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«Jugendliche stehen unter hohem psychischem Druck»

Lesedauer: 9 Minuten

Der deutsche Jugendforscher Klaus Hurrelmann sagt, junge Menschen seien noch nie so früh in die Pubertät gekommen wie heute. Das habe einen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung und die ersten zehn Lebensjahre eines Kindes.

Interview: Birgit Weidt
Bilder: Robert Rieger

Herr Hurrelmann, was zeichnet die Generation Z der heute 12- bis ­25-Jährigen aus?

Wir haben eine junge Generation, die in einer krisengeschüttelten Zeit heranwächst und die Krisen, die wir durchleben, politisch thematisiert. Aus meiner Sicht ist das eine zutiefst konstruktiv denkende Generation. Fridays for Future war nie irgendein blinder Protest! Diese Bewegung ist weniger gegen als vielmehr für etwas. Die jungen Menschen von heute erleben so etwas wie eine ­Dauerkrise, permanente, unerwartete Veränderungen sind fast schon Normalität. Sie sind Krisenkinder und sie wissen es auch.

Heutige Jugendliche wissen: Eine lange Lebensplanung ist für sie weder möglich noch sinnvoll.

Das heisst, sie wissen oder spüren: Eine wirklich lange Planung des eigenen Lebens ist für sie weder möglich noch sinnvoll. Sie müssen sich immer wieder an den Wandel anpassen. Das macht sie auch so politisch. Es ist eine Generation, die global denkt und darüber hinaus ihre Selbstverwirklichung im Blick hat. 

Das globale Denken macht die Jugendlichen so politisch?

Auch. Doch ist es für eine Generation nur möglich, politisch zu denken, wenn sie nicht zittern muss, ob sie in Ausbildung und Beruf kommt. Die Jugendlichen wachsen beruflich und finanziell abgesichert heran, können eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz bekommen. Gleich­zeitig ist die allgemeine Situation sehr angespannt, denn eine solche Abfolge von Krisen hat es in der neueren Geschichte nicht gegeben. Diese Anspannung ist für viele der Impuls, sich politisch zu engagieren.

Klaus Hurrelmann, 79, war Professor für Sozialisation an den Universitäten Essen und Bielefeld und ist derzeit Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. Er war Gründungsdekan der ersten Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Deutschland an der Universität Bielefeld. ­Hurrelmann ist Mitglied des Leitungsteams mehrerer fortlaufender nationaler Studien zur Entwicklung von Familien, Kindern, Jugendlichen und jungen ­Erwachsenen.

Dann ist die Situation wohl ­vergleichbar mit den 70er-Jahren.

Richtig, damals gab es einen vergleichsweise starken politischen Aktivismus durch die Studentenbewegung, die sogenannte 68er-Generation. Es war ein Auflehnen gegen etwas, ein Aufstand gegen die Eltern und die autoritäre Haltung der Erwachsenen. Nach dieser rebellischen Zeit hatten wir eine lange Periode mit einer unsicheren Berufssituation, weshalb die Generation Y, die vor 2000 Geborenen, unsicher waren, ob sie in Lohn und Brot kommen und einen Berufsweg einschlagen können.

Im 18. Jahrhundert lag die biologische Reife bei 17 Jahren, nun bei 12 Jahren. Dafür zieht sich die Jugendphase heute sehr lange hin.

Besonders die Jugendarbeitslosigkeit war hoch und jeder musste sehen, wo er bleibt. Die jungen Leute heutzutage können die Krisen aushalten, weil die finan­zielle Lage nicht beziehungsweise noch nicht angespannt ist. Trotz dieser relativ stabilen Situation ist die psychische Belastung hoch. 

Warum sind die beruflichen Chancen heute so gut?

Das hat eine demografische Komponente. Die sogenannten Babyboomer im Alter von 55 plus gehen nach und nach in Pension. Auch wenn die Schweiz ein bisschen abgekoppelt ist von den grossen europäischen Wandlungen und Schwankungen, gilt hier ähnlich: Man kann ungefähr sagen, zwei Arbeitende hören auf, doch nur einer steht als Nachrücker zur Verfügung. Das erhöht die Marktchancen für junge Leute.

Ist durch die angespannte Situation der Dauerkrise die Identitätsfindung in der Pubertät schwieriger?

In Bezug auf die Pubertät spielen gesellschaftliche Krisen und Umbrüche eine Nebenrolle. Es geht in erster Linie um die körperliche und seelische Veränderung. Diese Phase hat sich aber historisch gesehen immer weiter nach vorne verlagert. Zum Vergleich: Im 18. Jahrhundert lag die biologische Reife ungefähr bei 17 Jahren, nun bei 12 Jahren. Gleichzeitig zieht sich im Unterschied zu früher die Jugendphase sehr lange hin. Das heisst, es vergeht viel mehr Zeit als in den Epochen davor, bis die traditionellen Meilensteine des Erwachsenenlebens wie der Eintritt in den Beruf und die Gründung einer Familie durchlaufen werden. 

Was bedeutet der frühe Beginn der Pubertät für die Eltern?

Er bedeutet, dass sich Mütter und Väter bereits während der Kinderzeit darüber im Klaren sein müssen, dass sie wie im Fluge vergeht. Deshalb sollten sie sehr darauf achten, in den ersten zehn Lebensjahren ein sehr gutes Fundament für die wei­tere Entwicklung zu legen, das heisst: eine tragende, stabile Beziehung zum Kind zu entwickeln, denn diese wird naturgemäss in der Pubertät schnell infrage gestellt.

Wie gelingt Eltern das?

Sie sollten dem Kind das Gefühl und das Wissen vermitteln: Du bist hier in einer festen und dich tragenden Gemeinschaft. Und neben all der Fürsorge, die wir dir zuteilwerden lassen, haben wir auch Regeln, an denen kannst du mitwirken, doch gelten sie für uns alle. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Mütter und Väter zu wenig Grenzen setzen. Eine klare Struktur schafft Stabilität und Sicherheit. Regeln des gegenseitigen Respekts und der gegenseitigen Wertschätzung sind unerlässlich. Ich spreche hier vom magischen Erziehungsdreieck.

Was besagt das?

Es enthält drei bedeutsame Leitlinien, es geht um Anerkennen, Anregen, Anleiten. Das sind wichtige Bausteine, die in den ersten zehn Jahren im Zentrum der Erziehung stehen. Anerkennen, das ist die Bindungs- und Wertschätzungsebene. Anregungen zu geben heisst, das Kind zu stimulieren, seine eigenen Potenziale auszuschöpfen.

Anleiten meint, ein Regelsystem zu schaffen und deutlich zu machen, dass die Heranwachsenden in einer sozialen Gemeinschaft leben, nämlich in der Familie. Das ist so wichtig geworden wie noch nie, da diese «Grundsteinlegung» heutzutage eben so früh geschehen muss.

Wenn Sie jetzt Vater eines ­neunjährigen Kindes wären, worauf würden Sie besonders achten? 

Das Kind sollte sicher sein, dass ich es so schätze, wie es ist; dass ich es erkenne und auch anerkenne, was es nicht kann. Dennoch sollte das Kind wissen, dass ich Vorstellungen habe, wie es sich weiterentwickeln kann. Weiterhin sollte es spüren, dass auch ich mein Leben, meine Bedürfnisse und Wünsche habe und wir uns deshalb auf bestimmte Dinge einigen müssen, damit der Alltag für die Familie gut funktioniert.

Eltern gehören einer anderen Generation an, sie haben ihre Rolle als Vater und Mutter zu erfüllen und sollen nicht zu Freunden werden.

Mit solch einem sicheren Fundament kann das Kind gut in die Pubertät hineinwachsen, denn die bedeutet ja Ablösung von den Eltern, um selbständig zu werden. Bis zum neunten Lebensjahr muss für eine spätere Ablösung die Voraussetzung geschaffen sein, ohne die Bindung zu verlieren. Es ist dann eine Bindung auf einem neuen Niveau. Den meisten Eltern gelingt dies, wie ich in verschiedenen Studien sehe. Die meisten Kinder sagen, dass sie sich gut mit ihren Eltern verstehen.

Macht gerade eine freundschaftliche Beziehung zwischen Eltern und Kind eine Ablösung nicht auch schwerer?

Eltern gehören einer anderen Generation an, sie haben ihre Rolle als Vater und Mutter zu erfüllen und sollen nicht zu Freunden werden. Dafür sind Gleichaltrige da. Noch einmal: Die Beziehung sollte durch das magische Erziehungsdreieck gekennzeichnet sein. Es ist für die Eltern wichtig, immer auch eine Rollendistanz zu bewahren, deutlich zu machen, dass sie einer anderen Generation angehören. Sie müssen sich abgrenzen – das respektieren Kinder auch, wenn sie gut integriert sind.

«Die Anspannung wegen der Abfolge von Krisen ist für viele der Impuls, sich politisch zu engagieren», sagt Klaus Hurrelmann.

Eltern haben Verantwortung, Autorität, ihr eigenes Leben, ihre Eigenarten, ihre eigene Persönlichkeit. Unabdingbar ist eine gute Kombination aus der Berücksichtigung der Bedürfnisse des Kindes und der eigenen Rolle und Autorität. Manche Eltern spielen diese Autorität herunter, sprechen die gleiche Sprache, tragen dieselbe Kleidung, finden alles toll, das irritiert Kinder eher und nimmt Jugendlichen den Spielraum, anders zu sein.

Aktuelle internationale Jugendstudien zeigen, dass die persönlichen Ängste zurückgehen und Jugendliche sich stärker denn je auf andere Menschen und die Umwelt beziehen. 

Ich bin da skeptisch. Nochmals ein Blick auf die Pubertät: Heranwachsende müssen sich über einen längeren Zeitraum neu verorten, neu bestimmen. Der Körper, die Psyche ändern sich, die Wahrnehmung der Umwelt wird bewusster, die intellektuelle, moralische Urteilsfähigkeit setzt ein, die Reflexionsfähigkeit entwickelt sich. Jugendliche fangen an zu sondieren, nehmen wie Seismografen alles auf, was um sie herum passiert. Manche nehmen fast zu viel wahr.

Ist die Erde noch lebenswert, wenn heutige Jugendliche 50 sind? Eine ­realistische Frage, die manchen ganz schön zusetzt.

Anders als früher ist es in so einer hochsensiblen Zeit schwieriger, in die Pubertät hineinzuwachsen. Ist die Erde noch lebenswert, wenn diese Jugendlichen 50 sind? Das ist eine realistische Frage! Je nach Naturell, nach Sensibilität, kann das einem ganz schön zusetzen. Zusätzlich gab es die Coronakrise, zwei Jahre lang ein Aussetzen des normalen Rhythmus. Dazu der Krieg in Europa und Inflationssorgen.

Was wir jetzt an Krisen haben, das geht für viele zu weit. Ich sehe das in den Studien. 10 bis 15 Prozent eines Jahrgangs kommen mit all diesen Belastungen in der Pubertät nur schlecht zurecht. Ungefähr ein Drittel der 12- bis 25-Jährigen steht psychisch unter enormem Druck und hat Schwierigkeiten, die eigene Identität zu finden. Die Gruppe derer, die Unterstützung und Hilfe brauchen, hat zugenommen.

Und wie gelingt es der anderen Gruppe, besser mit der Situation zurechtzukommen?

Es gibt Jugendliche, die es sogar während der Coronakrise schafften, an den äusseren Einschränkungen und all den Herausforderungen zu wachsen. Eine Komponente hierfür sind die genetische Anlage und das Temperament, optimistisch auf die Welt zu sehen, eine andere als zugewandter Mensch mit grossem Selbstvertrauen ins Leben zu schreiten. Mit der Haltung: Ich schaffe das schon, ich lasse das nicht zu stark an mich heran, ich werde die Herausforderung meistern, ich bin flexibel. Gut, ich muss zu ­Hause bleiben, kann meine Freunde nicht sehen, doch ich halte digital Kontakt zu ihnen.

Sie beginnen ihr Arbeitsleben und sagen: Ich lasse mich durch meinen ­Beruf nicht ­kaputtmachen.

Interessant fand ich jene Jugendlichen, die in dieser Zeit zum Beispiel ihr Zimmer umgeräumt haben. Sie haben damit signalisiert und sich selbst beweisen wollen, dass sie nicht gelähmt, nicht blockiert sind. Sie tun in den eigenen vier Wänden etwas, das noch möglich ist. Das Kinderzimmer umzuräumen, ist psychologisch eine ungeheure Bewältigungsstrategie! Das sind ­Kinder von Eltern, die ihnen eine gewisse Stabilität geben, sie unterstützen, da ist eine gute Basis gelegt worden. Diese Kinder haben das Gefühl, dass ihnen nichts passieren kann, ihre Eltern würden auch für sie einspringen, wenn es nötig ist.

Laut Credit-Suisse-Jugendbarometer 2022 sorgen sich die jungen Menschen in der Schweiz um die Zukunft der Altersvorsorge, um den Umweltschutz und um die Energieversorgung.

Die Sicherheit des Rentensystems hat in der Generation Z tatsächlich einen sehr hohen Stellenwert bekommen. Die jungen Menschen spüren, dass sich die Chance, das eigene Leben durch berufliche Arbeit abzusichern, verschoben hat. Man verdient nicht mehr so viel wie noch die Eltern oder Grosseltern in vergleichbaren Berufen, die sich bei einem normalen Angestelltenverhältnis – auch ohne Erbschaft – eine Immobilie leisten konnten.

Anerkennen, Anregen und Anleiten – das ist für Hurrelmann das «magische Erziehungsdreieck».

Die Gehälter sind anteilsmässig tiefer als in früheren Generationen. Das heisst: Der Beruf gibt zwar eine gewisse Sicherheit, doch wirtschaftlich gesehen wird es keinen grossen Wohlstand mit einer entspannten Altersabsicherung geben.

Hat es damit zu tun, dass für viele Jugendliche die Bedeutung von ­Ausbildung und Beruf zugunsten von mehr Freizeit zurücktritt?

Jugendliche um die 20, die all die Krisen erlebten, haben ihre Massstäbe verschoben. Sie wissen, wie bedeutsam es ist, ein geschütztes privates Leben zu haben, und wie unberechenbar das auch ist, wie schnell es verloren gehen kann! Das ist eine Lehre der Coronakrise plus Kriegserfahrung plus Klimakrise. Es ist für sie fraglich, wie das Leben weitergeht – trotz guter schulischer Ausbildung mit Matura, trotz guter beruflicher Qualifikation.

Mädchen sind in der Schule und im ganzen ­Bildungsverlauf ­erfolgreicher als Jungs.

Sie beginnen ihr Arbeitsleben und sagen: Ich lasse mich durch meinen Beruf nicht kaputtmachen, ich weiss, wie gefährdet mein privates Leben ist. Das sehen sie auch an ihren Eltern, die haben sich für den Beruf aufgeopfert, und was hat es ihnen gebracht? Das muss man verstehen, besonders wenn Unternehmer sagen: Wo bleibt denn die Arbeitsmotivation unter den jungen Menschen? Die wollen keine Überstunden machen, nur vier Tage in der Woche arbeiten, die bewerten ihr Privatleben höher als ihr Berufsleben? Das gab es bei den Älteren, den über 50-Jährigen, nicht. Diesbezüglich haben sich die Verhältnisse verschoben.

In welche Richtung entwickelt sich die Generation Alpha, die Generation der seit 2010 Geborenen?

Ich bin vorsichtig mit Prognosen, obwohl es bereits Studien dazu gibt. Die prägende Zeit der Pubertät kommt erst noch, in der sich entscheidet, welche Mentalität sich aufbaut. Was man sagen kann, ist, dass möglicherweise die Krisenkonstellation anhält, diese Generation jedoch gewissermassen ­daran gewöhnt ist und weiss, wie sie damit umgehen kann. Ich nehme an, dass dieses hohe Niveau der Belastung unter Jugendlichen langsam wieder heruntergeht – wenn nicht noch etwas ganz anderes Dramatisches passiert.

Wir haben noch nicht über die digitale Komponente gesprochen.

Ja, die ist von grosser Bedeutung, die durchzieht alle Bereiche des Lebens. Die neue Generation Alpha ist noch digitaler und selbstverständlicher damit zugange, sie kann sich nichts anderes mehr vorstellen, sie handhabt das alles intuitiv. Es bleibt also für die Eltern in den ersten zehn Jahren eine Herausforderung, auf eine gute Medienkompetenz zu achten.

Man kann, solange es geht, das Kind vom Smartphone und den digitalen Medien fernhalten, aber wenn das Kind nicht irgendwann lernt, bewusst damit umzugehen, ist das schwierig. Eltern müssen hierbei Vorbild sein, Anweisungen geben und diese selbst einhalten.

Zurück zur Generation Z. Bislang war zu beobachten, dass Mädchen aktiver in der politischen Bewegung auftraten als Jungen. Gibt es hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

Ja, das ist seit vielen Jahren der Fall. Mädchen sind in der Schule und im gesamten Bildungsverlauf erfolg­reicher als Jungs, liegen leistungsmässig in den Studiengängen vorn. So wird der Medizinberuf beispiels­weise zu einem Frauenberuf, der ranghöchste Beruf, den wir haben, wird immer mehr von Ärztinnen ausgeführt. Ich glaube, das liegt ­daran, dass die jungen Frauen sich eine sehr offene Geschlechterrolle zurechtgelegt haben, unterstützt durch die Emanzipation.

Es gibt noch die traditionellen Kompo­nenten Kinder, Küche, Kirche, Kommune plus Karriere, das ist das Bemerkenswerte daran. So ein Leben ist auch sehr anstrengend, ausgesprochen anspruchsvoll. Die jungen Männer hinken da noch hinterher. Doch zum Glück bewegt sich mittlerweile auch das männliche Rollenbild weg vom Ernährer der Familie. Generell gilt: Es ist eine Generation, die über den Tellerrand schaut und ihr eigenes Lebensmodell mit Blick auf Selbstverwirklichung, besonders im Privaten, umsetzen möchte.

Birgit Weidt
Birgit Weidt ist Journalistin und Buchautorin und lebt in Berlin. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter sowie Grossmutter.

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