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«Der Algorithmus schaltet das Denken aus»

Lesedauer: 4 Minuten

Anders als bei Computergames wurde die Suchtwirkung von sozialen Medien lange unterschätzt, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Bilke-Hentsch. Dies unter anderem auch deshalb, weil sie sehr subtil operieren.

Interview: Virginia Nolan
Bilder: Adobe Stock, Herbert Zimmermann / 13Photo

Herr Bilke-Hentsch, digitale Medien werden oft als Risikofaktor für eine gesunde psychische Entwicklung dargestellt. Was hat es damit auf sich?

Die Diskussion führen wir seit gut 15 Jahren. Dabei standen lange nur Computerspiele im Fokus. Die Sorge galt den Jungs und der Frage, wie man Gamesucht vorbeugt. Pathologisches Gamen existiert, keine Frage, aber es wird überbewertet im Vergleich zu psychischen Störungen, bei denen die sozialen Medien eine Katalysatorrolle spielen. Bei Killergames sind die Inhalte offensichtlich nicht positiv, während soziale Netzwerke subtil operieren.

Wovon geht ihre Gefahr aus?

Das ist zunächst der ständige Vergleich mit anderen, wobei das Phänomen an sich normal ist. Offline wird eine 13-Jährige öfter ein ähnlich unsicheres Gegenüber haben, das sich zu dick findet oder zu dünn, nicht schlau oder nicht hübsch genug. In den sozialen Medien aber trifft sie auf Hunderte von scheinbar herrlichen Gleichaltrigen. Man weiss, dass solche Ideale gerade junge Frauen negativ beeinflussen. Da sind die sozialen Medien verhängnisvoller als die Frauenzeitschriften von früher.

Inwiefern?

Erstens lässt sich die Zeitschrift zuklappen, sie interagiert nicht mit der Betrachterin, im Gegensatz zu den sozialen Medien, die sie zu jeder Zeit ungefragt auf solche Storys aufmerksam machen. Zweitens werden Idole durch soziale Medien immer zugänglicher. Dass ihre Inhalte das Resultat einer aufwendigen Inszenierung sind, gerät leicht in Vergessenheit.

Oliver Bilke-Hentsch, 56, ist Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Luzerner Psychiatrie, Mitautor von wissenschaftlichen Leitlinien und vielfacher Buchherausgeber zu Suchtthemen, unter anderem pathologischem Mediengebrauch.

Denn auf diesen Kanälen präsentieren sich nicht nur Prominente, sondern scheinbar normale Gleichaltrige, die ähnliche Voraussetzungen haben wie die jugendliche Nutzerin: Sie gehen zur Schule, wohnen bei den Eltern, haben ähnliche Interessen – aber eben das viel bessere Leben. Die unentwegte Konfrontation mit einem scheinbar vergleichbaren Gegenüber, das jedoch unerreichbar bleibt, ist heikel. Die radikale Ökonomisierung der Kanäle verschärft das Problem.

Was meinen Sie damit?

Immer mehr Inhalt wird von Profis generiert, die genau wissen, mit welchen psychologischen Mechanismen sie die Verweildauer der Nutzer erhöhen können: Sie sehen in Echtzeit, auf welche Anker diese anspringen, entsprechend schlägt der Algorithmus weitere Inhalte vor. Die Geschwindigkeit, mit der diese auf Jugendliche einprasseln, überlistet ihr noch unausgereiftes Frontalhirn und schaltet das Denken aus.

Es wird kaum reflektiert: Passt das zu mir? Will mir einer was verkaufen? Man weiss auch, dass negative Inhalte um Millisekunden länger gezeigt werden als positive. Neigen Jugendliche dazu, sich mit negativen Dingen zu beschäftigen, tut sich da ein Sog auf, der Suchtpotenzial hat und depressive Verstimmungen oder Angstzustände verstärken kann. Wenn dann auf eigene Inhalte Likes ausbleiben, negative oder gar keine Kommentare kommen, tut dies sein Übriges.

Mädchen sind öfter in den sozialen Medien unterwegs – und stärker von Depressionen und Angststörungen betroffen. Lenken sich Buben mit Gamen auf gesündere Art ab?

Unterschiedliche Medienpräferenzen spielen sicher eine Rolle, erklären dieses Geschlechtergefälle aber nicht allein. Wir beobachten, dass Mädchen und junge Frauen grundsätzlich mehr dazu neigen, Dinge zu hinterfragen.

Dass Leute Krankheiten vortäuschen, ist nichts Neues. Neu sind die Möglichkeiten, die soziale Medien dafür bieten.

Sie versuchen, Probleme über Beziehungsgestaltung zu lösen, wollen Missstände klären. Jungen finden sich leichter damit ab – sie bedauern zwar die Lage, nehmen sie aber erst mal als gegeben hin. So überstehen Buben in der Regel auch Scheidungen besser. Sie haben ausserdem eine andere Anspruchshaltung an sich selbst, was sich positiv auf ihre Selbstwirksamkeit auszuwirken scheint.

Erklären Sie.

Jungen geben sich oft mit kleineren Erfolgen zufrieden und leiten aus diesen eher ab, dass sie auch anderswo punkten können. Mädchen tendieren dazu, die Messlatte höher anzusetzen, und sie schliessen aus einer guten Leistung weniger, dass sie auch anderweitig kompetent sind. Uns fällt auch auf, dass sich immer mehr junge Frauen die Sinnfrage stellen. Sie sind insgesamt gefährdeter dafür, sich in gnadenloser Selbstkritik zu ergehen oder über Gebühr mit belastenden Inhalten zu befassen.

Mentale Gesundheit ist im Netz ein Top-Thema. Das «British Medical Journal» beispielsweise berichtete von einer «explosionsartigen Zunahme» an Tourette-Tics bei Jugendlichen, die Fachleute auf Imitationshandlungen zurückführen – inspiriert von Tiktok und Co.

Dass Leute Krankheiten vortäuschen, um Aufmerksamkeit zu erhalten, ist nichts Neues. Neu sind die Möglichkeiten, die soziale Medien dafür bieten: Da kommt die Reaktion unmittelbar. Die Krankheiten, mit denen wir es klinisch am meisten zu tun haben, Depressionen und Angststörungen, eignen sich für diese Art von Skandalisierung allerdings kaum.

Warum nicht?

Wenn eine depressive Jugendliche erzählt, sie habe es vor Erschöpfung nicht in die Schule geschafft, hat das nicht den Sensationseffekt einer zur Schau gestellten Selbstverletzung oder eines Tourette-ähnlichen Tics.

Problematisch wird es, wenn jemand auf Dauer in den sozialen Medien mehr Anerkennung erfährt als offline.

Hinzu kommt, dass Menschen mit einer nach innen gerichteten Störung sich vermutlich nicht so exponieren würden. Solche Imitationshandlungen sind eher nicht das, was uns in der Praxis beschäftigt. Was wir in den Kliniken aber oft sehen, sind Patientinnen, die in den sozialen Medien eine zweite Heimat gefunden haben.

Ist das problematisch?

Ja, wenn sie da auf Dauer mehr soziale Anerkennung erfahren als offline. So wird die analoge Welt zur zweiten Wahl, weil man sich in der virtuellen wohler fühlt. Die Kanäle gestalten Angebote bewusst so, dass sich normalpsychologische Phänomene leicht mit dem Pathologischen verweben. So wird die Suche nach Zugehörigkeit, die jeden Jugendlichen umtreibt, im ungünstigen Fall zur Flucht in virtuelle Welten, die man ihm quasi massschneidert dank der Merkfähigkeit von Algorithmen. In diesen Filter-Bubbles erfolgt Zuspruch zahlreicher, unmittelbarer, oft persönlicher – ob er von Bots oder Menschen ausgeht, ist unklar. Da wieder aufzutauchen, ist schwierig.

Trotzdem: Die meisten Jugendlichen können mit sozialen Medien umgehen, ohne davon krank zu werden.

Richtig. Es ist auch nur eine kleine Gruppe von Skifahrern, die sich das Bein bricht – die Rega holt sie trotzdem und man setzt sich für Sicherheit auf der Piste ein. Das beschwichtigende Reden einer Minderheit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Social-Media-Abhängige gibt – und Handlungsbedarf.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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