
- Einnahme von Prä- und Probiotika nach dem Einsatz von Antibiotika.
Naturheilpraktikerinnen und -praktiker lassen sich bei der Naturärzte-Vereinigung Schweiz finden:
www.nvs.swiss/suchverzeichnisse