«Sagt ein Kind, es möge keinen Sport, liegt es oft an den Umständen»
Wie finden Eltern die richtige Sportart für ihr Kind? Und was tun, wenn sich der Nachwuchs zu wenig bewegt? Die beiden Expertinnen Ladina Ehrler-Scharplatz und Isabel Rest-Rivero wissen Rat.
Frau Ehrler-Scharplatz, Frau Rest-Rivero, was empfehlen Sie Eltern, die die perfekte Sportart für ihr Kind suchen?
Ladina Ehrler-Scharplatz: Die perfekte Sportart gibt es nicht. Am wichtigsten ist, dass das Kind zunächst viel ausprobiert.
Isabel Rest-Rivero: Deshalb würde ich raten, den Sohn oder die Tochter im Polysport schnuppern zu lassen. Polysport eignet sich ideal als Einstieg, weil es die universellste Sportart überhaupt ist. Hier finden Sie die ganze Palette – sei es Geräteturnen, Gymnastik, Leichtathletik, Einzel- und Mannschaftssportarten, aber auch Bewegungsformen wie Parcours oder Postenlauf. So lassen sich die unterschiedlichsten Sportarten kennenlernen. Was wiederum Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer, Rhythmus und Reaktionsfähigkeit fördert.
Es gibt auch Angebote wie den «Tag der Sportvereine», an dem Kinder in viele verschiedene Sportarten reinschnuppern können. Was halten Sie davon?
Rest-Rivero: Solche Angebote sind natürlich gut. Idealerweise testen Kinder aber nicht nur kurz verschiedene Bewegungsformen, sondern tun dies über einen längeren Zeitraum, ohne sich dabei auf eine Sportart festlegen zu müssen. Deshalb ist Polysport so ideal: Hier trainieren sie von klein auf breit und können sich mit 12, 13 Jahren immer noch für eine andere Sportart entscheiden. Zunächst jedoch sollten Kinder sich erst mal selbst kennenlernen und bei vielfältiger Betätigung Vertrauen in ihren Körper und in ihre Fähigkeiten bekommen.
Und wenn mein Kind keinen Sport machen möchte?
Ehrler-Scharplatz: In der Regel bewegen sich alle Kinder gerne. Sagt eines, es möge keinen Sport, liegt das oft an den Umständen.
Welche Umstände können das sein?
Rest-Rivero: Der grösste Motivator, sich sportlich zu betätigen, ist für Kinder der Spass an der Bewegung. Gleich danach kommt für sie jedoch das Soziale: Geht das Gspänli in eine Gruppe, zieht das einfach. Auch auf Übungsleiterin, Trainer und den Gruppenzusammenhalt kommt es für sie an. Die sozialen Faktoren beeinflussen damit oft mehr, ob ein Kind Lust hat auf eine Sportart, als die konkreten Erfahrungen dabei.
Soziale Faktoren sind oft wichtiger als konkrete Erfahrungen.
Ehrler-Scharplatz: Auch das Verlässliche motiviert Kinder. Dass ein Angebot beispielsweise jede Woche stattfindet und immer dieselbe Leiterin, dieselbe stabile Bezugsperson da ist. Diesen Faktor darf man nicht unterschätzen in einer Gesellschaft, in der vieles sehr flüchtig ist.
Was tun, wenn mein Kind aber immer nur das machen will, was die Freundin macht, dies jedoch gar nicht zu ihm passt?
Rest-Rivero: Das spielt keine Rolle. Lassen Sie Ihr Kind gemeinsam mit der Freundin zum Sport gehen. Früher oder später wird es feststellen, was ihm am meisten Spass macht – und dies dann auch verfolgen. Wir hatten schon oft Kinder, die gemeinsam bei uns angefangen haben, und nach einiger Zeit hat sich jedes für die Sportart entschieden, die ihm am besten gefällt. Das kommt mit der Zeit.
Ehrler-Scharplatz: Tatsächlich führen wir häufig Gespräche mit Eltern, die das Gefühl haben, sie müssten für ihr Kind entscheiden, welcher Sport der richtige ist. Dabei geht es am Anfang nur darum, dass Kinder sich überhaupt bewegen, sich ausprobieren und vor allem dranbleiben. Später können sie sich immer noch entfalten und eine bestimmte Richtung einschlagen. Deswegen ermutigen wir alle Eltern: Habt Vertrauen in eure Kinder! Und nehmt Druck raus.
Zu meiner vor Energie strotzenden Tochter passt aber vielleicht eine andere Sportart als zu meinem introvertierten Sohn, oder? Genauso wie manchem eine Einzelsportart eher liegt, während andere im Team besser aufgehoben sind.
Rest-Rivero: Ja, jedes Kind hat andere Talente und Bedürfnisse. Was ich aber in all den Jahren als Übungsleiterin gelernt habe: Ein zunächst schüchternes Kind kann nach der dritten Lektion das wildeste Kind sein und umgekehrt. Von daher würde ich nicht versuchen, mein Kind von vornherein in eine Richtung zu drängen. Ob Team- oder Einzelsportart, das ist ebenfalls von den Interessen des Kindes abhängig. Teamsportarten haben den Vorteil, dass Kinder und Jugendliche sich auch durch die Gruppe motiviert fühlen, dabeizubleiben. Bei Einzelsportarten konzentrieren sie sich eher auf sich selbst und die eigene Leistung.
Ehrler-Scharplatz: Ich würde Eltern davon abraten, mit einer Sportart vermeintliche Schwächen des Kindes ausgleichen zu wollen. «Stresst euch nicht», empfehle ich Eltern hier, «macht nicht so viel Druck!». Und vielleicht auch: «Löst euch von euren Erwartungen!» Es geht nämlich auch nicht darum, seine vielleicht eigenen unerfüllten Sportträume vom Nachwuchs umsetzen zu lassen, sondern den Sohn oder die Tochter als eigenständige Person zu begreifen.
Wie wichtig ist dabei die räumliche Nähe eines Sportangebots?
Rest-Rivero: Für mich spielt das eine grosse Rolle. Tatsächlich würde ich bei der Auswahl vor allem darauf achten, welche Angebote es in der näheren Umgebung gibt. Im Dorf oder Quartier findet sich kein Unihockey, aber eine Fussballgruppe, die einen guten Ruf hat? Dann auf zum Fussball!
Ehrler-Scharplatz: Für die Selbstständigkeit, aber auch die Organisation im Alltag ist die Nähe zu einem Sportangebot wichtig. Vor allem, weil sich ja auch oft Verbindungen über den Sport hinaus ergeben.
Angenommen, das Kind kommt jeweils zufrieden vom Sport nach Hause. Doch vor dem Training sagt es jedes Mal «Ich habe keine Lust», «Ich will nicht», «Ich bin krank» oder Ähnliches. Soll ich darauf bestehen, dass es trotzdem hingeht?
Rest-Rivero: Ja. Ich würde dem Kind sagen: «Schau, da sind auch andere, da ist dein Team, das wartet auf dich.» Wir Übungsleitende sind hier auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. Und Eltern, die in diesem Punkt konsequent bleiben, sind auch für das Kind ein Segen: Weil es ja nach dem Training glücklich ist.
Ehrler-Scharplatz: Ausserdem schaffen Eltern mit solch einer klaren Haltung gegenüber dem Kind Vertrauen – denn sie bleiben verlässlich.
Wie aber funktioniert das bei älteren Kindern? Gerade in der Pubertät rutscht die Motivation für Sport bei vielen Jugendlichen oft in den Keller. Wie damit umgehen?
Ehrler-Scharplatz: Das stimmt, mit 13, 14 Jahren kommen oft andere Themen auf. Die Peergroup wird wichtiger, die Lehrstellensuche nimmt viel Raum ein. Es ist okay, wenn ein Kind dann findet: «Mir ist der Sport zu viel.» Hier müssen Vereine offen sein und sagen: «Dann kommst du halt nur einmal im Monat zum Trainieren.» Vielleicht wird es nach einiger Zeit ja auch wieder mehr.
Sehen Sie noch andere Möglichkeiten?
Rest-Rivero: Bei uns im Verein können Jugendliche ab 14 Jahren den Hilfsleiter oder die Hilfsleiterin machen. Sie absolvieren also eine kleine Fortbildung und unterstützen dann die jüngeren Kinder im Training. Das ist für viele ein Anreiz, dabei zu bleiben und weiter Sport zu treiben. Wir wiederum behalten sie im Verein, indem wir ihnen Verantwortung übertragen. Was gerade in der Pubertät sehr wichtig ist: eine konkrete Aufgabe zu haben, irgendwo eingebunden zu sein. Für uns ist das natürlich auch eine Nachwuchssicherung: Diese Jugendlichen werden vielleicht später selbst mal Übungsleitende. Überhaupt gilt es, die Jungen mehr in die Gesellschaft einzubinden.
Ehrler-Scharplatz: Manche entwachsen in der Pubertät aber auch einfach einer Sportart oder brauchen schlicht eine andere Bewegungsform. Hier hilft es, sich umzuorientieren. Doch das wissen Kinder in dem Alter selbst, Eltern haben darauf nur noch wenig Einfluss.
Aber ist es für manche Sportarten dann nicht zu spät? Wer erst mit 14 mit Fussball oder Handball anfängt, wird es in vielen Teams nicht so leicht haben, weil die meisten anderen Gleichaltrigen schon viel früher damit begonnen haben.
Ehrler-Scharplatz: Das liegt dann aber in erster Linie an den Leitenden beziehungsweise daran, wie jemand in eine Gruppe aufgenommen wird. Von der sportlichen Leistung her dürfte dies in den wenigsten Fällen ein Problem sein.
In erster Linie kommt es darauf an, wie Bewegung generell im Elternhaus gelebt wird.
Rest-Rivero: Der einzige Grundstein, der idealerweise bereits früh gelegt werden sollte, ist die Freude am Sport und an der Bewegung. Hier haben Eltern in den ersten Jahren einen grossen Einfluss.
Man sollte also so früh wie möglich den Nachwuchs sportlich fördern.
Rest-Rivero: Mit Mutter-Kind- beziehungsweise Vater-Kind-Turnen zu starten und danach weiter ins Kinderturnen zu gehen, ist natürlich ideal. Zumal sich Kinder viel von anderen Kindern abgucken. Ausserdem stärkt dies ihre koordinativen Fähigkeiten. Aber man kann auch später mit Sport anfangen. Wobei ein junger Körper natürlich schneller lernt.
Ehrler-Scharplatz: In erster Linie kommt es darauf an, wie Bewegung generell im Elternhaus gelebt wird, welche Vorbilder Mutter und Vater in diesem Punkt sind. In der Kindheit wird nun mal die Basis für sportliche Betätigung bis ins hohe Alter gelegt. Und das ist so wichtig.
Muss es dabei immer eine konkrete Sportart sein? Reicht nicht auch Toben auf dem Spielplatz?
Ehrler-Scharplatz: Kinder brauchen unbedingt Zeit, in der sie selbst und ohne Anleitung spielen können, zum Beispiel auf dem Spielplatz oder im Wald.
Zuerst geht es nur darum, dass Kinder sich überhaupt bewegen.
Rest-Rivero: Ich würde sagen: Beides ist wichtig. Ein Spielplatz bietet einen idealen Bewegungsrahmen. Doch Fairness, Einsatz und Teamplay lernen Kinder eher in einer Sportlektion.
Ehrler-Scharplatz: Genau! Auch Durchhaltevermögen, das Umgehen mit Erfolg und Misserfolg sowie das Übernehmen von Verantwortung gegenüber dem Team gehören dazu. Oder die Auseinandersetzung mit anderen, das Sich-Einordnen in einem Team und das Einhalten von Regeln. Kurz: Im Sport lernt man für alle Bereiche des Lebens etwas. Und fühlt sich einer Gruppe zugehörig – das ist ganz zentral.
Rest-Rivero: Und man lernt im Idealfall, Leidenschaft für etwas an den Tag zu legen. Etwas leidenschaftlich zu machen, geht in unserer Gesellschaft allgemein verloren. Auch hierbei kann Sport helfen.