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Likes für brennende Schultoiletten

Lesedauer: 4 Minuten

In waghalsigen bis gefährlichen Challenges auf Tiktok zeigen Kinder und Jugendliche ihre Zerstörungswut. Ist das soziale Netzwerk Schuld daran?

Text: Thomas Feibel
Bild: Adobe Stock

Seit einiger Zeit sorgt eine Challenge auf Tiktok für grosse Beunruhigung und noch grösseren Sachschaden: Schülerinnen und Schüler legen auf Schultoiletten Feuer, indem sie Klopapier und Papierhandtücher anzünden.

Zwar fanden schon zu unserer Schulzeit Verwüstungen der sanitären Einrichtungen statt, doch wenn heute Videos im Netz diese pyromanischen Taten dokumentieren, hat das eine völlig andere Qualität. Gerade weil die Videoplattform Tiktok in der jungen Zielgruppe so beliebt ist, weckt sie bei vielen Kindern die Lust zur Nachahmung.

Mehr Mutprobe als Herausforderung

Erst kürzlich wurde deshalb ein Neunjähriger im deutschen Bundesland Hessen der Brandstiftung überführt, in Bayern kam es sogar zu mehreren Verletzten. Auch in der Schweiz ordnen die Behörden ähnlich gelagerte Branddelikte in Rheinfelden, Winterthur und im Kanton St. Gallen dieser Challenge zu.

Wie können wir das einordnen, wenn Challenges auf Vandalismus setzen? Und was wird eigentlich aus dem menschlichen Grundbedürfnis? Aber der Reihe nach.

Bei der sogenannten Blackout-Challenge ziehen die Teilnehmenden so lange eine Schlinge um ihren Hals zu, bis sie das Bewusstsein verlieren.

Challenge bedeutet «Herausforderung». Allerdings trifft es der Begriff «Mutprobe» genauer. Mutproben setzen bekanntlich auf die Überwindung von Ängsten. Sie sind meist leichtsinnig, riskant und manchmal sogar lebensgefährlich. Klassische Mutproben finden eher im kleinen Kreis statt.

Bei einer Challenge hingegen erreichen gewagte Aktionen im Internet ein deutlich grösseres Publikum. Das verlockt viele zu immer drastischeren Grenzüberschreitungen. In einer Challenge filmen sich etwa Jugendliche dabei, wie sie urplötzlich friedlich gra­sende Kühe auf einer Weide erschrecken. In einer anderen Herausforderung stellen oder legen sich manche Teens auf die Bahngleise, während der Zug herannaht.

Bei der sogenannten Blackout-Challenge ziehen die Teilnehmenden so lange entschlossen eine Schlinge um ihren Hals zu, bis sie das Bewusstsein verlieren. Erst im Januar 2023 starb dabei ein 12-jähriges Mädchen aus Argentinien, davor eine Zehnjährige in Italien. Todesopfer hatte die Challenge der brennenden Toiletten zwar bisher nicht zu verzeichnen, aber die mutwillige Zerstörung fremden Eigentums ist dennoch ein schwerwiegendes Problem.

Vandalismus in Schulen gab es schon lange vor Tiktok. Eingeschlagene Fensterscheiben und verwüstete Klassenzimmer stellen Schulleitungen bis heute vor schwierige Herausforderungen. Trotzdem lässt sich ein Anstieg dieser Taten nicht verleugnen. In der im Oktober 2022 veröffentlichten Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW und der Fachhochschule Westschweiz räumten 15 Prozent der 11’000 befragten Schülerinnen und Schüler ein, schon selbst an Vandalismus beteiligt gewesen zu sein. Vor zehn Jahren waren es noch 11 Prozent.

Der grosse Frust

Für viele Erwachsene steht das Urteil über die Motive bereits fest: Schuld seien Langweile, Übermut, Zerstörungswut – und eben die Jagd nach Likes. Doch diese Zunahme allein den sozialen Netzwerken zuzuschreiben, wäre zu einfach und zu kurz gedacht. Dieser Form der Aggression liegt meiner Meinung nach vor allem eine tiefe Unzufriedenheit zugrunde.

Die Schule ist für viele Kinder und Jugendliche nicht unbedingt ein Wohlfühlort. Dort können viele äussere Faktoren für Unmut sorgen. Etwa wenn Lehrkräfte zu ihren Schülern nicht in Beziehung treten, wenn in der Klasse eine schlechte Stimmung herrscht oder wenn Schüler dem Tempo des voranschreitenden Schulstoffs nicht mehr folgen können. Streit der Schüler untereinander löst ebenfalls Stress aus, und das stundenlange Stillsitzen in geschlossenen Räumen hat noch nie zur Natur von Kindern gehört. Da kann sich einiges aufstauen.

Es gibt aber noch den inneren Stress, der mit dem Eintritt in die Pubertät und seinen hormonellen Auswirkungen schlechte Gefühle erzeugen kann. Es erwachen der Widerspruchsgeist und das Aufbegehren, auch der Bedürfnisaufschub funktioniert nicht mehr so gut und die Frustrationstoleranz sinkt ­ra­pide.

Darum flippen Jugendliche auch immer wieder aus. Aber: Das Ausrasten gehört nun mal zur Pubertät dazu. Das ist nur eine Erklärung für das mitunter irrationale Verhalten von Kindern und Jugendlichen, aber kein Freischein für Vandalismus. Zusammengenommen stellen uns diese Punkte jedoch alle vor grosse pädagogische Herausforderungen. Nur fürchte ich, dass die Schule darauf noch keine überzeugende Antwort gefunden hat.

Der Besuch der Toilette ist ein menschliches Grund­bedürfnis, das die Schule niemals einschränken darf.

Nach den Challenges-Vorfällen in den Schultoiletten schlossen manche Schweizer Schulen kurzerhand die sanitären Anlagen oder hingen die Türen aus. Andernorts mussten sich Schüler den Schlüssel von der Sekretärin aushändigen lassen oder die unterrichtende Lehrkraft um Toilettenpapier bitten. Auch wurde in einzelnen Regionen über Überwachungskameras nachgedacht.

Diese Massnahmen zeugen nicht nur von grosser Hilflosigkeit, sondern führen vor allem dazu, dass sich Schüler und Schülerinnen nicht mehr auf die Toilette trauen. Infolgedessen trinken sie auch weniger. Beides ist gesundheitsschädigend und inakzeptabel. Um es ganz deutlich zu sagen: Der Besuch der Toilette ist ein menschliches Grund­bedürfnis, das die Schule niemals einschränken darf. Schliesslich gibt es andere Wege.

Partizipation ist Trumpf!

Ratsamer wäre es, die Schülerinnen und Schüler von Anfang an miteinzubinden. Partizipation ist Trumpf! Fragen wir sie doch einfach: Wie sollen wir mit den schlimmen Zuständen auf den Schultoiletten umgehen und wie könnten probate Lösungen aussehen?

Ich bin ganz sicher, dass wir vom jugendlichen Pragmatismus und Einfallsreichtum enorm profitieren können. Denn schliesslich wünscht jedes Kind, eine saubere Toilette vorzufinden. Warum also nicht mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam ein Regelwerk entwickeln? Mit Smartphones und Tablets sind kreative Plakate  oder Slogans zur Auseinandersetzung und guten Sichtbarkeit der Problematik möglich. Schüler halten sich sowieso eher an Vereinbarungen, die sie miterarbeitet haben.

Und noch eine Bitte: Es ist eine Form der Wertschätzung gegenüber den Schülern, wenn die Schule diese Anlagen in Schuss hält.

Das Wichtigste in Kürze
  • Reden wir mit Kindern über Mutproben und eigene Erfahrungen.
  • Sprechen wir über Gruppenzwang und die Angst vor Ausschluss aus der Gruppe.
  • Es gibt auch harmlose Challenges wie den witzigen Klamottentausch bei «Turning My Mom Into Me».
  • Sprechen wir aber auch über gefährliche Challenges, indem wir sie hinterfragen, statt sie zu verteufeln.
  • Thematisieren wir auch die körperlichen Gefahren, etwa wenn für Challenges in Waschmittelkapseln gebissen werden soll.
  • Challenges besitzen starken Aufforderungscharakter, dem es zu widerstehen gilt.
  • Nebenbei erwähnt: Die EU droht Tiktok gerade mit einem Verbot, damit die Plattform sich an europäische Regeln hält.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel

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