Jung, verletzt – und lebensmüde? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Jung, verletzt – und lebensmüde?

Lesedauer: 13 Minuten

Fast jeder fünfte Jugendliche hat sich schon einmal absichtlich selbst Verletzungen zugefügt, etwa mit Rasierklingen oder Zigaretten. Sind diese Buben und Mädchen suizidgefährdet? In den meisten Fällen nicht, sagt unsere Autorin. Psychologische Hilfe sollten sie trotzdem in Anspruch nehmen.

Text: Joana Straub
Bilder: Getty Images

Dieser Artikel wurde am 18. Oktober 2022 aktualisiert.

Vergangenen Monat rief mich eine Lehrerin an. Sie wusste nicht mehr, was sie tun soll: Sie habe eine Schülerin, die sich seit gut eineinhalb Jahren regelmässig am Unterarm mit einer Rasierklinge ritze. Lange habe die 15-jährige Pia* die Verletzungen geheim halten, indem sie immer lange Ärmel trug. Doch eines Tages entdeckte eine Schul­kameradin in der Umkleidekabine vor dem Sportunterricht die Wunden und wandte sich besorgt an die Lehrerin, mit der Bitte, Pia zu helfen.

Die Lehrerin suchte umgehend das Gespräch mit dem Mädchen, liess sich die Verletzungen zeigen und fragte nach dem Grund. Pia erklärte: «Indem ich mir selber wehtue, kann ich besser mit negativen Gefühlen und inneren Anspannungen umgehen.» Mehr wollte sie nicht erzählen. Die Lehrerin befürchtete, Pia könnte sich so tief schneiden, dass sie dabei ums Leben kommt.

Das nicht-suizidale verletzende Verhalten ist für den Jugendlichen vorrangig eine Möglichkeit der Spannungsreduktion.

Es handelt sich in vielerlei Hinsicht um eine typische Situation. Laut internationalen Erhebungen fühlt sich ein Grossteil der Pädagoginnen und Schulsozialarbeiter unsicher im Umgang mit Jugendlichen, die sich selbst verletzen.

Meist reagieren sie mit Erschrecken, oft mit Mitgefühl und Anteilnahme, mitunter aber auch mit Abneigung, Ekel und Unverständnis.

Viele fragen sich, ob die Selbstverletzungen ein Indiz für einen drohenden Suizid darstellen. Oft wissen sie nach eigenen Angaben nicht, wie sie mit den Jugendlichen am besten ins Gespräch kommen und sie unterstützen können.

Nur in den seltensten Fällen haben Angehörige der genannten Berufsgruppen eine konkrete Schulung für den Umgang mit solchen Kindern erhalten. Dabei kommen fast alle irgendwann einmal mit Betroffenen in Berührung. Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter ist ein recht häufiges Phänomen. Weltweit berichten 18  Prozent der unter 19-Jährigen, also fast jeder Fünfte, sich im vergangenen Jahr zumindest einmal selbst bewusst körperlichen Schaden zugefügt zu haben.

Meist reagiert das Umfeld mit Mitgefühl und Anteilnahme, mitunter aber auch mit Abneigung, Ekel und Unverständnis.

Regelmässig tun dies wesentlich weniger. In Deutschland gaben rund vier Prozent der Jugendlichen an, sich in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt selbst verletzt zu haben (zur Situation in der Schweiz siehe Interview mit Marc Schmid).

Sie benutzen dazu etwa Rasierklingen oder Zigaretten oder besprühen die Haut aus ­nächster Nähe mit einem Deospray, was zu Kälteverbrennungen führen kann. Einige Buben erzählen zudem, dass sie mit der Hand gegen eine Wand schlagen, bis sie blutet, und sie dann Erleichterung verspüren.

Allerdings steht hinter all diesen Verhaltensweisen nicht die Absicht, sich das Leben zu nehmen – der Fachbegriff lautet daher: nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten, kurz NSSV.

Suizidgedanken kommen häufig vor

Die Befürchtung der Vertrauens­lehrerin, Pia könnte Suizid begehen, ist dennoch nicht leichtfertig abzutun: Jugendliche beschäftigen sich weit mehr mit dem Gedanken daran, als man vielleicht annehmen würde. So gab bei einer Vergleichsstudie in 17 europäischen Ländern aus dem Jahr 2012 in Deutschland jeder dritte Schüler an, bereits mindestens einmal über einen Suizid nachgedacht zu haben.

Rund ein Drittel dieser Gruppe wiederum erzählt von konkreten Plänen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Davon versuchen zirka zwei Drittel, das auch in die Tat umzusetzen.

Buben berichten, dass sie mit der Hand gegen eine Wand schlagen, bis sie blutet – und dann Erleichterung verspüren.

Tatsächlich stellt Suizid die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen dar, wobei viermal mehr Buben als Mädchen sich das Leben nehmen. Wie aber hängen selbstverletzendes Verhalten und Suizid zusammen? Laut Studien ist die Mehrheit derjenigen, die sich selbst verletzen, nicht suizidal.

Zwar stellt NSSV, wenn es wiederholt vorkommt, ein Risikofaktor für Suizidver­suche dar. Aber Fachleute sehen es vorrangig als eine Bewältigungsstrategie, die es ermöglicht, besser mit negativen Emotionen wie Stress und innerer Anspannung umzugehen.

Nur ein Teil der Betroffenen gibt an, dass es ihnen dabei hilft, sich von Suizidgedanken abzulenken. Verletzt sich ein Schüler jedoch häufig tiefer sowie an eher ungewöhnlichen Stellen (etwa am Rumpf), scheint das Suizidrisiko grösser.

Durch die ständigen Verletzungen erhöht sich mit der Zeit die Schmerzschwelle und somit die Gefahr lebensgefährlicher Selbstschädigung.

Für Bilder von Ritzverletzungen gibt es viele Likes 

In jedem Fall brauchen die Jugendlichen psychologische Hilfe. Doch woran können Pädagogen betroffene Schüler überhaupt erkennen? Die meisten Kinder, die sich selbst verletzen, tun dies wie Pia etwa im Alter von 13 bis 14 Jahren zum ersten Mal.

Ab einem Alter von ungefähr 17 Jahren sind die Zahlen rückläufig, wie eine 2015 veröffentlichte Studie von Forschern um Paul Plener vom Universitäts­klinikum Ulm zeigte. Nicht erklärbare Schrammen und Wunden sowie unpassende Kleidung – zum Beispiel lange Ärmel im Sommer – können Hinweise sein.

Im Idealfall sollte man als Helfer also nicht geschockt oder panisch reagieren, sondern dem Schüler ruhig und mitfühlend gegenübertreten.

Gelegentlich können Lehrpersonen zudem scharfe Gegenstände wie Rasierklingen und Messer finden, oder es fällt ihnen auf, dass sich ein Schüler im Schulalltag häufig zurückzieht und etwa immer wieder auf der Toilette verschwindet. Manche Jugendliche fertigen auch eindeutige Texte oder Zeichnungen an.

Und gar nicht selten verbreitet sich NSSV epidemieartig im Freundeskreis: Wie das Team um Paul Plener 2016 beobachtete, ernten die Betroffenen für ihre in sozialen Netz­werken geposteten Bilder von Ritz­verletzungen viele Likes und grosse Anteilnahme.

Psychische Belastungen lösen starke Gefühle wie Trauer, Wut und Erregung aus.

Das nicht-suizidale verletzende Verhalten ist für den Jugendlichen vorrangig eine Möglichkeit der Spannungsreduktion. Im Idealfall sollte man als Helfer also nicht geschockt oder panisch reagieren, sondern dem Schüler ruhig und mitfühlend gegenübertreten, im Sinne einer respektvollen Neugier.

Geben Sie dem Schüler unbedingt das Gefühl, dass Sie ihn als Person schätzen, auch wenn Sie das Ritzen selbst nicht gutheissen. Im Gespräch hilft es, sich der Ausdrucksweise des Jugendlichen anzupassen, indem man dessen Wortwahl aufnimmt. So könnte die Vertrauenslehrerin Pia fragen: «Wobei hilft es dir, wenn du dir selbst wehtust?»

Es empfiehlt sich, dem Ritzen selbst nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, denn dies verstärkt unter Umständen das Verhalten noch.

Ausserdem sollte sie dem Mädchen vor Augen führen, dass sich andere Menschen – wie etwa ihre Mitschülerinnen und Mitschüler – um sie sorgen. Ohne sie unter Druck zu setzen, sollte die Lehrerin unbedingt betonen, dass Pia von anderer Seite Unterstützung erwarten kann: «Ich bin vielleicht nicht diejenige, mit der du reden willst, aber ich kann dir helfen, jemanden zu finden.»

Falls das Mädchen das Gespräch mit einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten ablehnt, könnte die Lehrerin einen Schul­psychologen oder -sozialarbeiter hinzuziehen, der in der Methode des «therapeutic assessment» geschult ist.

Hierbei handelt es sich um spezielle Gesprächstechniken, die zum einen dazu dienen, festzustellen, ob Behandlungsbedarf besteht, und zum anderen dabei helfen, die Betroffenen zu einer Therapie zu motivieren.

Es empfiehlt sich ausserdem, dem Ritzen selbst nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, denn dies verstärkt unter Umständen das Verhalten noch. Auch sollte die Lehrerin Pia auffordern, die Verletzungen weiterhin bedeckt zu halten und sich nicht mit Mitschülern darüber auszutauschen.

Abbau von schlechten Gefühlen

Die konkrete Suizidgefährdung einzuschätzen, ist nicht einfach. Viele Jugendliche, die sich selbst verletzen, berichten von Problemen innerhalb der Familie wie einer Scheidung der Eltern, von Ärger im Freundeskreis und Mobbing, von Liebeskummer oder schulischen Schwierigkeiten.

Psychische Belastungen lösen starke Gefühle wie Trauer, Wut und Erregung aus. Die meisten Jugendlichen, die sich selbst verletzen, geben wie Pia an, es helfe ihnen dabei, solche schlechten Gefühle abzubauen.

Einige wollen sich selbst bestrafen oder sie erhoffen sich, dass andere ihre Notlage sehen und ihnen beistehen. Manche berichten auch, erst der Schmerz ermögliche ihnen, sich selbst oder die eigenen Grenzen zu spüren. Seltener erklären sie, sie suchten den «Kick» – was letztlich oft ein Versuch ist, einem Gefühl innerer Leere oder Taubheit zu entfliehen.

Lebensmüde Schüler leiden oft an Überforderung

Vergleicht man die in verschiedenen Studien zu NSSV erhobenen Daten mit jenen von suizidgefährdeten Jugendlichen, lassen sich Parallelen erkennen. «Lebensmüde» Schüler fühlen sich noch viel häufiger und stärker mit einer Vielzahl von Belastungen konfrontiert, die sie allein nicht bewältigen können. Bei ungefähr 90 Prozent jener, die schliesslich tatsächlich Suizid begehen, wurde bereits zuvor eine psychische Störung diagnostiziert.

Einige wollen sich selbst bestrafen, andere erhoffen sich, dass ihre Notlage erkannt und ihnen beigestanden wird.

Die Suizidgefahr steigt, wenn sich ein Jugendlicher sozial isoliert fühlt, weil er keine Freunde oder andere Vertrauenspersonen hat, oder wenn ein schwerwiegendes Ereignis wie der Tod eines geliebten Menschen ihn belastet.

Ebenso scheinen ein Suizidfall oder eine psychische Erkrankung in der eigenen Familie das Risiko zu erhöhen. Die Vertrauenslehrerin fragte Pia beim nächsten Gespräch: «Du hast erzählt, dass dir das Ritzen hilft, mit negativen Gefühlen umzugehen. Hast du eine Idee, was diese auslösen ­könnte?»

Es kam heraus, dass Pia sich viel öfter mit ihrer Mutter stritt, seit ihr Vater vor gut zwei Jahren ausgezogen war. Ausserdem meinte sie, dass sie keine richtig gute Freundin habe und sich daher oft sehr einsam fühle.

Die Lehrerin rät Pia dazu, sich einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin anzuvertrauen. Diese könne ihr auch bessere Ratschläge für den Umgang mit Mitschülern, Lehrern und Eltern geben.

Wann ist die Suizidgefähr erhöht?

Erhöht ist die Suizidgefahr laut Studien, wenn Jugendliche von anhaltenden, kaum kontrollier­baren Gedanken, sich etwas anzutun, berichten und auch selber den starken Wunsch zu sterben äussern.

Dasselbe gilt, wenn schon in der Vergangenheit ein Suizidversuch stattfand oder wenn der Betroffene schon früher entsprechende Pläne geschmiedet hat beziehungsweise dies sogar aktuell tut. Hier lautet die Regel: Schätzt er das Gegenüber als suizidgefährdet ein, sollte der Therapeut direkt danach fragen.

Bei hoher Suizidgefahr liegen meistens sowohl akute Stressoren vor als auch eine behandlungsbedürftige psychische Störung.

Man könnte denken, dass man einen Jugendlichen mit der Frage nach Suizidgedanken erst auf die Idee bringt. Diese Befürchtung wurde aber in kontrollierten Studien wie der von Madelyn Gould und Kollegen von der Columbia University an mehr als 2300 Schülern ausgeräumt.

Buben und Mädchen, die eingehend zu Suizidgedanken befragt wurden, beschäftigten sich zwei Tage später nicht mehr stärker damit. Im Gegenteil: Jugendliche mit depressiven Symptomen oder suizidalen Ideen – als Hochrisikopersonen eingestuft – fühlten sich danach psychisch sogar eher besser.

Das Suizidrisiko bestimmen

Eine Psychotherapeutin könnte Pia also fragen: «Wird dir ab und zu alles zu viel, sodass du manchmal gedacht hast, es wäre vielleicht besser, nicht mehr am Leben zu sein?» Und sollte das Mädchen dies bejahen, sollte sie nachhaken: «Hast du auch schon einmal überlegt, wie du das konkret machen würdest?»

Oder: «Hast du bereits versucht, dir das Leben zu nehmen?» Je offener, ruhiger und selbstverständlicher man diese Aspekte erfragt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der oder die Betroffene ehrlich antwortet und sich entsprechend öffnet. Viele Jugendliche berichten, sich im Nachhinein durch solche Fragen vor allem entlastet gefühlt zu haben.

Die Sorge, dass man einen Jugendlichen mit der Frage nach Suizidgedanken erst auf die Idee bringt, ist unbegründet.

Mit der Berücksichtigung all dieser Faktoren lässt sich bestimmen, ob das Suizidrisiko gering, mittel oder hoch ist. Die Einschätzung müssen allerdings Fachleute, wie etwa approbierte Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder ­Kinder- und Jugendpsychiater vornehmen.

Bei hoher Suizidgefahr liegen meistens sowohl akute Stressoren vor als auch eine behandlungsbedürftige psychische Störung. Hier muss die Therapie möglicherweise stationär in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik stattfinden.

Versichert der Jugendliche dagegen glaubhaft, sich nichts antun zu wollen, kann er gegebenenfalls ambulant behandelt werden, etwa in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie beziehungsweise -psychiatrie.

Die Vertrauenslehrerin schaffte es, Pia davon zu überzeugen, dass sie die Unterstützung anderer Menschen und vor allem ihrer Eltern braucht. Mit Zustimmung des Mädchens führt sie daher Gespräche mit der Mutter und dem Vater.

Darin legt sie dar, dass sich Pia durch deren Trennung immer noch sehr belastet fühlt, insbesondere dann, wenn sie ihre Unstimmigkeiten über die Tochter austragen. Gemeinsam mit ihrer Mutter beschliesst Pia schliesslich, sich probeweise einmal mit einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin zu treffen. Diese sieht keine akute Suizid­gefahr.

Selbstverletzungen – was tun? Ein kurzer Leitfaden für Pädagogen
  • Bei frischen Wunden zunächst eine medizinische Versorgung einleiten.
  • Nicht schockiert reagieren. Die Selbstverletzungen sind in aller Regel kein Suizidversuch, sondern eine kurzfristig wirksame ­Bewältigungsstrategie gegen ­seelische Schmerzen.
  • Mit dem Jugendlichen Verbindung aufnehmen: zuhören, seine Gefühle ernst nehmen, Wertschätzung für ihn als Person ausdrücken, nicht bevormunden oder das Verhalten bewerten. Keine absolute ­Verschwiegenheit versprechen.
  • Auf keinen Fall verlangen, dass der Schüler sofort mit dem selbst­verletzenden Verhalten aufhört, denn das könnte ihn überfordern.
  • Hoffnung auf emotionale Unterstützung aufbauen, Hilfe bei der Therapeutensuche anbieten.
  • Einen Schulpsychologen oder ­-sozialarbeiter hinzuziehen oder sich mit anderen Fachleuten in Verbindung setzen.
  • Sich in Büchern Rat holen, z. B. in: Tina In-Albon et al., Selbstverletzendes Verhalten. Hogrefe 2015.

Pia mag die Therapeutin, und so ist sie damit einverstanden, sie einmal wöchentlich aufzusuchen. Pias Therapiebereitschaft ist kein aussergewöhnlicher Glücksfall. Laut Befragungen will ungefähr die Hälfte derjenigen, die sich selbst verletzen, das Verhalten eigentlich aufgeben – Hilfsangebote sollten bei ihnen also auf fruchtbaren Boden fallen.

In der Therapie werden die individuellen Auslöser ausfindig gemacht. Berichtet ein Schüler zum Beispiel von Mobbing, wäre dieses Problem wiederum zusammen mit den Lehrpersonen anzugehen.

Dabei sollte aber wegen der «Ansteckungsgefahr» das Thema NSSV selbst nie vor der Klasse thematisiert werden. Interventionen auf Klassenebene sollten sich lediglich mit allgemeineren Aspekten befassen, etwa: «Wie gehe ich mit Belastung und Stress um?»

Häufige Rückfälle

In einem nächsten Schritt kann der Therapeut zusammen mit dem Jugendlichen überlegen, welche sogenannten Skills er oder sie statt selbstverletzendem Verhalten anwenden könnte. Dabei handelt es sich um Fertigkeiten, die kurzfristig wirksam sind, ohne langfristig zu schaden.

Dazu zählen Achtsamkeitsübungen, Entspannungstechniken wie autogenes Training, Ablenkung – Musik hören, Joggen gehen, Playstation spielen –, manchmal auch so etwas wie in eine Chilischote beissen, wenn es eines intensiven Reizes bedarf.

Weil jeder unterschiedlich auf die diversen Skills anspricht, müssen häufig erst einmal einige Varianten ausprobiert werden, bis die richtige gefunden ist. Insbesondere in schwierigen Zeiten kommt es dabei zunächst häufiger zu Rückfällen, was weder Helfer noch Betroffene demotivieren sollte.

Rund die Hälfte derjenigen, die sich selbst verletzen, möchte das Verhalten eigentlich aufgeben.

Vielmehr gilt es, die Auslöser gemeinsam unter die Lupe zu nehmen und zu überlegen, wie der Jugendliche anders reagieren und welche alternative Bewältigungsstrategie er das nächste Mal ausprobieren könnte.

Pia beispielsweise kommt mit den Entspannungsübungen nicht zurecht, sie kann sich dabei einfach nicht von ihren negativen Gedanken lösen. Da sie sportlich ist, rät ihr die Therapeutin, nach einem belastenden Streit zu Hause ihre Joggingschuhe anzuziehen und sich «die Wut von der Seele zu laufen».

Dass diese Empfehlung auch medizinisch gesehen sinnvoll ist, haben Studien längst belegt: Schon nach kurzer Zeit setzt die körperliche Betätigung Prozesse im Körper in Gang, welche die Stimmung anheben.*

Dass diese Empfehlung auch medizinisch gesehen sinnvoll ist, haben Studien längst belegt: Schon nach kurzer Zeit setzt die körperliche Betätigung Prozesse im Körper in Gang, welche die Stimmung anheben.

* Name geändert.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift «Gehirn + Geist».

Joana Straub
ist leitende Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitäts­klinikums Ulm. Sie engagiert sich in der Entwicklung und Durchführung von Lehrerworkshops zur Suizidprävention.

«Eltern dürfen nicht wegschauen» 

Selbstverletzendes Verhalten hat immer eine Ursache und sollte angesprochen werden, sagt Marc Schmid, leitender Psychologe der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Forschungsabteilung der UPK Basel.

Herr Schmid, wie viele Jugendliche in der Schweiz zeigen selbstverletzendes 
Verhalten?

Wir haben das in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Forschungsabteilung des UPK Basel untersucht. Es gibt viele Jugendliche bei uns, die angeben, sich bereits einmal selbst verletzt zu haben. Etwa 4,5 Prozent taten das mindestens viermal in den letzten sechs Monaten. In kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken sind es sogar 50 Prozent und bei Jugendlichen, die in sozialpädagogischen Wohngruppen leben, 38 Prozent.

Welche Funktion hat dieses Verhalten?

Die häufigste Ursache für Selbstverletzungen ist die Beendigung von heftigen Spannungszuständen, unangenehmen Gefühlen oder das Kreisen um negative, belastende Gedanken. Heftige Spannungszustände gehen bei den Betroffenen auch mit einem Verlust des Körpergefühls einher. Mithilfe der Selbstverletzung spüren sich die Betroffenen wieder und beruhigen sich.

Man weiss, dass Mädchen häufiger betroffen sind als Buben. Welche Altersgruppe ist besonders gefährdet? 

Selbstverletzungen beginnen in der Regel nach der Pubertät und meistens erst nach der ersten Menstruation. In dieser Lebensphase treten oft Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation auf, das Körpergefühl und das eigene Körperschema verändern sich. Zudem ist der Selbstwert in dieser Entwicklungsphase labiler und es kommt häufiger zu kritischen Selbstwertungsprozessen. Der Kontakt zu Gleichaltrigen ist in diesem Alter sehr wichtig. Das Gefühl der Zurückweisung durch andere Personen ist in mehreren Studien als ein Auslöser für Selbstverletzungen identifiziert worden. Zudem sind Jugendliche und junge Erwachsene viel anfälliger für Gruppendynamiken.

Das heisst, manche lernen selbst­verletzendes Verhalten von anderen? 

Sozusagen. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass kein Jugendlicher sich einfach selbst verletzt, weil das andere tun, sondern dass dahinter sehr zentrale Bedürfnisse wie dazuzugehören stehen. Für die Über­windung des selbstverletzenden Verhaltens ist es viel besser, diese Bedürfnisse herauszuarbeiten und zu versorgen.

Welche Faktoren führen vermehrt zu Selbstverletzungen?  

Risikofaktoren sind Belastungen in der Familie, belastende Lebenserfahrungen, wenig soziale Kontakte in der Klasse. Faktoren, die hingegen vor selbstverletzendem Verhalten schützen, sind eine gute soziale Integration, positive Freizeitaktivitäten, insbesondere auch Einbindung in Sportvereinen oder Musikgruppen. Dies alles scheinen protektive Faktoren zu sein. Ein guter Selbstwert und eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, sprich der Glaube daran, Probleme lösen zu können, gehen ebenfalls mit einem geringeren Risiko für Selbstverletzungen einher.

Woran erkenne ich als Mutter oder Vater, ob mein Kind gefährdet ist? 

Eltern sollten sich sorgen, wenn sich ihr Kind sehr viel zurückzieht, oft bedrückt und gereizt wirkt, sein Interesse an Hobbys verliert, sich von Freundinnen zurückzieht und den Eltern aus dem Weg geht. Man sollte genau hinhören, wenn es sich wiederholt selbst abwertet und negativ äussert. Sehr auffällig ist natürlich auch, wenn Jugend­liche im Hochsommer nur langärmelige Sachen tragen und vermeiden, dass man Beine und Arme sieht, indem sie zum Beispiel nicht mehr schwimmen gehen.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn sie dieses Verhalten beobachten oder sogar Verletzungen bei Ihrem Kind entdecken?

Es ist sehr wichtig, nicht wegzuschauen und keinesfalls so zu tun, als bemerke man nichts. Wichtig ist es auch, dem Kind keine Vorwürfe zu machen, sondern seine Sorge auszudrücken, dranzubleiben, ein Beziehungsangebot zu machen und aufrechtzu­erhalten, auch wenn es die oder der Betroffene nicht sofort annehmen kann. 

Gefährliche Gegenstände wie Messer oder Scheren wegzu­räumen, ist hingegen wenig Erfolg versprechend. Betroffene Jugendliche finden immer etwas, mit dem sie sich selbst verletzen können, wenn sie es wirklich wollen. Es ist viel besser, mit dem oder der Betroffenen verbindliche Absprachen zu treffen, was man machen kann, wenn die Anspannung und der Ritzdruck ansteigt, und Hilfe anzubieten.

Wann sollte ich als Mutter oder Vater ­professionelle Hilfe hinzuziehen? Wie könnte diese aussehen? 

Es ist sicher gut, Jugendliche, die sich mehr als einmal selbst verletzt haben, dazu zu motivieren, professionelle Hilfe anzunehmen. Sinnvoll ist es, in diesem Gespräch zu betonen, dass man besorgt ist und möchte, dass er oder sie Hilfe bekommt und die Suche nach Hilfe auch als Eltern mit der nötigen Präsenz begleitet. Alle erfolgreichen Therapien, egal welcher therapeutischen Schulrichtung, haben gemeinsam, dass sie an der Selbstwahrnehmung von Gefühlen und Interaktionsmustern ansetzen und den Heranwachsenden dabei helfen, ihre Gefühle und Bedürfnisse besser wahrzunehmen und sich auch in schwierigen sozialen Interaktionen besser auszudrücken.

Marc Schmid
Marc Schmid ist leitender Psychologe und Bereichsleiter der Kinder- und Jugend­psychiatrischen Forschungsabteilung der Universitären psychiatrischen Kliniken Basel.

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