Wie schützen wir unsere Kinder vor Online-Übergriffen?

Sexuelle Belästigung und Cybermobbing sind unter Jugendlichen inzwischen so weit verbreitet, dass Eltern und Schulen handeln müssen.
Rund die Hälfte aller Jugendlichen haben schon sexuelle Belästigungen auf Online-Kanälen erlebt. Der Jugend- und Medienforscher Daniel Süss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat die starke Zunahme der Übergriffe in einer neuen Studie festgestellt und sieht dringenden Handlungsbedarf: In einer sensiblen Phase der persönlichen Entwicklung stellten sexuelle Belästigung und Cybermobbing gravierende Grenzüberschreitungen dar, sagt der Medienpsychologe.
Dieser Aussage kann nicht genug Nachdruck verliehen werden. Die persönliche Integrität einer Person muss unbedingt gewahrt werden. Nichts rechtfertigt es, andere online blosszustellen und zu diffamieren. Aber wie können wir Erwachsenen agieren und die Jugendlichen unterstützen?
Den Dialog suchen statt kontrollieren
Das A und O zu Hause ist, mit den eigenen Kindern respektive Jugendlichen im Gespräch zu bleiben. Die Situation bei einer gemeinsamen Mahlzeit beispielsweise eignet sich für den Austausch. Fragen Sie ruhig bei Ihren Kindern nach, wie es für sie so läuft auf den sozialen Medien. Oder fragen Sie, ob sie Hatespeech, Beleidigungen oder sogar sexuelle Belästigung erfahren haben respektive Zeuge davon wurden.
Auf keinen Fall sollten Sie das Handy Ihres Kindes ohne dessen Erlaubnis kontrollieren. Das wäre, als ob Sie heimlich in seinem Tagebuch läsen.
Der Moment muss stimmen, Vorwürfe helfen nicht, Fragen kostet nichts und der offene direkte Dialog ist bestimmt der richtige Weg. Selbst wenn Ihr Kind in einer ersten Phase gereizt reagiert, sollten Sie dranbleiben und deklarieren, warum Sie sich sorgen. Auf keinen Fall sollten Sie das Handy Ihres Kindes ohne dessen Erlaubnis kontrollieren. Das wäre, als ob Sie heimlich in seinem Tagebuch läsen, was dem Vertrauensverhältnis äusserst abträglich wäre. Und seien Sie versichert: Es kommt immer raus.
Gegebenenfalls ist es auch hilfreich, sich an eine Fachstelle zu wenden, wenn Sie mit der Problematik konfrontiert werden oder den Verdacht haben, Ihr Kind könnte in irgendeiner Weise betroffen sein, es Ihnen aber schwerfällt, an das Kind heranzukommen. Viele Gemeinden und Kantone oder auch private Organisationen haben Fachstellen, die gratis oder günstig Hilfe und Beratung anbieten. Falls Sie Unterstützung bekommen möchten, erkundigen Sie sich bei der Schule Ihrer Kinder, welche Beratungsstelle in Ihrer Region die beste Unterstützung bieten kann.
Was können Sie unternehmen, wenn Sie von einer Mutter oder einem Vater eines Schulkameraden Ihres Kindes erfahren, dass beispielsweise unsittliche Bilder verschickt werden? Oder Jungs von den Mädchen in der Klasse Nacktbilder fordern und sie unter Druck setzen?
Wenn Sie den Eindruck haben, die Thematik habe eine ganze Klasse oder Schule befallen, wenden Sie sich an die Klassenlehrperson Ihres Kindes mit dem entsprechenden Hinweis. Gegebenenfalls findet sie zusammen mit der Schulleitung die richtige Unterstützung für den konkreten Fall.
Damit wir unsere Kinder und Jugendlichen gesund gross werden lassen können, müssen sich auch Eltern und Lehrpersonen austauschen und vernetzen. Geeignet sind da speziell Elternabende für einen Austausch im Klassenrahmen. Die Lehrpersonen sind bestimmt bereit, einem spezifischen Thema auf Wunsch Platz einzuräumen.
Auch dazu wenden Sie sich am besten an die Klassenlehrperson Ihres Kindes. Vielleicht gibt es in Ihrer Wohngemeinde auch Angebote der Elternbildung, zum Beispiel Inputveranstaltungen zu Themen wie Gewalt und Umgang mit dem Handy. Wenn nicht, bringen Sie vielleicht den Stein ins Rollen.
Diese aktuellen Zahlen und Entwicklungen sind erschreckend: Fast die Hälfte aller heutigen Jugendlichen wurde schon mindestens einmal online sexuell belästigt, 2014 waren es noch 19 Prozent. Dabei sind Mädchen (60 Prozent) viel öfter Belästigungen ausgesetzt als Jungen (33 Prozent). Und fast die Hälfte aller Mädchen wurde schon einmal von einer fremden Person aufgefordert, erotische Fotos von sich selbst zu versenden.
Dies geht aus der JAMES-Studie 2022 hervor, der neusten Veröffentlichung einer Forschungsreihe, in der Swisscom zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Zweijahres-Rhythmus Daten zum Mediennutzungs- und Freizeitverhalten von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren erhebt.
Wenn die Schule intervenieren muss
Wissen Sie, was «Happy Slapping» ist? Dieser Begriff beschreibt eine Attacke meist einer Gruppe auf einen Einzelnen oder eine Einzelne. Besonders erniedrigend ist dabei, dass die Tat gefilmt und online gestellt wird. Vor einigen Jahren hatte ich als Schulleiter mit dem Vater eines Schülers ein Gespräch zu einem rein organisatorischen Thema im Rahmen eines lokalen Projekts.
Im Anschluss an das Gespräch sagte er, dass er gar nicht recht wisse, ob er das Thema ansprechen solle, aber neulich sei sein Sohn von Klassenkollegen mit Fäusten und einem Gurt geschlagen worden. Ich antwortete, dass es wichtig und richtig sei, dass er mich darüber informiere und ich das auf keinen Fall tolerieren könne.
Eltern dürfen auch hinterfragen, ob die Schule genügend und das Richtige tut.
Für mich als Schulleiter war diese Situation Neuland und ich wollte auf keinen Fall einen Fehler machen, weder psychologisch respektive pädagogisch noch juristisch. Ich informierte das schulische Kriseninterventionsteam. Innerhalb weniger Stunden hatte ich psychologische Unterstützung durch Fachpersonen mit vielseitiger Erfahrung in Krisensituationen.
Wir konnten in Absprache mit den Eltern der Täter deren Smartphones konfiszieren. In den anschliessenden Gesprächen mit den Eltern sowohl der Täter wie auch des Opfers wurde das weitere Vorgehen besprochen. Aufgrund der schnellen Intervention war das Material glücklicherweise noch nicht online gestellt worden.
Gemeinsam mit den involvierten Eltern haben wir entschieden, dass die Filme auf den Handys gelöscht werden. Im Sinne einer Versöhnung und weil noch nichts online gegangen war, verzichteten die Eltern des Opfers auf juristische Schritte, was sich im Nachhinein als sehr hilfreich herausstellte.
Etwas später haben wir die Mobbing-Thematik in die Elternbildung aufgenommen. Wir konnten Fachleute engagieren, die den Eltern in Referaten Inputs vermittelten. Gleich im Anschluss an die Referate fanden Diskussionsrunden statt.
An diesen Diskussionsrunden nahmen Eltern, Lehrpersonen und die Schulleitungen teil. Der gegenseitige Austausch hat nicht nur die Handlungsfähigkeit der Teilnehmenden erweitert, vielmehr ist auch das gegenseitige Verständnis gestiegen und die Eltern haben gespürt, wie sehr uns das Wohl der Kinder und Jugendlichen am Herz liegt und dass wir uns dafür engagieren.
Die James-Studie kommt zum Schluss, dass Mädchen Trendsetterinnen in der Nutzung von neuen sozialen Medien sind. Dies zeigt sich etwa bei Tiktok oder Pinterest und schon seit 2014 bei Instagram. 81 Prozent der Jugendlichen nutzen Instagram mehrmals pro Woche, 76 Prozent sind es bei Snapchat und 67 Prozent bei Tiktok – gegenüber erst 8 Prozent im Jahr 2018.
Ausserdem verwenden Jugendliche hauptsächlich Whatsapp für die Kommunikation untereinander, geben doch 97 Prozent der Befragten an, die App mindestens mehrmals pro Woche zu nutzen. Facebook hingegen ist für die Jungen nicht mehr wichtig. Lediglich 5 Prozent nutzen die Plattform – 2014 waren es noch 79 Prozent.
Wie kann die Schule vorgehen?
Gesundheitsförderung, Aufklärung, Unterstützung der Ich-Findung oder Medienpädagogik haben einen festen Platz im Unterricht und in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Expertise hierzu ist in den Schulen gewachsen. Wo dieses Fachwissen in einem Kollegium fehlt, werden externe Fachpersonen hinzugezogen.
Eltern dürfen hier auch fragen und hinterfragen, ob genügend oder das Richtige unternommen wird. Fragen Sie nach, lassen Sie sich erklären, welche präventiven Massnahmen (zum Beispiel thematische Sonderwochen oder Kurse durch externe Anbieter) die Schule in ihrem Programm hat. Schulen und Lehrpersonen sind genauso auf die Vernetzung mit den Eltern angewiesen, wie das auch umgekehrt der Fall ist.
Es ist müssig, darüber zu streiten, ob die Schule oder doch das Elternhaus hier eine Verpflichtung hat. Insbesondere, wenn es darin mündet, dass keine Partei die nötigen Schritte unternimmt. Gerade durch die digitalen Medien verweben sich die Freizeit und die Schule immer mehr und die erzieherischen Aspekte im Umgang damit müssen noch viel stärker gemeinsam angegangen werden. Es hilft nichts: Schulen haben eine Verantwortung. Und Eltern haben eine Verantwortung.
Während Mädchen häufiger auf sozialen Netzwerken anzutreffen sind, gamen die Jungs lieber. 79 Prozent aller Befragten gaben an, dass sie ab und zu spielen. Dabei ist auffällig, dass mit 93 Prozent die Jungs deutlich öfter gamen als die Mädchen mit 65 Prozent. Am häufigsten werden Gratis-Games gespielt (60 Prozent). Die Problematik der sogenannten Free-to-play-Games ist, dass sie nicht wirklich kostenlos sind.
«Bezahlt» werden solche Spiele mit Werbeeinblendungen oder – analog zum Geschäftsmodell von Whatsapp – mit den Daten der Spielenden. Für bestimmte Fortschritte in Spielen sind In-App-Käufe unerlässlich. Games werden gemäss Erhebung in höherem Mass von jüngeren Befragten gespielt. Heikel ist darum, dass die jungen Teenager in der Tendenz Altersempfehlungen grosszügig ignorieren, mit Werbung eingedeckt werden und kommerzielle Anbieter ihre Daten nutzen.