Hier darf die Seele zu Hause heilen
Wegen einer psychischen Erkrankung lange in einer Klinik behandelt zu werden, ist gerade für Eltern minderjähriger Kinder sehr belastend. Beim Home Treatment werden sie im eigenen Zuhause therapiert.
Die erschrockenen Blicke der beiden Mädchen wird Mirjana* nie wieder vergessen. Die 34-Jährige hatte ihre Töchter angeschrien, mal wieder. Dann brach sie zusammen. «Hana und Leonora hatten Angst vor mir», sagt sie leise. Und: «Das war der Moment, in dem ich wusste: Du brauchst Hilfe.»
«Sie haben eine schwergradige depressive Störung», hiess es einige Wochen später. Ein Schock für Mirjana. Nicht wegen der Diagnose an sich, sondern weil die Behandlung in einer Klinik eine monatelange Trennung von ihren drei Kindern bedeuten würde. Unvorstellbar für Mirjana. Seit einiger Zeit wird sie nun in ihren eigenen vier Wänden therapiert. Mit Erfolg.
Wut, Trauer, Schlaflosigkeit und totale Überforderung im Alltag
Dass etwas nicht stimmt, weiss Mirjana schon lange. «Ich bin generell jemand, der kaum abschalten kann», erklärt sie. «Und wenn mich etwas aus der Bahn wirft, schlafe ich nicht mehr. Tagsüber funktioniere ich, aber abends stellt mein Kopf einfach nicht ab.» Dann ist sie dünnhäutig, explodiert wegen jeder Kleinigkeit. «Ich weiss nicht mehr, wie ich mit dir umgehen soll», sagt ihr Mann. «Mami weint schon wieder», sagt Leonora mehr oder weniger täglich zu ihrer älteren Schwester. «Das ist ja auch nicht normal, dass ein Kind das sagt», meint Mirjana.
Den Tag, an dem all dies beginnt, kann sie genau benennen: Es ist der 12. Dezember 2021. Mirjana erleidet eine Fehlgeburt in der 12. Woche. Es ist die zweite innerhalb von sechs Monaten. Sie passiert vor den Augen ihrer drei Kinder Hana, 9, Leonora, 7, und dem heute fast zweijährigen Luan. Mirjana verliert viel Blut, braucht eine Curettage, es dauert lange, bis sie sich körperlich einigermassen erholt. Mental lassen die Ereignisse sie nicht mehr los. Es folgen Wut, tiefe Trauer, Schlaflosigkeit, totale Überforderung im Alltag.
Im Home Treatment werden Patientinnen und Patienten statt stationär in der Klinik in ihrem gewohnten Umfeld zu Hause betreut. Sie erhalten täglich Besuch von einem multiprofessionellen Team bestehend aus Ärztinnen, Psychologen, Pflegefachpersonen und einer Sozialarbeiterin. Zudem ist das Personal rund um die Uhr per Telefon erreichbar. Benötigte Medikamente werden jeweils für eine Woche abgegeben und in Eigenverantwortung eingenommen. Das Modell eignet sich besonders für Patientinnen und Patienten mit Familie. Inwieweit diese in den Prozess einbezogen wird, entscheiden sie selbst. Ins Home Treatment überwiesen werden Patientinnen und Patienten nach einer Abklärung durch klinikinterne oder auch externe Fachpersonen.
Eine Woche nachdem Mirjana sich beim Notfalldienst der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) gemeldet hat, wird ihr die Diagnose einer schwergradigen depressiven Störung mitgeteilt. Die ausgebildete Apothekerin hat selbst einmal auf einer Psychiatrie-Station gearbeitet und weiss: «Das kann allen passieren.» Sie weiss aber auch, was ihre Diagnose normalerweise bedeutet: einen stationären Klinikaufenthalt über Monate. Das kommt für die dreifache Mutter nicht in Frage.
Ein Drittel aller psychischen Erkrankungen bleibt unbehandelt, weil die Betroffenen sich nicht in Therapie begeben wollen.
Zu ihrem Glück wird eine Woche später ein Platz im Home Treatment frei, welches die PDAG seit 2015 anbieten. Zuerst als Pilotprojekt, seit 2018 ist das Modell, bei dem eigentlich stationär behandlungsbedürftige Patientinnen und Patienten zu Hause therapiert werden, vollständig etabliert und wird auch von der Krankenkasse übernommen.
Das Angebot schlägt sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen entlastet es Stationen, zum anderen setzt die Aussicht, im gewohnten Umfeld bleiben zu können, die Hemmschwelle herunter, sich überhaupt therapieren zu lassen, gerade für Eltern.
Pflegerin und Psychologin kommen in unbeschrifteten Autos
Laut einem Bericht der gesamtschweizerischen Vereinigung der Psychiatrischen Kliniken und Dienste Swiss Mental Healthcare bleibt gut ein Drittel aller psychischen Erkrankungen unbehandelt, weil die Betroffenen sich nicht in Therapie begeben wollen. Vierzehn Home-Treatment-Plätze bietet das PDAG im Jahr an, zwei Drittel dieser Behandlungen finden in Haushalten mit Kindern statt.
An sechs Tagen pro Woche erhält Mirjana eine bis eineinhalb Stunden lang Besuch von einer therapeutisch ausgebildeten Pflegefachperson. Einmal pro Woche schaut auch eine Psychologin vorbei. Sie fahren immer in unbeschrifteten Autos vor.
Das Home-Treatment-Personal steht Mirjana die ganze Woche rund um die Uhr mit einem Pikettdienst zur Verfügung. Sollte ein Telefongespräch dann nicht reichen, findet ein ausserordentlicher Hausbesuch statt.
Im Notfall würde sie in die Klinik begleitet. Das war bislang nicht nötig. «Die Gespräche helfen bei der Verarbeitung», sagt Mirjana. Die Antidepressiva helfen beim Bewältigen des Alltags. Sie erhält jeweils eine Ration für eine Woche.
Wenn die «Freundin, die mit Mami redet» vorbeikommt, sind Hana und Leonora in der Schule, am Samstagvormittag bleiben sie jeweils in ihren Zimmern. Der kleine Luan spielt oder sitzt auf Mamis Schoss. «Er ist ein sehr ruhiges Kind, das klappt super so», sagt Mirjana.
Die Leute wissen nicht, wie sie reagieren sollen, und ich habe keine Lust, mich ständig zu erklären, sagt Mirjana.
Die meisten Eltern möchten nicht, dass ihre Kinder in den Prozess miteinbezogen werden, sagt Karen Braken-Portmann, Psychiaterin bei den PDAG. Angehörige können sich aber an die Fachstelle für Angehörige wenden, die zum Angebot gehört. Dort wird Kindern altersgerecht erklärt, was mit Mami oder Papi los ist. Mirjana hat das selbst übernommen und ihren Töchtern erklärt, sie sei traurig wegen des Verlusts des Babys und brauche Zeit, um wieder glücklich zu werden.
Auch ihren Mann möchte sie bei den Therapiegesprächen nicht dabeihaben. Die Beziehung zu ihm hat sich aber dank der Therapie geändert. «Ich war lange wütend auf ihn, weil ich dachte, er trauert nicht um das Baby. Inzwischen habe ich akzeptiert, dass jeder anders trauert und jemand seine Trauer nicht immer nach aussen trägt.»
Nur der Mann und der Bruder wissen von der Therapie
Ausser ihrem Mann weiss nur Mirjanas Bruder, dass sie sich in psychotherapeutischer Behandlung befindet. Warum sie es sonst niemandem erzählt? Mirjana zuckt mit den Schultern. «Es gibt keinen Grund. Die Leute wissen nicht, wie sie auf so ein Geständnis reagieren sollen, und ich habe keine Lust, mich ständig zu erklären.»
Bereits nach zwei, drei Wochen Home Treatment sei es ihr besser gegangen, sagt Mirjana. Das Wichtigste: Sie kann abends wieder schlafen. Und sie verschanzt sich nicht mehr zu Hause, geht unter Leute, sogar Familienausflüge liegen drin. «Auch die Kinder sind viel entspannter», sagt Mirjana. Sie fand die Energie, ihre abgebrochene Stellensuche wieder in Angriff zu nehmen, hat seit Kurzem einen Job. Haushalt und Kinderbetreuung teilt sie sich mit ihrem Mann. «Arbeiten zu gehen, tut mir enorm gut», sagt Mirjana.
Ich weiss, dass ich das schaffe.
Mirjana
Die Betreuung im Home Treatment wird nun schrittweise reduziert und wird bald ganz in eine ambulante Nachbehandlung übergehen. Dann wird auch die Dosis der Medikamente sukzessive reduziert. Angst vor der Rückkehr ins Leben ohne therapeutische Hilfe hat Mirjana keine.
«Ich war ja nie weg aus dem Alltag. Ich weiss, dass ich das schaffe.» Auch die Fehlgeburt habe sie inzwischen gut verarbeitet. Ob sie sich nach allem, was diese ausgelöst hat, immer noch ein viertes Kind wünscht? «Ja. Selbst wenn ich mich dem Risiko einer erneuten Fehlgeburt aussetze. Heute könnte ich anders damit umgehen, da bin ich ganz sicher.»
* Namen geändert
- Psychiatrische Dienste Aargau www.pdag.ch
Suche nach «Home Treatment» - Psychiatrische Universitätsklinik Zürich www.pukzh.ch
Suche nach «Home Treatment» - Luzerner Psychiatrie
www.lups.ch
Erwachsenen-Psychiatrie > Allgemeinpsychiatrie> Gemeindeintegrierte Akutbehandlung - Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel UPK
www.upk.ch Erwachsene > Behandlungsangebote > Home Treatment