Wie viele Hobbys braucht ein Kindergartenkind?
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Wie viele Hobbys braucht ein Kindergartenkind?

Lesedauer: 6 Minuten

Täglich Kindergarten, dazu Hort und Hobbys: Wochenpläne von Kindergartenkindern sind oft eng durchgetaktet. Wie sinnvoll sind Freizeitaktivitäten?

Text: Claudia Landolt
Bild: Carla Kogelman

Clara ist fünf Jahre alt. Sie geht gerne in den Kindergarten, am liebsten malt sie, bastelt und tobt auf dem Spielplatz herum. Am Samstagmorgen besucht sie einen Schwimmkurs und am freien Mittwochnachmittag eine Kinderturnstunde, die ihre Kindergartenlehrperson leitet. Ihre Freundin Ella geht jeweils montags ins Kinder­ballett und möchte Geige spielen lernen.

Tennis interessiert sie ebenfalls, denn ihr Bruder spielt es und sie kennt das Clubgebäude bereits. Auch die Pfadi reizt sie. Und erst Reiten! Clara erzählt ihren Eltern, dass Ella so gern ins Ballett gehe. «Ich will auch!», ruft sie. «Mit Ella!» Die Eltern fragen sich: Muss das jetzt sein? Clara ist doch erst fünf.

Hobbys im Kindergartenalter sind zwar kein Muss, aber fest institutionalisiert. Ballettkurse ab drei oder vier Jahren, Geräteturnen, Fussball- oder Hockeytraining, Kletterkurse, Tanzkurse, Judo, Malkurse, Trommelkurse, Schwimm­unterricht – das Angebot ist riesig. Die einen nennen es Hobby, die anderen Frühförderung.

Das freie Spiel ist die ­beste Frühförderung.

Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin

Basis für späteren Erfolg?

Die frühkindliche Förderung ist in den letzten Jahren zu einem Lieblingsthema der Neurobiologie, der Entwicklungspsychologie, der Erziehungswissenschaft und sogar der Politik geworden. «Frühe Bildung» ist ein gesellschaftlich anerkannter Wert. Dies vor allem aus einem Grund: Frühförderung sei der späteren Schulkarriere dienlich, da ist sich die Wissenschaft einig.

Überspitzt formuliert lautet die Botschaft: Die Basis dafür, ob ein Kind später studiert oder arbeitslos wird, wird in den ersten vier bis sechs Jahren gelegt. Jenen, die in ihrer Entwicklung benachteiligt, gefährdet oder aus einem bildungsfernen Elternhaus sind, gilt ein besonderes Augenmerk: Sie dürfen keinesfalls den Anschluss verpassen, noch bevor sie im Kindergarten sind. Der US-amerikanische Wirtschafts­nobelpreisträger James Heckman nennt es so: «Catch ’em young» («Fangt sie früh auf»). 

Doch leider haben bildungsferne Familien oft nicht die nötigen Ressourcen, um ihren Kindern ein Hobby zu finanzieren. Andere Familien wiederum sind sehr bemüht, ihrem Kind die bestmög­liche Freizeitbeschäftigung und Ausbildung zu bieten. Nicht nur, weil sie gelesen haben, dass Musikunterricht die mathematische Intelligenz fördert und Sport einen ­Ausgleich für den Schulalltag bildet. Sie möchten ihrem Kind auch neue soziale Kontakte ermöglichen und schlicht und einfach die bestmög­liche Erziehung bieten.

Das Hobby als Statussymbol

So gehört es fast zum guten Ton, Mädchen in den Geigenunterricht und ins Ballett und Buben ins Fussballtraining und in den Klavierunterricht zu schicken. «Sagen zu können, ‹unser Kind geht ins Ballett›, ist eine Art Statussymbol geworden. Weil es als Beweis gilt, dass die Eltern gute Arbeit leisten», erklärt Margrit Stamm.

Die Erziehungswissenschaftlerin wird nicht müde, Eltern zu empfehlen, ihren Kindern mehr Raum zu lassen. Stamm ist eine vehemente Verfechterin des freien Spiels. Unter normalen Umständen brauche ein Kind keine speziellen Kurse, sagt sie. «Das freie Spiel ist die ­beste Frühförderung. Ausflüge in den Wald und andere Aktivitäten, die alle Sinne anregen, reichen völlig aus», so ­Margrit Stamm.

Der Einfluss von Förderangeboten wird überschätzt.

Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin

In der Tat übertreiben es manche Eltern mit dem Freizeitangebot. Ellas Wochenplan gleicht einer vollgepackten Agenda. Nicht alle Kinder können gleich gut damit umgehen. So zeigte etwa eine Studie der ­Universität Bielefeld aus dem Jahr 2015, dass jedes sechste Kind in Deutschland deutliche Symp­tome von Stress hat.

Familie ist die wichtigste Fördermaschine

Der Hauptgrund für diesen Stress ist die Angst, die Erwartung der Eltern nicht zu erfüllen. Der zweite Grund: Über 80 Prozent der gestressten Kinder müssen Termine wahrnehmen, die ihnen keinen Spass machen. 61,4 Prozent der Kinder mit hohem Stresspegel wünschen sich genau dafür mehr Zeit: für Dinge, die ihnen Freude machen. 87 Prozent der Eltern glauben indes nicht, dass sie ihre Kinder überfordern. 50 Prozent meinen sogar, ihre Kinder nicht genug zu fördern. 

Förderangebote seien gut, meint Stamm, ihr Einfluss werde aber überschätzt. Dieser sei weit weniger gross als derjenige der Familie. «Die Familie selbst ist die wichtigste Fördermaschine», erklärt Margrit Stamm. Kein Kursangebot könne sie ersetzen. Die Familie hat den mit Abstand grössten Anteil daran, mit welchem Rucksack ein Kind seine Schullaufbahn startet. Ihr Einfluss sei «überragend», sagt Stamm. ­

Frühe Bildungsförderung, so Stamm, ist also auch Familien­förderung und ergibt nur dann Sinn, «wenn sie die bewusste Anregung aller kindlichen Sinne durch Erwachsene meint und nicht die Vorverlegung schulischer In­halte in die frühe Kindheit».

Alternativen zum ­aufwendigen Hobby

Es gibt auch Freizeitbeschäftigungen für ­Vorschulkinder, die niederschwellig und ­günstig sind und genauso viel Spass machen, zum Beispiel der gute alte Gummitwist.

  • Möchte das Kind ein Instrument spielen, können Sie für das spielerische Üben eine Gitarre aus einer leeren Milchpackung basteln oder Kasta­gnetten aus zwei Bierdeckeln herstellen. Noten lesen können Sie gern auch mit dem Kind zu Hause üben, falls beiderseitig Zeit und Lust besteht.
  • Steht gerade kein Trampolin im Garten und alle anderen interessanten Kurse sind schon ausgebucht: Los gehts mit dem Gummi­twist-Spiel! Ein paar Videos und schon springen alle Nachbarskinder auf und ab.
  • Jazzdance klingt cooler als Muki-Turnen. Letztlich wollen sich Kinder austoben, etwas Neues lernen oder sich einfach mit Freude bewegen. Das geht auch beim ortsansässigen Turnverein.
  • Wagen Sie sich an Hobbys, die Sie auch ohne fach­kundige Anleitung zusammen mit Ihrem Kind ausüben können: Gehen Sie klettern, Velo fahren oder laufen Sie gemeinsam einen Vita-Parcours.
  • Viele Museen bieten Kinderclubs an, wo sich Kinder regel­mässig treffen, um zu lernen, zu forschen und zu entdecken. Im Zoo oder beim Gemeinschaftszentrum ums Eck gibt es Gruppen zum ­Tierepflegen oder Gärtnern.

Mindestens zwei freie Nachmittage

Wenn ein Kind aber auch nach langen Kindergarten- und Horttagen sowie unverplanten Spielnachmittagen mit seinen Freunden noch Lust verspürt, etwas anderes zu machen, ist ein Hobby ohne schulischen Inhalt durchaus in Ordnung. Entscheidend ist das Verhältnis zwischen Aktivität und freier Zeit.

«Es kommt auf das Mass der Dinge an», erklärt Claudia Quaiser-Pohl, Professorin für Entwicklungspsychologie und psychologische Diagnostik der Universität Koblenz, in ihrem Buch «Vorschulkinder angemessen fördern». Sie rät, dass ein Kindergartenkind mindestens zwei freie Nachmittage haben soll. Also zwei freie Nachmittage ohne Hobby und Hort. Aber mit freiem, spontanem Spielen. 

Hobbys sind ein sehr ­erwachsenes Konzept. Kinder wollen meist ­einfach nur spielen.

Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin

Ein Blick in die Statistik zeigt, dass viele Kindergartenkinder rein rechnerisch wenig oder fast keine Zeit für ein klassisches Hobby hätten: Über 45 Prozent der Schweizer Eltern müssen ihre Kinder unter sechs Jahren zwei- bis dreimal pro Woche fremdbetreuen lassen. Geht man von mindestens einem Nachmittag Unterricht aus, haben die meisten Kinder noch zwei freie Nachmittage zu Hause zur Verfügung. Gemäss Stamms Credo, das Kind zu Hause frei «wildern» zu lassen, sollten diese zwei freien Nachmittage unverplant und hobbyfrei bleiben.

Was sind die Bedürfnisse des Kindes?

Doch Kinder sind unterschiedlich. Manche meistern problemlos einen Zehn-Stunden-Tag, andere sind bereits nach drei Tagen Kindergarten und ohne Hort so müde, dass der Rest der Woche für sie eine ­gros­se Anstrengung ist. Gehört Ihr Kind zur ersten Gruppe, gilt es herauszufinden, welches ­Hobby zu ihm passt. Hier können sich Eltern Folgendes fragen: Womit beschäftigt sich mein Kind am liebsten? Was macht es selbständig und über längere Zeit? Was kann es gut?

Dabei geht es nicht darum, was die Eltern wollen. Nur weil man selbst gern Tennis spielt, heisst das nicht, dass dies der Sohn oder die Tochter auch mag. Und ein unmusikalisches Kind zum Klavierunterricht zu schicken, ergibt ebenso wenig Sinn. Oft geht es den Kindern in diesem Alter nämlich gar nicht um das ­Hobby an sich, sondern eher darum, Zeit mit Freunden zu verbringen. Auch das ist in Ordnung.

Entscheidend ist, dass es keinen Druck oder Zwang gibt. Und dass das Gleichgewicht zwischen Hobby und freier Zeit stimmt. Was Margrit Stamm dazu anmerkt, klingt für manche engagierte Eltern vielleicht wie ein Schlag ins Gesicht: «Hobbys sind ohnehin ein sehr erwachsenes Konzept – Kinder wollen meist einfach nur spielen.»

Das richtige Hobby finden

Das kann ein Grund sein, warum vor allem jüngere Kinder gerne vieles ausprobieren – und mit vielem wieder aufhören. Sie sind sich einfach nicht ganz sicher. Fragt man sie, so haben sie fast jeden Tag auf ein anderes Hobby Lust.

Da will beispiels­weise eine Sechsjährige unbedingt ins Ballett, merkt aber erst im Unterricht, dass sie doch lieber zum Klettern möchte. Oder ein Siebenjähriger möchte unbedingt Klavierspielen lernen, weil sein bester Freund das auch tut, aber schon nach der ersten Stunde ist die Lust dahin: Es ist ihm zu anstrengend. 

Ein Hobby ist auch eine Verpflichtung, man muss regelmässig üben oder zum Training erscheinen.

In solchen Situationen empfehlen sich Schnuppertrainings, die ein- bis dreimal besucht werden können. Eltern sollen sich fragen, wie die Organisation (Fahrdienste!) solcher Hobbys zu bewerkstelligen ist – und dabei auch die Aktivitäten mög­licher Geschwister berücksichtigen.

Gerade Sporttrainings basieren auf Freiwilligenarbeit und finden daher oft in den Abendstunden und am Wochenende statt. Eltern sollten sich deshalb fragen: Schafft mein Kind das, schaffe ich das? Liegt ein zeitaufwendiges Hobby drin, wenn die Eltern noch andere Verpflichtungen haben? 

Probezeit einrichten

Ist das «ultimative» Hobby gefunden, tun Eltern gut daran, einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen festzulegen, in dem das Kind das neue Hobby austestet. Nach dieser «Probezeit» darf sich das Kind entscheiden, ob es weitermachen will. Ihm muss klargemacht werden, dass ein Hobby auch eine Verpflichtung ist: dass man etwa bei einem Teamsport regelmässig zum Training erscheint und bei einem Match dabei ist.

Häufig besteht nämlich eine grosse Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Am liebsten möchten viele Kinder sofort so vollendet spielen oder tanzen wie das Fussballidol oder die Primaballe­rina. Dass hinter dieser angestrebten Perfektion und dem Erfolg jahrelanger Fleiss, Disziplin und Ausdauer stecken, ist kleinen Kindern oft nicht bewusst. Abgesehen davon sind manche Kinder ganz einfach auch gerne zu Hause und lesen, zeichnen, basteln und ruhen sich aus.

Claudia Landolt
ist Journalistin und Autorin, diplomierte Yogalehrerin und Mutter von vier Söhnen. Sie lebt im Kanton Aargau.

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