Radikalisiert Social Media unsere Jugend?
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Radikalisiert Social Media unsere Jugend?

Lesedauer: 4 Minuten

Das Schwarz-Weiss-Denken in den sozialen Medien schadet Kindern und Jugendlichen. Es schürt Konflikte und verstärkt Zukunftsängste. Ein Wandel ist dringend nötig!

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Es klingt paradox, ist aber eine Tatsache: In der hochkomplexen Digitalwelt basiert alles auf absoluter Einfachheit. Sie stellt jeden Buchstaben, jeden Klang und jedes Bild allein mit zwei Ziffern dar: 1 und 0. Das Binärsystem kennt nur zwei Zustände. An oder aus. Alles oder nichts.

Ähnlich funktioniert auch das Schwarz-Weiss-Denken. Es reduziert die verwickeltsten Fragestellungen auf zwei einfache Standpunkte: gut oder schlecht, richtig oder falsch, dafür oder dagegen. Eine differenzierte Betrachtung, eine gründliche Auseinandersetzung oder kritisches Hinterfragen kommen nicht zum Zuge.

Inhaltlich geht es im Netz meist nicht um die Sache selbst, sondern allein darum, auf seinem Standpunkt zu beharren.

Ursprünglich stammt diese eingeschränkte Denkweise aus der Psychologie. Heute aber ist sie ein in den sozialen Medien auftretendes Massenphänomen. Wer seine Ansichten zu Politik, Taylor Swift oder der Existenz von Ausserirdischen postet, muss nicht lange auf starken Gegenwind warten. Täglich wird der Ton im Netz radikaler und vergiftet die Stimmung auch vor den Bildschirmen.

Inhaltlich geht es meist nicht um die Sache selbst, sondern allein darum, auf seinem Standpunkt zu beharren. Und obwohl nichts im Leben wirklich einfach ist, spricht diese Methode dennoch unsere tiefe Sehnsucht nach Simplifizierung an. Diese Entwicklung birgt viele Gefahren in sich, zumal das Schwarz-Weiss-Denken bei Kindern und Jugendlichen, die sich in diesen Netzwerken aufhalten und darin nach Orientierung suchen, besonders verfängt.

Tiktok als Sündenbock für Radikalisierungen?

Als gutes Beispiel dafür dient die letzte Europawahl. Erstmals durften Jugendliche ab 16 Jahren teilnehmen – und auffällig viele junge Menschen machten ihr Kreuz bei rechtspopulistischen Parteien. Sonst schien diese Zielgruppe eher in links-ökologischen Gruppierungen verortet zu sein. Auf der Suche nach plausiblen Erklärungen wurde der Schuldige rasch ausgemacht: Tiktok.

Auf dieser Plattform treiben schon lange extremistische Stimmungsmacher mit niederschwelligen Videobotschaften die Mobilisierung junger Wählenden voran. Das Schwarz-Weiss-Denken ist dabei ihr schärfstes Schwert. Auf komplexe Sachverhalte präsentieren sie scheinbar einfache Lösungen und untergraben damit nach und nach den Glauben an die demokratischen Grundwerte.

Die Corona-Pandemie hat Kinder und Jugendliche in ihrer natürlichen Entwicklung nachhaltig ausgebremst und zurückgeworfen.

Selbst wenn soziale Medien ein äusserst wirksamer Verstärker für derlei Inhalte und Positionen sind, liegt die tatsächliche Ursache, warum dies bei Jugendlichen so zielgenau einen Nerv trifft, anderswo. Und auch wenn in der Schweiz das Wahlrecht für 16-Jährige vorerst nicht kommt, ist eines sicher: Die tiefe Verunsicherung der jungen Generation macht nicht an Ländergrenzen halt.

Einschneidende Corona-Pandemie

Zu den gravierendsten Einschnitten der letzten Jahre zählt zweifellos die lange Phase der Corona-Pandemie. Dieses von starken Ängsten aufgeladene und von Isolation geprägte Leben hat Kinder und Jugendliche in ihrer natürlichen Entwicklung nachhaltig ausgebremst und zurückgeworfen. Mehr noch: Diese zermürbende Zeitspanne hat sie sogar deutlich dünnhäutiger gemacht. Die zahlreichen Krisen in der Welt – Inflation, Kriege, Klimawandel – haben ihre Zukunftsängste enorm verstärkt. Sie erkennen, dass die grossen Parteien keine Antworten auf ihre Sorgen haben. Oft fühlen sie sich von ihnen auch nicht ernst genommen.

Wenn sie dort also kein Gehör finden, wenden sie sich eben jenen zu, die vorgeben, genau dies zu tun. Natürlich wünschen sie sich dann ganz einfache Lösungen. Wie Kinder eben. Oder eigentlich wie wir alle. Mit einem bemerkenswerten Unterschied: In der Kindheit ist das Schwarz-Weiss-Denken schon angelegt. Bereits junge Kinder können instinktiv zwischen richtig und falsch unterscheiden. Mit vereinfachten Kategorisierungen versuchen sie, sich in ihrer Welt zurechtzufinden. Gut oder sicher ist dabei weiss, schlecht und gefährlich schwarz.

Polarisierte Sichtweisen in der Pubertät

Diese Denkform bleibt auch in der mittleren Kindheit und noch in der Adoleszenz ihr treuer Begleiter. Denn der Weg zum differenzierten Denken dauert bis ins Erwachsenenalter an. Der Grund: Der präfrontale Kortex, also der vordere Rindenteil des Frontallappens, der für komplexes Denken, Planung und Impulskon­trolle zuständig ist, benötigt diese sehr lange Entwicklungszeit.

Gerade in der Pubertät, in der es zuweilen emotional sehr turbulent zu- und hergehen kann, kommt es häufig zu krass polarisierten Sichtweisen. Durch den natürlichen Ablösungsprozess von den Eltern suchen die Heranwachsenden nach anderen Mentoren und Vorbildern, etwa in den sozialen Medien.

Es ist an der Zeit, den endlosen Nachrichten- und Informationsstrom ­zugunsten der Lebensqualität zurückzudrängen.

Besonders perfide: Sobald das in Kindern und Jugendlichen angelegte Schwarz-Weiss-Denken auf das hochmanipulative Schwarz-Weiss-Denken populistischer Lager trifft, entfaltet diese Wahl auch psychisch eine fatale Wirkung. Denn wer aus den Schleifen des vereinfachten Denkens nicht mehr herauskommt, ist zu einer ausgewogenen Betrachtung und einem differenzierten Denken nicht fähig. In der Psychologie wird dieses Phänomen auch dichotomes Denken genannt und gemeinhin als kognitive Verzerrung betrachtet, die insbesondere negative Gefühle, Ängste und Depressionen befördert.

Noch weiss die Forschung zu wenig, wie tief sich polarisierende und extreme Inhalte, wenn sie nur oft genug wiederholt werden, in das emotionale Gedächtnis junger Gehirne einprägen. Und wie welche neuronalen Verbindungen langfristig ihr Denken beeinflussen. Was können wir also tun?

Wie das positive Denken seinen Platz zurückerobert

Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Wenn ich täglich Nachrichten lese und mich durch die sozialen Medien scrolle, kann ich nur zu einem Schluss kommen: Der Weltuntergang steht unmittelbar bevor. Unsere Gesellschaft im Digitalzeitalter ist informationsüberflutet und deshalb auch dauergereizt. Vieles wird zudem oft schlechtgeredet.

Wenn ich aber nur noch Sorgen, Ängste und Frus­tration zulasse, wäre mein Dasein nicht mehr lebenswert. Die gern zitierte Vorbildfunktion wird zu einer echten Mammutaufgabe. Kinder orientieren sich weniger an unseren Worten, sondern an unseren Haltungen und Handlungen.

Ich denke, es ist an der Zeit, den endlosen Nachrichten- und Informationsstrom zugunsten der Lebensqualität ein wenig zurückzudrängen und uns das positive Denken zurückzuerobern.

Bringen wir unseren Kindern und Jugendlichen bei,

  • … dass sie alles kritisch hinterfragen dürfen, auch uns;
  • … dass nicht alles schwarz oder weiss, woke oder rechts ist;
  • … dass es immer mehr als nur zwei Betrachtungsweisen gibt;
  • … dass die einfachen Lösungen oft keine sind;
  • … dass Ängste keinesfalls unser Leben beherrschen dürfen;
  • … wie wir gemeinsam über die Komplexität des Alltags philosophieren können;
  • … wie wir zusammen eine von Respekt geprägte Streitkultur pflegen können;
  • … wie wir mehr das Gute sehen, um das Schlechte in der Welt auszuhalten;
  • … warum Demokratie immer noch die beste Staatsform ist.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel

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