Frau Garibovic, brauchen auch «einfache» Kinder Grenzen?
Viele Mütter und Väter sind heute verunsichert und kommen ihrer Verantwortung als Eltern nicht nach, sagt Sefika Garibovic, Expertin für die Nacherziehung schwieriger Jugendlicher. Die Pädagogin über die Schattenseiten der Abklärung, konsequente Erziehung und warum Kinder Hierarchien brauchen.
Ein unscheinbares Bürogebäude in der Zuger Bahnhofstrasse. Dritter Stock, eine hochgewachsene Frau öffnet die Tür: rote Hose, weisse Bluse, schwarze High Heels. Die Frisur sitzt perfekt, die Augen strahlen. Eine Figur wie aus einem Film. Dann klingelt ihr Handy. Eine entschuldigende Geste in Richtung Journalistin. «Hallo» ... «Ja, bist du krank? Hast du getrunken?» ... «Das Leben ist kein Wunschkonzert.» ... «Es wäre gut, wenn du heute Mittag kommen würdest.» ...
Wir sind mitten im Thema.
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Frau Garibovic, war das ein Klient von Ihnen? Was fehlt ihm oder ihr?
Es ist ein 17-jähriges Mädchen. Sie trinkt, nimmt Drogen, ist in den letzten Jahren von diversen Schulen geflogen, hat in verschiedenen Heimen und sogar auf der Strasse gelebt. Sie hat ihren Körper verkauft, um sich den Stoff finanzieren zu können. Vor ein paar Monaten sind ihre Eltern, gut situiert, mit ihr zu mir gekommen. Ich soll jetzt das reparieren, was sie jahrelang kaputt gemacht haben.
Harte Worte, aber für Sie Ihr täglich Brot. Was sind das für Kinder, mit denen Sie zu tun haben?
Es sind austherapierte Kinder und Jugendliche. Manchmal aus fremden Kulturen, aber zwei Drittel stammen aus Schweizer Familien. Sie waren bei Psychologen, Psychiatern und Pädagogen. Sie waren stationiert, platziert, manche haben zahlreiche Heimaufenthalte hinter sich. Sie fliegen von der Schule, tyrannisieren ihre Familien, Lehrer, manche nehmen Drogen oder werden sogar kriminell. Diese jungen Menschen finden ihren Platz nicht; nicht bei sich selber, nicht in der Familie, nicht in der Gesellschaft.
«Nirgendwo wird so viel Geld mit Kindern verdient wie hierzulande.»
Wer beauftragt Sie?
Oft erhalte ich von Sozialämtern, der KESB, Gemeinden oder der Jugendanwaltschaft den Auftrag. Manchmal gelangen Eltern über Empfehlung direkt zu mir.
Wie gehen Sie dann vor?
Zuerst einmal bestehe ich darauf, dass alle Therapien sofort abgebrochen werden. Dann gehe ich in die Familie. Ich will sehen, wie das Kind lebt, wie die Familie miteinander umgeht. Das kann auch schon mal unangemeldet um 2 Uhr in der Nacht sein.
Um zu sehen, ob der Jugendliche zu Hause oder unterwegs ist, ob Vater oder Mutter betrunken sind.
Genau, das ist viel aufschlussreicher als die meterhohen Dossiers zu lesen, die auf meinem Schreibtisch landen. Und was gar nichts bringt, ist die Kinder ausschliesslich in meine Sprechstunde kommen zu lassen: «So, wir haben 45 Minuten Zeit, jetzt erzähl mal.» Zu Beginn rede ich.