«Kinder sollen sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben»
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«Kinder sollen sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben»

Lesedauer: 7 Minuten

Der Krieg in Nahost wird auch in sozialen Netzwerken ausgetragen und macht damit nicht halt vor Kindern und Jugendlichen. Medienexperte Thomas Feibel über verstörende Bilder, den richtigen Umgang mit Antisemitismus im Netz und die Rolle der Eltern.

Interview: Lisa Groelly
Bild: Adobe Stock

Herr Feibel, «die Bedeutung sozialer Medien bei der öffentlichen Deutung des Krieges in Nahost ist so gross wie bei keinem zuvor», schrieb die Süddeutsche Zeitung. Würden Sie dem zustimmen?

Ja. Soziale Medien sind längst ein zentraler Bestandteil psychologischer Kriegsführung und der Superspreader für Fake News schlechthin. Bereits Donald Trump hat diese Manipulationstechnik hocheffizient eingesetzt. Mit seinen provokativen Posts bestimmte er die Nachrichtenlage. Die klassischen Medien mussten seine Behauptungen aufgreifen, was wiederum in die sozialen Netzwerke einsickerte.

Zusätzlich blasen Aufregung, Wut und Verwirrung die Desinformation auf. Weiss dann am Ende niemand mehr, was eigentlich stimmt, ist das Ziel erreicht. Dieses Muster hat auch nach dem Terrorakt gegen Israel vor vier Wochen exakt so funktioniert. Die Behauptung der Hamas über die Explosion eines Krankenhauses ging viral um die Welt und wurde ungeprüft zum Aufmacher der traditionellen Medien wie unter anderem der «New York Times». Das hat inzwischen den Satz geprägt, der eigentlich selbstverständlich sein sollte: Terroristen sind keine Quelle.

Bereits zu Beginn des Krieges in der Ukraine kursierten in den Sozialen Medien erstmals zahlreiche Videos von Leuten aus dem Krisengebiet. Was ist nun anders als im März 2022?

Terroranschläge sorgen für die grösstmögliche öffentliche Aufmerksamkeit. Die Attentäter begingen ein beispiellos bestialisches Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung und filmten sich und ihre Taten. Die grausamen Einzelheiten mit Enthauptungen, Vergewaltigungen und Entführungen, die selbst vor Säuglingen und Greisen nicht haltmachten, sind in ihrer Unmenschlichkeit absolut schockierend.

Thomas Feibel ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Für Fritz+Fränzi schreibt er monatlich eine Kolumne. (Bild: Die Hoffotografen)

Jedenfalls so lange, bis die Stimmung kippte und das Blutbad grösstenteils im arabischen Raum zum Befreiungskampf und Glaubenskrieg umgedeutet wurde. Weltweit finden über soziale Medien organisierte und orchestrierte Inszenierungen wütender Proteste gegen Israel statt. Das Opfer gilt nun als Aggressor. Der Flächenbrand, den es zu vermeiden gilt, ist schon längst da. Er findet jetzt über soziale Netzwerke statt.

Auf diversen Social-Media-Kanälen, insbesondere aber auf Tiktok und X (ehemals Twitter), kursieren zahlreiche Fotos und Videos, die furchtbare Szenen zeigen: Leichen unter Trümmern, Kinder in Käfigen, Explosionen. Warum werden solch verstörende Bilder von den Betreibern nicht gelöscht?

Meta soll drei Tage nach dem Blutbad 750 000 Videos gelöscht haben, Tiktok eine halbe Million. Die Motive sind dabei allerdings weniger ethischer Natur geschuldet, als der reinen Angst vor Repressionen durch das EU-Digitalkommissariat. Auch X soll Konten gelöscht haben. Bei Elon Musk, dem Besitzer von X, sehe ich aber noch ein spezielles Problem. Meiner Meinung nach sind seine sehr dehnbaren Interpretationen von Meinungsfreiheit nicht zwingend von moralischen Massstäben geleitet. Zudem verlassen wegen ihm die Nutzer seine Plattform in Scharen. Brutale Inhalte können jedoch für höhere Aufmerksamkeit und Beteiligung sorgen. Soziale Netzwerke leben nun mal von ihren Nutzeraktivitäten.

Tiktok ist die Plattform der Jugend. Laut einer aktuellen Studie sind von den rund drei Millionen monatlichen Tiktok-Usern und -Userinnen in der Schweiz knapp 54 Prozent unter 24 Jahre alt. Was können Eltern tun, um zu verhindern, dass ihre Kinder auf Tiktok mit Bildern aus dem Krieg in Berührung kommen?

Das ist leider kein neues Phänomen. In meinen Lesungen und Workshops treffe ich schon seit Jahren auf Kinder ab der zweiten Klasse, die auf ihren Smartphones Aufnahmen von Enthauptungen oder angezündeten Haustieren haben. Sie wollen diese Bilder und Inhalte gar nicht, bekommen sie aber von Älteren zugeschickt. Und sie wissen keinen anderen Rat, als diese Bilder aus Angst schnell weiterzuleiten.

Sobald Kinder eigene Mobilgeräte besitzen, werden wir nie ganz vermeiden können, dass sie mit schlimmen Inhalten in Berührung kommen. Selbst wenn Eltern mit dem Konto des Netzwerkes ihres Kindes zu Kontrollzwecken verbunden sind. Wichtig ist nur, dass Kinder in einem solchen Fall genau wissen, was sie tun sollen.

Wie spreche ich am besten mit meinem Kind darüber, wenn es solche Inhalte zu sehen bekommen hat?

Die Kommunikation mit Kindern über so schwerwiegende Dinge muss vor allem alters- und entwicklungsabhängig stattfinden. Kinder müssen immer wissen, dass sie jederzeit ihre Eltern ansprechen und informieren können, sobald sie im Netz auf verstörende Inhalte stossen. Sie helfen ihnen dann dabei, das Geschehen einzuordnen. Ebenso wichtig ist es auch, die Kinder zu entlasten, indem wir ihnen diffuse Ängste nehmen und ihnen glaubhaft versichern, nicht am Empfang solcher Bilder schuld zu sein. Sie dann gemeinsam zu löschen, kann eine befreiende Wirkung haben.

Es wäre allerdings illusorisch zu glauben, Kinder vor den Schrecken des Weltgeschehens bewahren zu können. Aber um weder sich selbst noch seine Kinder zu überfordern, rate ich dazu, gemeinsam Kindernachrichten zu schauen, die behutsam und verständlich die kompliziertesten Sachverhalte erklären. Anschliessend kann dann gemeinsam darüber gesprochen werden.

Selbst auf Nichtbetroffene kann Hate Speech eine verheerende Wirkung entfalten, indem manipulativ Vorurteile verstärkt oder Wut geschürt wird.

Auch Lehrkräfte sind da in der Pflicht, denn Schüler tauschen sich auch auf dem Pausenhof zu aktuellen Themen aus. Einige Lehrer ducken sich jedoch weg, verweisen bei Gesprächsbedarf der Schüler zum Beispiel auf den Geschichtslehrer. Das geht nicht. Es bedarf dringend einer pädagogischen Begleitung, die das Thema in einen Kontext setzen kann.

Neben den schockierenden Inhalten nehmen seit der Eskalation des Nahost-Konflikts auch Hass und Hetze im Netz, sogenannter Hate Speech, enorm zu. Was kann das mit Kindern und Jugendlichen machen? 

Hate Speech und Hetze sind die Speerspitzen des Populismus, der nur zum Schein den Wunsch nach sehr einfachen Lösungen zu hochkomplexen Fragestellungen erfüllt. Dazu werden Sündenböcke benötigt. Auf Kinder und Jugendliche können Hassreden zwei unterschiedliche Auswirkungen haben. Sind sie zum Beispiel selbst Ziel solcher verbalen Attacken, dann macht ihnen das grosse Angst und löst Verzweiflung oder Hilflosigkeit aus.

Doch selbst auf Nichtbetroffene kann Hate Speech eine verheerende Wirkung entfalten, indem manipulativ Vorurteile verstärkt oder Wut geschürt wird. Auch der soziale Druck im Freundeskreis spielt dabei ebenso eine Rolle wie die eigene politische Einstellung. Doch was geschieht, wenn sich Kinder und Jugendliche für den Klimaschutz einsetzen und dann ausgerechnet die internationale Sektion von «Fridays For Future» antisemitische Töne anschlägt? Es ist zu befürchten, dass sich dann junge Menschen, die die Komplexität der Thematik nicht überschauen können, einfach der Meinung von Wortführern anschliessen. 

Was können Kinder und Jugendliche tun, wenn Sie im Netz mit Beleidigungen in Berührung kommen, die in ihren Augen zu weit gehen?

Wenn sie stark genug sind, können sie bei schlimmen Vorurteilen kontern, anderen beistehen oder den Vorfall im Netz melden. Darum finde ich es gut, wenn wir Kinder und Jugendliche in der Erziehung viel mehr in ihrem Widerspruchsgeist bestärken. Sie sollen sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben, sondern alles hinterfragen.

Der Antisemitismus war nie weg.

Im aktuellen Konflikt verbreitet sich insbesondere Antisemitismus sehr schnell im Netz. Welche Gefahren bestehen da?

Von der Gewalt im Netz zur Gewalt in der Realität ist es nur ein kleiner Schritt. In Berlin werden Juden bespuckt, zusammengeschlagen, Haustüren mit Davidsternen markiert, «Kill Jews» an Wände gesprüht, Brandanschläge auf Synagogen verübt und zahlreiche Bombendrohungen vermeldet. In Detroit wurde die Präsidentin der Synagoge erstochen aufgefunden und in Dagestan hat ein Mob ein israelisches Flugzeug gestürmt. Der Massenmord in Israel hat auf seine Feinde eine verheerende Fanalwirkung.

Wie kommt es dazu, dass der Antisemitismus innert so kurzer Zeit nun wieder einen solchen Auftrieb erhalten hat? 

Der Antisemitismus war nie weg. Die uralte Mittelalter-Mär vom Ritualmord an Kindern, um deren Blut zu trinken, lebt heute in einer Variation der QAnon-Bewegung weiter. Ausserdem trägt der Antisemitismus verschiedene Gewänder. Jüdische Menschen fühlen sich seit Jahrzehnten von rechtem, linkem und islamischem Antisemitismus bedroht, vom bürgerlichen Antisemitismus ganz zu schweigen. Dazu kommen Verschwörungstheorien, die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust und Israel-Hass, der Juden und Israelis gleichsetzt.

Was macht all das mit den jüdischen Menschen und ihren Kindern?

Sie fühlen sich weder geachtet noch geschützt. Zudem weckt es schlimme Erinnerungen an die Shoah und noch grössere Befürchtungen. Die Angst ist sehr tief in der jüdischen DNA verwurzelt. Viele Juden in Europa sind direkte Nachfahren von Holocaustüberlebenden, die das Bedrohungsgefühl auch transgenerativ an ihre Kinder und Kindeskinder bis heute weitergegeben haben.

Wenn wir Toleranz und Mitgefühl vermitteln, sind das die besten Pfeiler, die wir gegen Vorurteile und Diskriminierung setzen können.

Der Staat Israel wurde damals gegründet, um Juden weltweit vor Verfolgung zu schützen und ihnen ein Land zu geben, in dem sie sicher sind. Juden wussten bisher weltweit, dass sie im Notfall dort eine Heimat finden. So sind vor wenigen Jahren zahlreiche französische Juden nach Israel ausgewandert, da die antisemitischen Vorfälle dort überhandnahmen und auch vor Mord nicht zurückschreckten. Der Gedanke, dass Israel der sichere Hafen für Juden in der Diaspora ist, wurde durch das Massaker vom 7. Oktober ebenfalls zerstört.

Wie kommt es, dass es so wenig Empathie mit Juden gibt?

Der britische und jüdische Comedian David Baddiel hat dazu eine erstaunliche Erklärung gefunden. In seinem Buch mit dem vielsagenden Titel «Jews don’t count» stellt er fest, dass Antisemitismus häufig ein Rassismus zweiter Klasse sei. Wann immer es in linken Kreisen um Diskriminierung ginge, würden alle betroffenen Gruppen mit verschiedenen Hautfarben, Glaubensrichtungen und sexuellen Orientierungen aufgezählt. Nur die Juden blieben dabei stets aussen vor. Dabei haben sie doch zweifellos ebenfalls mit Vorurteilen und Benachteiligungen zu kämpfen. Baddiel erklärt es sich damit, dass Juden als «weiss» gelten und mit «reich» und «privilegiert» assoziiert würden. Und sobald es um Antisemitismus ginge, würde das Gespräch rasch auf Israel umgeschaltet werden. Für Baddiel ist das Rassismus.

Sollten Eltern mit ihren Kindern in der aktuellen Situation über Antisemitismus sprechen, bevor diese im Netz damit in Berührung gekommen sind?

Es kommt stets auf den moralischen Kompass und die Werte an, die in Familien vorgelebt werden. Wenn wir Toleranz und Mitgefühl vermitteln, sind das die besten Pfeiler, die wir gegen Vorurteile und Diskriminierung setzen können. In der Familie sollten wir zeigen, was im Netz oft auf der Strecke bleibt: Menschlichkeit.

Lisa Groelly

Lisa Groelly
leitet seit Oktober 2022 die Onlineredaktion von Fritz+Fränzi. Sie mag lange Nächte mit Freunden am Küchentisch, Eishockey, schönes Einrichten und Pippi Langstrumpf. Mit ihrem Partner und dem vierjährigen Sohn lebt sie im Baselbiet.

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