Über Hürden in ein neues Leben - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Über Hürden in ein neues Leben

Lesedauer: 3 Minuten

Mit neun Jahren kam Nahom Yirga als politischer Flüchtling in die Schweiz. 2014 wurde er beim UBS Kids Cup entdeckt; heute ist er eines der grossen Nachwuchstalente der Leichtathletik-Szene. Der 18-jährige Hürdenläufer über Heimat, Vorbilder und Superkräfte. 

Nahom Yirga, Sie haben fast Ihr ­halbes Leben in der Schweiz verbracht. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit in Äthiopien? 

Wenn ich an meine Heimat denke, kommt mir als Erstes die unberührte Natur in den Sinn. Diese Weite gibt es nirgendwo in der Schweiz. Ich erinnere mich auch daran, wie wir oft zusammen gefeiert haben. Es war immer eine tolle Stimmung. 

Sie sind 2011 mit Ihrer Mutter in die Schweiz gekommen, mussten Ihren kleinen Bruder, Ihre jüngere Schwester und Ihren älteren Bruder in Äthiopien zurücklassen. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?

Nicht so viel, wie ich es mir wünschte. Mich macht es traurig, wenn ich daran denke, dass ich schon so lange nicht mehr mit meinem grossen Bruder Fussball spielen konnte. Ich weiss nicht, wie wir diese verlorene Zeit nachholen können. 

Was vermissen Sie noch?

Schwierig zu sagen. Das Wetter vielleicht? Ich weiss noch genau, wie eine Mitschülerin in der vierten Klasse einmal zu mir sagte: «Die Schweiz ist das beste Land der Welt.» Damals fand ich das ein wenig komisch, aber heute bin ich genau der gleichen Meinung. Insofern vermisse ich nichts. 

Sie sprechen perfekt Deutsch. Wo fühlen Sie sich daheim? 

In Bassersdorf (strahlt). Dort habe ich meine Familie und meine Kollegen, dort fühle ich mich wohl.

Was sind die grossen Unterschiede zwischen Ihrem Geburtsland und Ihrer neuen Heimat?

Da gibt es so vieles … Im Gegensatz zu den eher zurückhaltenden Schweizern sind die Menschen in Äthiopien sehr offen, grosszügig und tolerant. Wenn jemand einen Freund mitbringt, ist der immer willkommen, auch wenn man ihn nicht kennt. Dafür ist es in Äthiopien längst nicht so sauber wie hier und nicht alles funktioniert so reibungslos wie in der Schweiz. 

Was mögen Sie besonders gerne an der Schweiz?

Den Sozialstaat und das Bildungssystem. Niemand wird hierzulande fallen gelassen, alle bekommen eine gute Ausbildung und haben danach die gleichen Chancen. In Äthiopien sieht das ganz anders aus, wer dort in eine arme Familie geboren wird, kann der Armut kaum jemals entkommen. 

Wie müssen wir uns Ihre Kindheit in Äthiopien vorstellen?

Unsere Familie lebte im Nordosten des Landes in einem Haus am äusseren Stadtrand. Da meine Eltern beide viel gearbeitet haben, wurden wir vor allem von meiner Grossmutter betreut. Ich fand das toll, denn sie war ein wundervoller Mensch, der immer nur an die anderen dachte. Sie hätte alles gemacht für mich – vor allem zu jener Zeit, als ich einen Tumor am Hals hatte. Noch heute weiss ich genau, wie sie zu jener Zeit meinen Hals mit Weihwasser behandelte, um mich zu heilen. Sie war mein absoluter Lieblingsmensch und ihr Tod hat mich sehr getroffen. 

Sie haben vorhin das Bildungssystem in der Schweiz angesprochen.

Ja, das ist ganz anders als in Äthiopien. Meine Schulzeit dort war schön, aber die Schule ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit der Schule hier. Wir hatten zum Beispiel viel grössere Klassen – um die 50 Schüler und mehr –, und es herrschte immer strikte Disziplin. Meine Lieblingsfächer waren Mathematik und Sport.

Sie trainieren seit 2017 im Leichtathletik Club Zürich. Woher kommt Ihre 
Leidenschaft für die Leichtathletik?

Eigentlich passierte das per Zufall. 2014 fiel meiner damaligen Lehrerin auf, dass ich ein guter Läufer bin, und sie ermutigte mich, beim UBS Kids Cup mitzumachen, einem Dreikampf aus Weitsprung, 60 Meter Sprint und Ballweitwurf. Ich landete auf den vordersten Plätzen in meinem Jahrgang, konnte mich damit für einen weiteren Wettkampf qualifizieren, bei dem ich Dritter wurde, und kam als «Lucky Looser» ins Final. Als ich an diesem Tag durch den Tunnel ins Letzigrund-Stadion lief, machte es bei mir «klick»: So glücklich habe ich mich selten gefühlt, und ich nahm mir vor, zurückzukommen.  

Sie kamen zurück und gewannen 2015 und 2016 den UBS Kids Cup.

Ohne dieses Turnier wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Insbesondere durfte ich von den Fördermassnahmen des UBS Kids Cup in Tenero profitieren. Ich verbrachte in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils eine Woche im Tessin. Dort konnte ich mit einem Disziplinentrainer arbeiten. Es hat riesig Spass gemacht mit anderen Athleten zu trainieren, zu spielen und Zeit zu verbringen.

Welches sind Ihre nächsten sport­lichen Ziele?

Kurzfristig ist es die Teilnahme an der U20-EM in Schweden und später dann die Teilnahme an der U20-WM in Kenia, wo ich jeweils so weit wie möglich kommen möchte. Langfristig träume ich davon, für die Schweiz an allen sportlichen Grossanlässen teilzunehmen und dort immer mein Bestes zu geben. 

Ihr Alltag wird bestimmt durch die Ausbildung, das Training und die 
Wettkämpfe. Wofür hätten Sie gerne mehr Zeit?

Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit meinem Leben. Obwohl, etwas mehr Zeit mit meinen Freunden wäre sicher schön. 

Durch Ihre Karriere stehen Sie in der Öffentlichkeit. Gibt es etwas, das noch niemand über Sie weiss?

Niemand weiss, dass all meine Gedanken auf Deutsch sind – ausser den Zahlen, die sind in meiner Muttersprache.

Zahlen und Fakten UBS Kids Cup

Der UBS Kids Cup ist das erfolgreichste Nachwuchs-Projekt des Schweizer Sports. Rund 170’000 Kinder und Jugendliche von 7 bis 15 Jahren haben sich im vergangenen Jahr in 60m-Sprint, Weitsprung und Ballwurf gemessen. Diesen Sommer treten die jungen Athletinnen und Athleten wieder an. Von lokalen Ausscheidungen über Kantonalfinals geht es an den Schweizer Final am 31. August im Zürcher Letzigrund.

Wussten Sie, dass …
… im Rahmen des UBS Kids Cup in diesem Jahr der millionste Teilnehmer gezählt wird? 2018 sind die insgesamt 171’685 Sportlerinnen und Sportler aus 645 Schulen an insgesamt 1’030 lokalen Events 545’958 Meter weit gesprungen, haben 10’301’100 Meter im Sprint zurückgelegt und 3’749’599 Meter weit geworfen.


Katrin Roth ist freie Journalistin, Moderatorin und Bloggerin (
Katrin Roth ist freie Journalistin, Moderatorin und Bloggerin (www.sonrisa.ch). Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter.