Politisches Erwachen zwischen Würstli und Kartoffelsalat -
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Politisches Erwachen zwischen Würstli und Kartoffelsalat

Lesedauer: 2 Minuten

Unsere Kolumnistin Michèle Binswanger und ihre erwachsenen Kinder haben die Lust an der politischen Debatte entdeckt. Still werden alle erst, wenn die Grossmutter das Wort ergreift.

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Politik ist seltsam. Ich erinnere mich genau, wie schwierig ich es fand, meinen kleinen Kindern zu erklären, was das ist. Normalerweise versucht man ihnen ja beizubringen, anständig durchs Leben zu gehen und die Wahrheit zu sagen.

Ihnen dann zu erläutern, warum gerade die wichtigsten Personen in der Schweiz, unsere Politiker, nicht immer alles sagen und warum sie sich in den sozialen Medien aufführen, als wären sie Kindergärtler, bringt einen in Not. Politik ist fast immer eine Enttäuschung, zumindest wenn man alt genug ist, um miterlebt zu haben, was aus grossen Versprechungen im Lauf der Jahre wird.

Mit erwachsenen Kindern wird alles einfacher. Nicht nur, weil ein bisschen Lebenserfahrung hilft, komplexe Probleme zu verstehen. Sondern weil der Reifeprozess idealerweise auch darin mündet, sich als politisches Wesen zu verstehen und in der Lage zu sein, sich bei Wahlen und Abstimmungen eine Meinung zu bilden, diskutiert man dann irgendwann auch über Politik.

Im Unterschied zu den sozialen Medien sind unsere unterschiedlichen Per­spektiven fruchtbar.

Dazu eignet sich besonders der Familientisch. Seit meine Tochter ausgezogen ist und die neue Selbständigkeit ihr politisches Profil geschärft hat, grenzt sie sich auch hier gern gegenüber ihrer Familie ab. Sie argumentiert entlang der Linie der SP. Ich, eine bürgerlich eingemittete Ex-Linke, spiele den Advocatus Diaboli, suche Löcher in ihren Argumentationen.

Der Sohn wiederum, gerade 18 und volljährig geworden, wird vor allem von der Lust am Diskutieren und dem Stolz auf seine intellektuelle Unabhängigkeit getrieben. Gern beteiligt sich auch meine Mutter, die uns jeweils am Montag besucht und bekocht und über die Themen der Stunde immer im Bilde ist. 

Und so diskutieren wir, vier Menschen aus drei Generationen, zwischen Würstli und Kartoffelsalat über die AHV-Reform, Woke-Kultur und die ­Corona-Politik des Bundes. Jeder schickt seine eigenen Erfahrungen, Perspektiven und Meinungen in die Arena, auf dass sie von den anderen zerpflückt werden.

Wir sind ein engagiertes Diskutiertrüppchen und einig sind wir uns selten. Aber im Unterschied zu den sozialen Medien, wo Meinungsverschiedenheiten schnell in wüste Wortgefechte ausarten, sind unsere unterschiedlichen Per­spektiven fruchtbar.

Wenn meine Mutter spricht, halten alle kurz die Klappe und besinnen sich darauf, was wirklich wichtig ist. Nämlich, einander auch mal zuzuhören.

Wenn ich mich über Transaktivisten aufrege, die gegen J. K. Rowling Stimmung machen, weist mein Sohn mich auf die Lebensrealität von Transpersonen in seinem Leben hin. Wenn meine Tochter von benachteiligten Frauen im Erwerbsleben spricht, gebe ich zu bedenken, dass sie dabei im Familienrecht gewisse Vorteile geniessen.

Meine Mutter steuert ihre Erfahrung als Kinderpsychiaterin bei und wird von allen als moralisch höchste Instanz respektiert. Wenn sie spricht, halten alle kurz die Klappe und besinnen sich darauf, was wirklich wichtig ist. Nämlich, einander auch mal zuzuhören.

Wir mögen Probleme verschieden sehen, wir mögen Argumente gewinnen wollen, aber wir mögen uns auch zu sehr, um uns deswegen zu zerstreiten. Viel lieber machen wir uns die Mühe zu verstehen, warum der andere dort steht, wo er steht. Vielleicht ist es das, was der politischen Kultur heute fehlt. Und eine moralische Instanz, damit alle einfach mal die Klappe halten und zuhören.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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