Stress belastet die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lernenden
Nicht nur Schülerinnen und Schüler sind gestresst, auch die Lehrpersonen stehen unter Druck. Darunter leidet das Verhältnis zwischen Lernenden und ihrer Lehrperson – eigentlich ein wichtiger Schutzfaktor gegen Stress.
Ziemlich angespannt betritt die Primarlehrerin an diesem Montagmorgen das Klassenzimmer. Sie weiss: Heute wird es anstrengend. Sie muss eine erkrankte Kollegin vertreten. Ausserdem hat es das ganze Wochenende geregnet. Das heisst, viele Kinder haben viel Zeit am Handy oder vor dem Fernseher verbracht, statt sich draussen zu bewegen. Die Unruhe ist grösser als sonst. Das stresst sie und die Schülerinnen und Schüler.
Diese Situation schildert die Lehrerin an einem Elternabend. Aber auch die anwesenden Eltern haben zu klagen – und zwar, wie sehr der Schulbesuch ihre Kinder belaste. Manche schlafen schlecht, andere weinen bei den Hausaufgaben, wieder andere kommen ziemlich gereizt von der Schule nach Hause.
Ein Drittel der Lehrpersonen bezeichnet sich als stark belastet bis überlastet.
Alle sind sich einig: So soll das eigentlich nicht sein. Die Kinder sollen gern zur Schule gehen und nicht schon dort Stress erleben, der sie krank macht. Kann man sich von Stress nicht ausreichend erholen, kann das zu Bauchschmerzen, Schlafproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten, sozialem Rückzug oder depressiven Verstimmungen führen.
Belastungen nehmen zu
Und genau das ist inzwischen häufig der Fall: Schule und Stress gehören für viele Lehrer, Schülerinnen und Eltern zusammen. Die Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich führen alle fünf Jahre eine Gesundheitsbefragung unter Jugendlichen durch, die im Durchschnitt 14 Jahre alt sind. Bei der neuesten Befragung aus dem Jahr 2022 gaben nur noch 6 Prozent der Mädchen sowie 14 Prozent der Jungs an, dass sie sich durch die Schule nicht gestresst fühlen, der Rest erlebt eine gestiegene Belastung.
Über die Hälfte der Mädchen sagte, dass sie Prüfungen, Druck in der Schule und Noten stark belasten würden, auch die Berufswahl und die Stellensuche sorgen bei 39 Prozent für Stress. Jungs fühlen sich durch diese Dinge in der Schule ebenso belastet, wenn auch nicht ganz so stark. Das macht sich auch körperlich bemerkbar: Je ein Drittel der befragten Schülerinnen und Schüler verspürt mindestens einmal in der Woche Kopf- oder Bauchschmerzen. 30 Prozent der Mädchen haben Anzeichen für eine Angststörung.
Die Anspannung ihrer Kinder entgeht auch den Eltern nicht. Im Jahr 2022 liess die Stiftung Mercator Schweiz für die Studie «Welche Schule will die Schweiz?» rund 2500 Eltern schulpflichtiger Kinder befragen. 35 Prozent gaben an, die eigenen Kinder wegen der Schule häufig gestresst zu erleben, insbesondere wegen Bewertungs- und Prüfungssituationen, der Hausaufgaben, aber auch wegen des frühen Schulbeginns am Morgen, wegen bevorstehender Niveau- oder Schulstufenwechsel sowie wegen Konflikten mit Mitschülern.
Kein Vertrauen in die Lehrperson
Und dann sind da noch die Lehrpersonen, von denen sich auch rund ein Drittel als stark belastet bis überlastet bezeichnet, wie eine sechs Jahre dauernde Studie der Pädagogischen Hochschule Bern zum Thema Stress bei Lehrern zeigte. Betreut wurde sie von Erziehungswissenschaftler Alexander Wettstein. Für ihn ist klar: Gesunde Lehrpersonen sind entscheidend für eine gute Unterrichtsqualität und eine gute Entwicklung der Kinder.
Mehr gut ausgebildete Lehrpersonen würden das System entlasten und damit den Stress reduzieren.
Alexander Wettstein, Erziehungswissenschaftler
Denn eine der wichtigsten Aufgaben von Lehrpersonen ist die Beziehungsarbeit. Ist das Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern vertrauensvoll und wertschätzend, bildet es einen wichtigen Schutzfaktor gegen Stress.
«Nun ist diese Beziehungsarbeit aber etwas sehr Anstrengendes und Zeitintensives. Das kann nur leisten, wer selbst Kapazitäten frei hat», sagt Alexander Wettstein. Und genau das sei heute bei vielen Lehrpersonen nicht mehr gegeben. Etwa, weil sie wegen des Personalmangels nebenher noch ungelernte Quereinsteiger einarbeiten müssten. «Mehr gut ausgebildete Lehrpersonen würden das System auf jeden Fall entlasten und damit auch den Druck und Stress reduzieren, den heute viele Schülerinnen und Schüler empfinden», so Wettstein.
Wie diese auf ihre gestressten Lehrpersonen reagieren, zeigt die aktuelle Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich. Dort gab nur noch die Hälfte der befragten Mädchen an, viel Vertrauen in ihre Lehrperson zu haben. Ein Drittel hat das Gefühl, dass sich ihre Lehrerinnen und Lehrer nicht für sie interessieren. Auch hier fallen die Urteile der Jungs etwas positiver aus, haben im Vergleich zu den Vorjahren aber auch abgenommen.
Die Eltern sind in der Pflicht
Nun die ganze Schuld am Stress der Lernenden den Lehrpersonen und dem Schulsystem in die Schuhe zu schieben, hält Alexander Wettstein jedoch für zu kurz gegriffen. Auch die Eltern könnten sehr viel dazu beitragen, den Stress an Schulen zu reduzieren: indem sie ihre Kinder ausgeschlafen und mit vollem Bauch zur Schule schicken, für ausreichend Bewegung und begrenzte Medienzeiten sorgen und für Freizeit, die nicht voll durchgetaktet ist.
Wenn Kinder wissen, dass die Eltern für sie da sind und ein offenes Ohr für ihre Sorgen haben, kann dies bereits sehr entlastend wirken.
Simone Schoch, Pädagogin
Die Verantwortung der Eltern für das Wohlbefinden ihrer Kinder betont auch Simone Schoch von der Pädagogischen Hochschule Zürich. «Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder nicht mit zusätzlichem Leistungsdruck belasten», so Schoch. Stärken würde man die Kinder vielmehr dadurch, dass man sie emotional unterstütze, unabhängig von bestimmten Erfolgen.
«Beispielsweise indem man ihre Situation ernst nimmt, ihnen zuhört oder gemeinsam nach Lösungen sucht. Wenn Kinder wissen, dass die Eltern für sie da sind und immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen haben, kann dies bereits sehr entlastend wirken», sagt Simone Schoch.
Diese Übergänge brauchen viel Unterstützung
Zu welchem Zeitpunkt in der Schullaufbahn diese Unterstützung besonders wichtig ist, zeigt eine Studie von Pro Juventute, der Stiftung für Kinder- und Jugendförderung. «Wir beobachten deutlich ansteigende Stresswerte, wenn der Schulwechsel in Klasse 5 und 6 ein Thema wird und später bei der Berufswahl ab etwa 15 Jahren», sagt Lulzana Musliu von Pro Juventute. So würden sich dann auch sehr viel mehr Schülerinnen und Schüler beim Beratungsangebot 147 melden.
«Das zeigt, dass sie in diesem Alter auch mehr Hilfe durch Eltern und Lehrpersonen brauchen», sagt Lulzana Musliu. Sie erlebt die heutige Elterngeneration als eine, die sich meist sehr bewusst für ihre Kinder entschieden hat – und deshalb oft nur das vermeintlich Beste für den Nachwuchs will, wie etwa Bestnoten. «Das Kind soll beispielsweise möglichst aufs Gymnasium. Dabei wird oft vergessen, dass auch ein durchschnittlich leistungsstarkes Kind sehr glücklich sein kann», findet Lulzana Musliu. Vor allem, wenn ein solches Leben weniger Stress bedeute.
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.