«Angststörungen bei Kindern haben wegen Corona zugenommen» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Angststörungen bei Kindern haben wegen Corona zugenommen»

Lesedauer: 6 Minuten

Noch nie gab es so viele kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle wie seit Beginn der Coronakrise. Dr. Brigitte Contin-Waldvogel, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrie Baselland, erklärt im Interview, wieso die Pandemie Kinder und Jugendliche besonders hart trifft und welche psychischen Langzeitfolgen daraus entstehen können. 

Frau Dr. Contin-Waldvogel, eine Studie des Bundesamtes für Gesundheit (siehe Box) stuft Kinder und Jugendliche als Risikogruppe ein, dies wegen der psychischen Auswirkungen der Coronakrise. Wie erleben Sie das in Ihrer Praxis? 

Die Anmeldungen bei uns in der Jugend- und Kinderpsychiatrie haben klar zugenommen. Das führen wir direkt auf die Pandemie zurück. Im November und Dezember haben wir normalerweise immer einen grösseren Anstieg an Fällen. Aber letztes Jahr waren es besonders viele, an manchen Tagen verzeichneten wir bis zu 100 Prozent mehr Anmeldungen.

Was genau stresst die Kinder und Jugendlichen?

Generell haben Angststörungen eindeutig zugenommen. Wir registrieren sehr viel mehr verängstigte oder überängstliche Patientinnen und Patienten als in den Jahren zuvor. Wir haben Kinder, die Zwänge entwickelt haben, wie zum Beispiel Waschzwang oder die Angst, Mami, Papi oder die Grosseltern anzustecken.

Dr. Brigitte Contin-Waldvogel ist Chefärztin und Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrie Baselland.
Dr. Brigitte Contin-Waldvogel ist Chefärztin und Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrie Baselland.

Ist die Corona-Pandemie der einzige Grund für die vermehrten Fälle?

Nur ein Belastungsfaktor reicht in der Regel nicht, um die psychologische Stabilität zu schwächen. Anders gesagt: Wenn ein Kind oder eine jugendliche Person sehr stabil ist, dann wird die jetzige Situation diesem Menschen nicht zwangsläufig mehr schaden. Es braucht immer eine Grund-Disposition und in der Regel mehrere Faktoren, die zusammenkommen, damit das Fass überläuft.

Gibt es noch andere Krankheitsbilder, die nun verstärkt in Erscheinung treten? 

Ja. Das sind Depressionen, Ohnmachtsgefühle bis hin zu einem Gefühl der Sinnlosigkeit im Extremfall. Aber man muss auch sagen, dass jede Situation, so auch die Coronakrise, zwei Seiten hat. Nicht alle finden die Pandemie schlimm.

Was meinen Sie damit? 

Wir haben es in der Kinderpsychiatrie immer mit Extremen zu tun. Und so gibt es auch diejenigen Kinder und Jugendliche, die in dieser Krise regelrecht aufleben, weil sie ohnehin auf dem sozialen Rückzug waren und dieser nun offiziell legitimiert ist. Oder Schulphobiker, also Kinder und Jugendliche, die Angst haben vor der Schule. Die fanden es natürlich im Lockdown toll, zu Hause bleiben zu können. Auch Kinder, die vorher wenig Aufmerksamkeit von Eltern erhielten, weil diese viel weg waren, genossen es im Lockdown, Mami und Papi häufiger um sich zu haben.

Die Pandemie dauert nun schon gut ein Jahr. Wie wirkt sie sich auf Ihre Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiaterin aus? 

Wie in allen Spitälern ist das Personal an der Belastungsgrenze. Wenn Kollegen oder Kolleginnen krank werden und ausfallen, wird es eng und dann heisst es zu improvisieren. Medizinisch gesehen haben wir uns noch mehr auf Notfälle und Akutsituationen konzentriert. Routine-Abklärungen mussten wir reduzieren, was bedeutet, dass wir anders priorisieren.

«Ganz wichtig ist, dass Eltern dem Kind vermitteln: Du bist nicht alleine, wir halten zusammen.» 

Aber dann fallen Kinder, die andere psychologische Probleme haben, fast ein bisschen durchs Raster derzeit? 

Ja, das ist leider so. Nehmen wir das Beispiel einer ADHS-Abklärung. Das hört sich jetzt primär nicht nach Notfall an. Aber das kann sich, wenn man zu lange zuwartet, durchaus zu einem entwickeln, wenn ein betroffenes Kind und dessen Eltern nicht rechtzeitig Hilfe bekommen. Wir geben aber unser Bestes und versuchen, uns um alle Kinder und Jugendliche möglichst zeitnah zu kümmern.

Wie stehen Sie zum Thema Schulschliessung? Was macht sie mit psychisch gefährdeten Jugendlichen?

Aus kinderpsychiatrischer Sicht finde ich es nicht gut. Wir wollen ja unsere Kinder dazu erziehen, sich sozialkompetent in der Gesellschaft zu bewegen, statt alleine zu Hause vor sich hin zu lernen. Für das Kognitive, für das Miteinander, für das Lernen und für die sozialen Kompetenzen hat eine Schulschliessung daher eine einschränkende Auswirkung auf das Kind. Und eben, wenn ein Kind schon eine Disposition für ein psychologisches Problem hat, dann wird das verstärkt. Aber man muss ganz klar auch abwägen: Für die psychische Gesundheit eines Kindes wäre es auch eine Tragödie, wenn Grosseltern oder Eltern am Coronavirus sterben würden, weil Schutzmassnahmen nicht umgesetzt worden wären. Und dazu gehören nun mal Schulschliessungen.

Ein Teenager kann in der Regel klar ausdrücken, was ihm fehlt. Wie ist das mit jüngeren Kindern? Die Belastung bei jüngeren Kindern ist für Eltern wohl viel schwieriger zu verstehen. 

Bei kleineren Kindern äussert sich dies oft in körperlichen Beschwerden wie Bauchschmerzen, Kopfweh, Schlafstörungen oder über regressive Symptome. Das heisst zum Beispiel, wenn ein Kind wieder anfängt ins Bett zu nässen.

Was hilft Kindern und Jugendlichen mit psychischen Belastungen und was raten Sie?

Wichtig ist, dass sich Eltern selbst nicht zu sehr verunsichern lassen. Ich weiss, dass ist ein frommer Wunsch in diesen Zeiten. Aber trotzdem ist es wichtig, Kinder und Jugendliche dies nicht zu sehr spüren zu lassen. Positiv bleiben und Zuversicht ausstrahlen. Das ist ganz wichtig. Vor allem kleinere Kinder sind sehr beeinflussbar, und wenn «s’Mami und dr Papi» sagen, es kommt schon gut und wir haben das im Griff, dann wirkt sich diese Stimmung auch beruhigend auf das Kind aus. Ich weiss, dass das nicht immer einfach ist: Besonders, wenn Eltern verzweifelt sind, weil sie zum Beispiel den Job verlieren. Aber man sollte es trotzdem versuchen.

Welche Anzeichen zeigen, dass man sich professionelle Unterstützung holen sollte?

Man geht ja in der Regel mit dem Kind nicht gleich zur Psychiaterin oder zum Psychiater. Sehr oft ist Kindern und Jugendlichen schon geholfen, wenn sie sich an ihre Eltern oder andere starke Bezugspersonen wenden können wie Götti oder Tante. Was wirklich sehr wichtig ist dabei: Nicht alleine bleiben mit den Problemen. Je grösser und belastender die Ängste, desto eher sollte man sich bei uns melden. Warnsymptome sind auf jeden Fall, wenn jemand nicht mehr redet, sich komplett und dauerhaft verschliesst, immer mehr auf Rückzug macht, Schlafstörungen hat, wiederkehrende Ängste äussert oder andauernde verschiedene Körpersymptome entwickelt.

Welche langfristigen Folgen kann die Coronakrise für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben?

Auch hier spielt die psychische Veranlagung eine entscheidende Rolle. Auch hängt die Entwicklung davon ab, welche Stabilisatoren das Kind in seinem Umfeld hat. Und ob das Kind direkt davon betroffen ist. Wenn der Vater oder die Grossmutter an Corona gestorben ist, dann können es Traumatisierungen sein, die verarbeitet werden müssen.

Eltern müssen ein Feingefühl dafür entwickeln, wie viel an Information über Corona einem Kind guttut. 

Wie offen sollten Eltern mit ihren Kindern über die Corona-Pandemie sprechen? Können zu viele Details auch negative Auswirkungen haben auf die Kinder indem Sie zum Beispiel mehr Ängste auslösen? 

Zum Glück filtern Kinder oft von sich aus die für sie relevanten Infos. Als Erwachsener muss man ein Feingefühl dafür entwickeln, wie viel an Information guttut. Bei einem ängstlichen Kind, das sich vieles zu Herzen nimmt und sich viel die Hände wäscht, muss man nicht ständig auf die Gefahren hinweisen. Bei einem nachlässigen Kind müssen Eltern natürlich schon erklären, wieso Hygiene so wichtig ist. Kurz gesagt: Das Gleiche ist nicht immer für alle gleich gut.

Und so beunruhigend die Situation auch sein mag, die gemeinsame Erfahrung gehört zu den grossen psychologischen Stabilisatoren, sagen Sie. 

Absolut. Ganz wichtig ist, dass Eltern dem Kind vermitteln: Du bist nicht alleine, wir halten zusammen. Wir stehen das zusammen durch. Es ist halt schon so: Alles, was man miteinander durchsteht, ist halb so schlimm.


Einfluss von Covid-19 auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

Eine BAG-Studie und eine Umfrage der Uni Basel zur psychischen Gesundheit kommen zum Schluss, dass Kinder und Jugendliche im besonderen Mass von der Coronakrise betroffen sind. Zu schaffen mache Jugendlichen unter anderem der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen. Zudem befürchten Experten langfristige negative Folgen für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. 

BAG-Studie zur psychischen Gesundheit der Schweizer Bevölkerung

Die BAG-Studie zur psychischen Gesundheit der Schweizer Bevölkerung stuft in ihrem Teilbericht vom November 2020 Kinder und Jugendliche als Risikogruppe für psychische Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ein. Jüngere Menschen weisen demnach im Vergleich zu den älteren Generationen eine höhere psychische Belastung auf. Entwicklungspsychologisch befinden sich Kinder und Jugendliche in einer besonders sensiblen und prägenden Lebensphase.

Risiken und Stressfaktoren für Kinder und Jugendliche
Angst, Frustration oder Stress können bei dieser Altersgruppe mittel- und längerfristige Folgen auslösen. Denn fehlende oder reduzierte soziale Interaktionen und Kontaktbeschränkungen wirkten sich, so die Studie, stärker auf das Beziehungs- und Bindungsverhalten junger Menschen aus als auf Erwachsene, deren Verhaltensmuster schon gefestigt sind. Belastungen und Risiken während der Coronakrise sind zudem eingeschränkte körperliche Aktivitäten, schlechtere Ernährung oder häusliche Konflikte und Gewalt. Emotionale Schwierigkeiten können sich durch Stress, Isolation oder Unsicherheit über die eigene Zukunft zeigen.

Quelle: BAG, November 2020

Link zur Gesamtstudie des BAG

Umfrage Uni Basel: starker Anstieg an psychischer Belastung in der zweiten Covid-19-Welle

Auch eine aktuelle Erhebung der Uni Basel zur psychischen Belastung in der zweiten Covid-19-Welle kommt zum Schluss, dass der psychische Stress im Vergleich zum Frühjahr klar zugenommen hat. Besonders stark betroffen sind auch hier junge Menschen. Demnach beträgt die Häufigkeit schwerer depressiver Symptomen bei der Gruppe der 14- bis 24-Jährigen knapp 30 Prozent.

Zum Vergleich: Bei den 35- bis 44-Jährigen betrug sie 17 Prozent, bei den 45- bis 54-Jährigen 14 Prozent, bei den 55- bis 64-Jährigen 13 Prozent und bei den über 65-Jährigen vergleichsweise nur noch 6 Prozent.

Link zur Umfrage: www.coronastress.ch


Hilfe bei persönlichen Krisen

www.duureschnuufe.ch
Plattform für psychische Gesundheit rund um das Coronavirus

Beratung rund um die Uhr:


Beratungstelefon von Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche):
Telefon 147,
www.147.ch


Die Dargebotene Hand. Beratungstelefon für Erwachsene:
Telefon 143,
www.143.ch

Irena Ristic

Irena Ristic
arbeitet seit 2012 als feste freie Online-Redaktorin bei Fritz+Fränzi. Die gebürtige Baslerin bewegt sich gern in freier Natur.

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