Die Grenzen der Kinder achten

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Kinder signalisieren ihren Eltern, was sie mögen und was nicht. Und ihre Integrität sollten Mütter und Väter wahren. Sie sollten aber auch ihre eigenen Grenzen deutlich machen.
Wenn du ein Kind in deinen Armen hältst und nach einer gewissen Zeit guckt es dich nicht mehr an, sondern guckt weg, dann heisst das, dass es ihm reicht. Und wenn du sein Zeichen nicht verstehst oder respektierst, dann wird es als Nächstes den ganzen Kopf von dir abwenden. Und diese Geste heisst gewiss nicht «Ich will mehr!», sondern «Ich brauche eine Pause!». Nach einer Pause kannst du dann wieder in Kontakt treten. Wenn du aber auch diese Geste übergehst, dann solltest du dich nicht wundern, dass das Kind anfängt zu schreien.
Dies ist eine sehr gute Periode, um beispielsweise selbstkritisch zu verfolgen: Wann tue ich Dinge, um ein guter Vater zu sein, und wann bin ich tatsächlich ein guter Vater, ohne es sein zu wollen? Dein Kind wird es dir sofort signalisieren, wenn du es beobachtest und respektierst. Wenn du es allerdings nicht respektierst, dann wird es sich komplett in seine innere Welt zurückziehen und sich isolieren, oder es wird ohne Unterlass weinen – das sind dann die sogenannten «Schreier».
Wann tue ich Dinge, um ein guter Vater zu sein, und wann bin ich tatsächlich ein guter Vater, ohne es sein zu wollen?
Authentisch statt höflich sein
Übrigens gibt es auch da kulturelle Unterschiede. Wenn ich zum Beispiel in Dänemark eine Familie auf der Strasse treffe und ich die Kinder bereits kenne, dann werden sie mich anschauen, und die Eltern werden gleich sagen: «Sagst du nicht Guten Tag?» Die Eltern merken gar nicht, dass sie damit eine Grenze überschreiten, denn die Kinder haben mich angeschaut und haben mir auf diese Weise Hallo gesagt. Ich kenne sie ja und weiss, was sie mir mit ihrem Verhalten mitteilen wollen. Aber die Eltern geraten in Panik, da sie meinen, das würde dem sozialen Standard nicht entsprechen. Auf ein «Hallo, nett, dich zu sehen!» verzichte ich gerne, da sagen mir die Augen der Kinder mehr.
Wenn sich nun dieselbe Situation in Kroatien oder Italien abspielt, wo die Menschen ganz allgemein körperlich zugewandter sind, werden die Eltern die Kinder sogar nötigen, mich zu küssen. Und du kannst es vielen Kindern ansehen, dass sie das gar nicht gerne tun. Also, warum sollten sie mich küssen, und warum sollte ich mich von ihnen küssen lassen wollen? Ich bin ja für sie immerhin ein Fremder und das, was von ihnen erwartet wird, ist ein intimer Akt. Aber die Eltern sehen das anders: Für sie gehört es zur Konvention und ist so etwas wie ein soziales Ritual – sie denken sich dabei gar nichts, sind aber sehr erstaunt, wenn sie von mir hören: «Ich möchte nicht, dass mich die Kinder küssen.» Damit drücke ich dann auch Folgendes aus: Warum sind wir hier? Um ernsthaft miteinander zu reden oder um bloss nett zueinander zu sein?
Kinder unter acht Jahren wollen ihre Eltern 24 Stunden am Tag besitzen. Also musst du ihnen Grenzen setzen.
Ich sage nicht, du sollst Kinder nicht berühren und in der Angst schweben, du könntest ihre Grenzen verletzen – nein, berühre sie, aber wenn du von ihnen eine ganz bestimmte Botschaft erhältst, dann beachte sie.
Kinder sollen Grenzen überschreiten
Ich erinnere mich noch an folgende Situation vor 50 Jahren: Mein Vater kommt von der Arbeit zurück, er setzt sich an den Tisch und liest seine Zeitung. Nun wollte ich aber als kleiner Junge, dass er mir aus meinem Märchenbuch vorliest. Ich gehe also zu ihm hin, bitte ihn darum, und was geschieht? Er schaut mich nicht einmal an, sondern meine Mutter. Und die weiss sofort, was seine Augen mitteilen: «Nimm ihn weg, er stört mich!» Als «gute Frau» hätte sie mich sogar auf dem Weg zu ihm aufgehalten und mir vorwurfsvoll gesagt: «Siehst du nicht, dass dein Vater Zeitung liest? Du darfst ihn nicht stören!» Solche Sätze verletzen!
Es ist wichtig, dass wir uns im Kontakt mit Kindern von einer sozialen Standardsprache in Richtung persönliche Sprache bewegen.
Aber auch Erwachsene haben untereinander Schwierigkeiten, eine persönliche Sprache zu sprechen, und werden sehr schnell unpersönlich. Wenn ein Mann das erste Mal mit einer Frau zusammen ist und mehr von ihr will, als sie geben kann, dann flüchtet sie sich hinter den Satz: «Du kannst das nicht tun.» – «Wieso? Wer bist du denn, dass du mir sagst, was ich machen darf?» Oder sie sagt: «Das macht man mit Frauen nicht so!» – «Welches ‹Man› macht das mit Frauen nicht so?» – In so einer Situation können sich Mann und Frau in endlosen Diskussionen verlieren. Wenn die Frau hingegen ganz persönlich sagen würde: «Ich will das nicht!», dann gibt es nichts zu diskutieren – keiner hat recht, keiner unrecht. Es ist so, wie es ist! Sie will nicht, und er muss es respektieren.
Es ist sehr wichtig, vor allem im Kontakt zu Kindern, die schliesslich von uns lernen, was Grenzen sind und was Empathie bedeutet, dass wir uns von einer sozialen Standardsprache in Richtung persönliche Sprache bewegen.
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Jesper Juul (1948 – 2019)
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt.
Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch