«Steigen Eltern zu impulsiv ein, verlieren sie das Kind»
Medienpädagoge Joachim Zahn über den rauen Umgangston im Netz, was Eltern tun können, um Cybermobbing vorzubeugen, und was sie lassen sollten, wenn es doch passiert.
Herr Zahn, haben Sie in der Medien- und Erziehungsberatung vermehrt mit Cybermobbing-Fällen zu tun?
Was ich feststelle, sind eher Verschärfungen. Etwa, dass Cybermobbing häufig bereits in unteren Primarschulklassen vorkommt. Diese Kinder haben oft noch nicht die Resilienz von Jugendlichen, die zumindest eher mit einem «Idiot, gang hei!» reagieren können. Auch sehen wir eine zunehmende Sexualisierung.
Kinder merken: Ich bin jemand, wenn ich auffalle. Und wenn ich Extremes tue, falle ich eher auf.
Wir hatten kürzlich einen Fall, da haben Kinder andere Kinder genötigt, sich wie in einem Porno zu bewegen. Das haben sie gefilmt und gegen die Beteiligten verwendet. So etwas gab es früher nicht.
Warum hat sich die Situation verschärft?
Viele Kinder erhalten heute früher ein Smartphone. Dort sehen sie teilweise Dinge, die ihrem Alter nicht entsprechen. Kommt hinzu, dass Algorithmen Inhalte pushen, auch unangemessene, wenn sie Klicks bringen. Gleichzeitig spüren Kinder früh die Aufmerksamkeitsökonomie, die unsere Gesellschaft prägt. Sie merken: Ich bin jemand, wenn ich auffalle. Und wenn ich etwas Extremes tue, falle ich eher auf.
Dies in einem Alter, in dem sie Dinge ausprobieren und Grenzen suchen.
Ja. Und noch ohne klar verinnerlichte Werteordnung. Allerdings scheint diese auch bei vielen Erwachsenen zu wanken, wenn man den rauen Umgangston im Netz sieht. Kinder nehmen das auf und testen selbst, wie etwa eine homophobe Aussage wirkt. Natürlich wissen sie nicht, was sie da sagen. Trotzdem ist es problematisch. Früher hat man Sprüche an Wände gekritzelt. Heute schreibt man sie ins Netz.
Was können Eltern tun, um ihr Kind vor Cybermobbing zu schützen?
Sie sollten sich zunächst ihrer Vorbildwirkung bewusst sein. Sich also fragen, wie sie selbst online unterwegs sind, und vorleben, was sie sich für ihre Kinder wünschen. Ansonsten ist es schwierig, allgemeingültige Tipps zu geben. Strengen Eltern etwa, die alles kontrollieren oder lange Zeit kein Handy zulassen, würde ich raten, es unaufgeregter anzugehen.
Also birgt es auch Risiken, kein Handy zuzulassen oder zu viel zu kontrollieren?
Es ist ein Fakt, dass Medien und ihre Anwendung für Kinder ab einem gewissen Alter zum sozialintegrativen Faktor geworden sind. Es klingt schräg, aber ein Kind kann auch zu wenig online sein. Wenn es gar nicht mitreden kann, ist es aussen vor. Passiert ihm doch einmal Ungutes im Netz, getraut es sich zudem nicht, zu seinen strengen Eltern zu gehen.
Laisser-faire in der Medienerziehung ist aber auch keine Lösung.
Richtig. Ein Handy ist eine potente Sache und der Umgang muss erlernt werden. Am besten ist es, wenn Eltern ihr Kind die mediale Welt entdecken lassen, es dabei aber begleiten. Sie sollten sich öfters mit ihm hinsetzen und die Apps und Möglichkeiten zusammen anschauen. Dabei können sie ihm auch zeigen, wie ein Profil auf privat gestellt wird, wie jemand blockiert oder gemeldet werden kann.
Unsere Erfahrung zeigt: Familien, die sich wehren, sind ‹schlechtere Opfer›.
Eltern sollten ihrem Kind klar vermitteln, dass es mit jedem Problem zu ihnen kommen kann. Oder zur Lehrerin oder zum Schulsozialarbeiter. Es soll wissen, dass es sich jederzeit Hilfe holen kann. Und dass man sich nicht aufregen oder das Handy verbieten wird.
Oft verschweigt ein Kind seinen Eltern, dass es gemobbt wird. Wie merken Eltern, dass etwas nicht stimmt?
Das Verhalten eines gemobbten Kindes kann sich verändern. Manchmal sind es kleine Dinge. Vielleicht geht es immer später zur Schule, um keine Zeit auf dem Pausenplatz verbringen zu müssen. Oder es isst nicht mehr richtig, kann nicht gut schlafen oder wirkt deprimiert.
Wie geht man vor, wenn sich der Verdacht auf Cybermobbing erhärtet?
Man fragt nach, ganz sachlich, und nennt Mobbing als mögliche Ursache für die Verhaltensänderung. Stimmt die Vermutung, versucht man herauszufinden, was vorgefallen ist. Um der Machtlosigkeit zu entkommen, raten wir Eltern zu professioneller Unterstützung. Hilfreich ist auch ein Protokoll mit den Vorfällen, falls möglich mit Screenshots. Gleichzeitig sollten Eltern respektieren, wenn ihr Kind erst einmal nicht weiter darüber reden will. Kinder brauchen in einer solchen Situation viel Normalität, um ihre Batterien aufzuladen.
Gibt es Dinge, die Mütter und Väter keinesfalls tun sollten?
Oft wollen Eltern das Problem sofort lösen. «Wir rufen jetzt die Müllers an und sagen, dass das nicht geht!» Steigt man so impulsiv ein, hat man das Kind verloren. Stattdessen sollte man Respekt zeigen vor seiner berechtigten Angst, dass ein Anruf bei den Eltern der Mobbenden alles schlimmer macht. Es ist besser, als nächsten Schritt die Lehrperson zu kontaktieren und sie zu fragen, was sie beobachtet hat.
In welchem Fall ist es ratsam, die Polizei einzubeziehen?
Was offline verboten ist, ist es auch online. Dazu zählen arge Beleidigungen, Drohungen, Nötigung, Erpressung, Verbreitung von Unwahrheiten oder Kommentare gegen Hautfarbe oder sexuelle Orientierung. Ist so etwas online vorgekommen, kann eine Anzeige sinnvoll sein. Viele Eltern sorgen sich, dass eine Anzeige die Situation verschlimmert. Unsere Erfahrung zeigt aber: Familien, die sich wehren, sind «schlechtere Opfer».
Schulen leisten ihren Teil, wegen teilweise ungenügender Ressourcen aber mit unterschiedlichem Erfolg.
Wie verhalte ich mich, wenn mein Kind selbst mobbt?
Auch dann ist es wichtig, erst sachlich zu fragen: «Was ist passiert?» Selbst wenn das Kind richtig Mist gebaut hat, sollte man nicht gleich ein Handyverbot verhängen. Wirkungsvoller ist es, seine Einsicht zu wecken, dass so etwas nicht geht, und sein Motiv hinter dem Mobben zu ergründen. Kann man darauf adäquat eingehen, ist das nachhaltiger als jede Strafe.
Cybermobbing muss dort angegangen werden, wo es entsteht, sagen Fachleute. Machen Schulen genug?
Schulen können auf Entwicklungen nur reagieren, hinken daher teilweise hinterher. Mit dem Lehrplan 21 wurde schweizweit ein Medienunterricht eingeführt. Und die Schulsozialarbeit wurde verstärkt. Dies sind einzelne von vielen nötigen Schritten, um Cybermobbing zu begegnen. Schulen leisten ihren Teil, wegen teilweise ungenügender Ressourcen aber mit unterschiedlichem Erfolg. Wir sollten deshalb politisch die Weichen so stellen, dass genügend Mittel da sind. Letztlich tragen wir als Gesellschaft die Verantwortung für den Schutz unserer Kinder.
Schulungen, Beratungen und Interventionen zu Mobbing und Cybermobbing bieten der gemeinnützige Verein Zischtig.ch, die Fachstelle Hilfe bei Mobbing und Edufamily an.
Hier informieren zwei kostenlose Broschüren über Cybermobbing, sexuelle Übergriffe und Abo-Fallen im Internet und zeigen auf, wie man sich schützen kann.
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