Wie ich meiner Tochter die Extrameile nahebrachte
Michèle Binswanger beschreibt in ihrer Kolumne, wie Krafttraining zum unerwarteten Bindeglied zwischen ihr und ihrer erwachsenen Tochter wird.
Seit meine Tochter ausgezogen ist, haben wir eine körperliche Beziehung. Also – nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken, es geht nicht um körperliche Nähe. Vielmehr findet die Tochter den Weg nach Hause in der Regel aus zwei Gründen: um hier zu essen oder um zu trainieren. Die Plünderungsoffensive am Kühlschrank versteht sich von selbst. Das mit dem Training ist etwas erstaunlicher. Denn zunächst deutete nichts darauf hin, dass es so kommen würde.
Es begann mit der Pubertät. Die Tochter erlebte, was die meisten Mädchen in dieser Zeit erfahren: Stress. Der Körper verändert sich, sondert komische Flüssigkeiten ab und erregt ungewollte Aufmerksamkeit. Dazu kommen Stimmungsschwankungen und die allgemeine Verwirrung: Wer bin ich, was werde ich und wie soll ich das je wissen? Ich erinnere mich bis heute lebhaft an diese Zeit und fürchtete als Mutter diese Phase wohl noch mehr als meine Tochter.
Ich fand den Weg aus der Verzweiflung damals über sportliche Aktivität: sich anstrengen und fordern, die Befriedigung, wenn man etwas erreicht, der Glücksrausch nach der Anstrengung. Vor allem aber ist Sport der beste Weg, sich und seinen Körper kennenzulernen und intensiv zu spüren. Ich bin kein Teenie mehr, aber Sport treibe ich bis heute. Und so beschloss ich, der Tochter diesen Weg aufzuzeigen, sollte sie dafür zugänglich sein.
Mit dem Körper verändert sich auch das Mentale, mit den Muskeln wachsen Energie und Selbstbewusstsein.
Darauf deutete zunächst wenig hin. Man hat in dieser Phase schliesslich Besseres zu tun, als sich zu bewegen: im Bett liegen, mit Freundinnen chatten, Trübsal blasen und seinen Körper hassen. Aber jedes Mal, wenn sie sich über dicke Beine oder schlechte Gefühle beklagte, lud ich sie dazu ein, mit mir Gewichte zu heben, was ich in meinem eigenen Kraftraum zu Hause tue. Irgendwann kroch sie aus ihrem Zimmer hervor und nahm eine Hantel in die Hand.
Liebe auf den ersten Blick kann man es nicht nennen. Mehr ein von Flüchen gepflasterter Weg. Wenn ich sie dazu anhielt, an die Grenzen zu gehen, weil sich Muskelwachstum nur dann einstellt, nannte sie mich krankhaft ehrgeizig. Vom Wesen her hat sie wenig Hang zur Grenzüberschreitung, was allgemein eine sehr vernünftige Einstellung ist. Aber wenn man sich verbessern will, braucht es die Extrameile. Und die gibts nicht gratis. Manchmal gab sie frustriert und mitten im Training auf. Ich liess sie, denn die wichtigste sportliche Maxime lautet: Just do it. Der Rest ist Zugabe. Aber je mehr du hineingibst, desto mehr bekommst du zurück.
Trotz ihrer in allen Tonlagen gesungenen Klagelieder kam sie immer zurück. Und kommt auch jetzt noch, obwohl sie gar nicht mehr zu Hause wohnt. Denn so ist es ja mit dem Training. Man merkt nicht wie, aber plötzlich wird man besser und hat auch plötzlich Spass. Mit dem Körper verändert sich auch das Mentale, mit den Muskeln wachsen Energie und Selbstbewusstsein, man fühlt sich wohler im Körper und versteht seine Bedürfnisse besser. Und irgendwann gelingt, was man zuvor für unmöglich gehalten hat.
Mittlerweile stemmt sie bei gewissen Übungen sogar mehr Gewicht als ich. Und obschon ich krankhaft ehrgeizig bin, freut mich das. Denn es ist ein Grund, mich anzustrengen und den Abstieg ins Alter so gut als möglich zu verzögern. Und wenn sie, um mich zu überflügeln, öfter nach Hause kommt, kann mir das nur recht sein. Auch wenn danach der Kühlschrank leer ist.