Das Kind wahrnehmen, statt es beurteilen
Viele Eltern verlieren nach den ersten paar Monaten die Neugier auf ihr Kind und fangen an, es nur noch zu bewerten und zu korrigieren. Sie machen es dem Kind dadurch sehr schwer, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Es ist für uns alle, aber vor allem für Kinder wesentlich, wahrgenommen zu werden – und es gibt einen Unterschied zwischen «sehen», «begaffen» und «wahrnehmen». Ich möchte ein universelles Beispiel geben – es ist universell zu nennen, da es überall auf der Welt Geltung hat: Ein zweijähriges Kind befindet sich das erste Mal auf der Rutschbahn. Es wird genauso wie alle anderen Kinder auf der Welt ausrufen: «Mama, schau mich an!» Denn genau das ist es, was sie brauchen: wahrgenommen zu werden und nicht bestaunt oder begafft zu werden.
Sie brauchen also jemanden, der in Worten oder Taten ausdrückt: «Ja, ich sehe, dass du da bist!» Als Mutter des Kindes auf der Rutschbahn kannst du nun einfach dastehen und deinem Kind zuwinken. Du kannst aber auch «Hey!» oder «Ich sehe dich!» sagen. Oder wenn du wirklich wahrnimmst, wie sich dein Kind das erste Mal auf der Rutschbahn fühlt, dann kannst du ihm auch mehr dazu sagen: «Du hast ja viel Spass auf der Rutschbahn, aber auch ein bisschen Angst, stimmts?»
Es gibt Eltern, die wie aus der Pistole geschossen immer nur eins sagen: «Gib acht! Tu dir nicht weh!» Sie zerstören damit die Erfahrung des Kindes.
So eine Aussage ist ein grosses Geschenk: Du hast deinem Kind geholfen, Worte zu finden für seinen momentanen Zustand in der Welt. Die meisten Eltern aber fangen an, das Kind zu loben, als ginge es hier um eine Leistung. Sie verwechseln Erfahrung mit Leistung und kommentieren: «Das hast du toll gemacht!» Dabei hat das Kind weder etwas getan, was gut, noch etwas, was schlecht sein kann. Es ist einfach hinuntergerutscht und hat dabei innerlich eine ganze Menge erlebt.
Auf die Definitionsmacht verzichten
Es gibt auch Eltern, die wie aus der Pistole geschossen immer nur eins sagen: «Gib acht, tu dir nicht weh!» Oder: «Mach dich nicht schmutzig!» Egal, was das Kind gerade tut, die Eltern haben nur diese Kommentare parat. Und was sie damit tun, ist ihnen gar nicht bewusst: Sie zerstören die Erfahrung des Kindes, indem sie vom Kind verlangen, dass es ihre Regeln bestätigt, statt dass sie als Eltern die Existenz ihres Kindes bestätigen – und das ist es, was das Kind wirklich bräuchte, um sein Selbstwertgefühl entwickeln zu können.
Erwachsene haben eine tödliche Macht, Dinge zu definieren, ein Ausdruck, den eine norwegische Pädagogin vor einigen Jahren geprägt hat («the adult power of definition»). Erwachsene haben die Macht, Kinder als gut oder schlecht, als hysterisch oder süss «zu definieren». Aber je mehr du jemanden definierst, umso weniger Raum gewährst du ihm, damit er herausfindet, wer er ist. Wie sollen also Kinder herausfinden, wer sie sind, wenn sie ständig unfair beurteilt werden? Diese Macht der Erwachsenen, alles zu definieren, ist im Grunde Gift für die Kinder. In der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls kann ihnen gar nichts Schlimmeres passieren.
Es geht einfach nur darum, sich an eine neue Sprache zu gewöhnen. Und wenn du damit anfängst, wirst du so viel positives Feedback erfahren, dass du damit nicht mehr aufhören kannst. Wenn du in einer beurteilenden, wertenden Sprache verbleibst, vereinsamst du irgendwann und gerätst nur noch in Konflikt.
Wenn du einen persönlichen Dialog führen möchtest, sprichst du über dich und nicht über mich. Wenn du aber anfängst, mich zu verurteilen, dann ist klar: Ich werde es auch tun – und schon ist der Streit da. Wir kämpfen jeweils um unsere Positionen und verlieren dabei den Kontakt zueinander. Jeder überschüttet den anderen mit Vorwürfen, und es ist völlig unproduktiv: Wir lassen zwar Dampf ab, aber verletzen uns auch gegenseitig und sind zum Schluss beide unglücklich und keineswegs geheilt.
Auch eine positive Wertung stabilisiert ein Kind nicht
Eltern und Kindern. Eltern beurteilen sie ständig, sagen ihnen, was sie gut oder schlecht finden. Der einzige Unterschied ist, dass Kinder in den ersten neun Jahren ihres Lebens tatsächlich glauben, dass ihre Eltern recht haben, dass sie die besten Eltern der Welt sind – ganz egal, ob sie ihre Kinder als positiv oder negativ «definieren».
Einer meiner ersten Klienten, ein Sohn wohlhabender Eltern, der in allen Lebensbereichen erfolgreich war, sich aber selbst nicht ausstehen konnte, hat es in einer der Sitzungen sehr gut auf den Punkt gebracht: «Meine Eltern haben mir immer gesagt, wie wunderbar ich bin, aber sie haben mir keine Substanz mit auf den Weg gegeben.» Sie haben ihm ein schönes Label verpasst, aber dieses Label hatte keinen Inhalt. Wie soll er sich wunderbar fühlen? Wie fühlt sich so etwas an? Das Label hilft ihm nicht, diese Frage zu beantworten. Die Eltern haben es wohl gut gemeint, ihn mit einem positiven Label zu versehen, aber ein Label bleibt ein Label, ob negativ oder positiv – es hat keine Tiefenwirkung und stabilisiert das Kind nicht wirklich. Für ein solches Kind ist es sehr schwierig, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Ich sage nicht, dass Eltern das Verhalten der Kinder niemals beurteilen sollen. Natürlich kann man dem Kind sagen, dass es schlecht ist, die heisse Herdplatte anzufassen. Aber man sollte zwischen «Wie sich ein Kind verhält» und «Wer das Kind ist» unterscheiden. Denn Eltern denken darüber gar nicht oder recht kurzschlüssig nach: Wenn das Verhalten nicht in Ordnung ist, ist das Kind nicht in Ordnung! Und das ist ein Fehlschluss. Das Kind ist kein böses Kind, nur weil es sich überzeugen wollte, ob die Herdplatte tatsächlich heiss ist. Wenn du ihm das aber so vermittelst: «Du bist böse!», machst du es dem Kind sehr schwer, sein Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Eltern können ganz simpel sagen: «Ich will nicht, dass du das und das tust!» Damit sagst du dem Kind, was du willst, es hat also die Gelegenheit, dich besser kennenzulernen, und sein Selbstwertgefühl kann sich entwickeln: Es weiss, es ist in Ordnung, wie es ist!
In den ersten neun Jahren ihres Lebens glauben Kinder tatsächlich, dass ihre Eltern recht haben.
Was ich damit allerdings nicht meine, ist, dass Kinder einfach wunderbar sind und alles tun sollten, wozu sie gerade Lust haben. Aber sie dauernd zu kritisieren und zu korrigieren, als würden sie nichts gut genug machen, das hilft ihnen keinen Schritt weiter – und auch den Erwachsenen nicht. Die können nämlich auf diese Weise ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl auch nicht aufpäppeln.
In persönlichen Beziehungen sollte es immer möglich sein, dein Unbehagen oder deine Unzufriedenheit auch anders auszudrücken, als bloss indem du den anderen zurechtweist. Was du nämlich dabei machst, ist, dich auf den Thron zu setzen – und das geht nur auf Kosten des anderen.
Das Merkwürdige ist, das stelle ich immer wieder mit Erstaunen fest, dass Eltern in den ersten zwölf Monaten des Kindes sehr eifrig dabei sind, herauszubekommen, wer dieses Kind ist. Wenn es weint, wollen sie wissen, warum. Wenn es sich freut, ebenfalls. Also haben Erwachsene grosses Interesse daran, zu wissen, ob es ihrem Kind gut geht oder nicht. Sie sind sehr neugierig auf jede seiner Reaktionen. Aber nach diesen ersten paar Monaten verlieren Eltern plötzlich dieses Interesse und sie fangen an, das Kind zu «definieren» – sie fangen an, jede seiner Taten zu beurteilen, und sind nur noch am Korrigieren.
Erwachsene haben demnach ein Problem, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben. Sie wollen zwar wissen, wie es ihnen geht, fragen aber dann nicht: «Wie geht es dir?», sondern: «Was ist heute los mit dir?» Das heisst, sie geben dem Kind das Gefühl, es sollte sich gefälligst anders verhalten – denn so ist es nicht in Ordnung. Sie warten gar nicht ab, dass das Kind ihnen etwas erzählt, sondern schiessen gleich los. Ich meine, es steckt eine tiefe Wahrheit in dem Sprichwort: «Du machst Kinder böse, indem du sie für böse erklärst.»