Das Konzept der wachsamen Sorge: Angst um Teenager-Tochter
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«Ich habe Angst, dass meine Tochter nichts vom Leben hat»

Lesedauer: 4 Minuten

Eine Mutter meldet sich beim Elternnotruf. Sie sorgt sich um ihre Tochter, befürchtet, dass sie sich ritzt. Die Beraterin stellt der Mutter das Konzept der wachsamen Sorge vor.

Aufgezeichnet von Yvonne Müller
Bild: Adobe Stock

Mutter: Ich weiss nicht, was ich tun soll. Meine 17-jährige Tochter ist gut unterwegs und doch mache ich mir ständig Sorgen. Auch weiss ich nicht, was ich als Mutter einer Teenagertochter überhaupt noch darf und wann ich eine Grenze überschreite.

Beraterin: Nun, das klingt sehr typisch für dieses Alter. Möchten Sie mir erzählen, worüber Sie sich Sorgen machen?

Mutter: Bis vor einem halben Jahr hat meine Tochter mir immer alles erzählt. Wir hatten viele gute Gespräche und haben auch oft zusammen gelacht. Wissen Sie, ich bin schon viele Jahre alleinerziehend und war immer stolz auf die enge Beziehung, die ich zu meinen zwei Töchtern hatte. Nun zieht sich die ältere immer mehr zurück, bleibt häufig in ihrem Zimmer und kommt nur noch zum Essen raus. Manchmal möchte sie auch nicht mehr mit uns essen.

Beraterin: Was macht sie denn sonst in ihrem Leben?

Mutter: In der Lehre sind sie zufrieden mit ihr. Die Schulnoten könnten besser sein, es reicht aber immer. Sie hat zwei gute Freundinnen, mit denen sie viel zusammen war, die sieht sie jetzt nicht mehr so häufig. Lange ging sie in die Pfadi, damit hat sie auch aufgehört. Dieser Rückzug macht mir grosse Sorgen. Wenn ich sie frage, sagt sie, es sei alles in Ordnung und ich müsse mir keine Sorgen machen. Auch körperlich hat sie sich von mir zurückgezogen, ich darf sie kaum mehr anfassen.

Beraterin: Was ist es, was Sie so beunruhigt?

Mutter: Dass sie nichts hat vom Leben.

Was kann ich tun? Wenn ich sie darauf anspreche, verweigert sie das Gespräch.

Mutter

Beraterin: Von aussen wirkt es so, als sei Ihre Tochter dem Alter entsprechend unterwegs. Ich kann jedoch gut nachvollziehen, dass Sie als Mutter spüren, wenn Ihr Kind nicht wirklich glücklich ist.

Mutter: Genau so ist es. Was kann ich tun? Wenn ich sie darauf anspreche, verweigert sie das Gespräch. 

Beraterin: Mir fällt dazu das Konzept der wachsamen Sorge ein. Es lässt sich gut anhand des Beispiels eines spielenden Kindes im Sandkasten erklären: Stellen Sie sich eine Mutter vor, die mit einer Freundin auf der Bank sitzt und redet und trotzdem ihr Kind aus dem Augenwinkel stets im Blick hat. Das ist die erste Stufe der Aufmerksamkeit, nämlich die offene Aufmerksamkeit. Dann nähert sich ein zweites Kind dem ersten und die Mutter schaut genauer hin, wie die Interaktionen der beiden Kinder verlaufen. Vielleicht ermuntert sie ihr Kind mit Blicken, sich dem zweiten Kind zu nähern. Das ist dann die zweite Stufe, die fokussierte Aufmerksamkeit. Erst wenn die Kinder aufeinander losgehen und es droht, Tränen zu geben, greift die Mutter ein, das ist die dritte Stufe, nämlich Schutz oder Intervention.

Mutter: Und wie lässt sich das nun auf ältere Kinder übertragen?

Beraterin: Ich würde sagen, Sie befinden sich im Moment irgendwo zwischen der ersten und der zweiten Stufe. Sie sehen, dass vieles gut läuft im Leben Ihrer Tochter und Sie ihr viel Verantwortung übergeben können. Sie beobachten sie aber weiterhin und fragen auch immer wieder nach, wie sie unterwegs ist im Leben. Damit signalisieren Sie, dass Ihre Tochter Ihnen wichtig ist, auch wenn sie selbst das Gespräch nicht sucht. Wenn Sie nun aber merken, dass der Rückzug zunimmt, wenn sie zum Beispiel ihre Freundinnen nicht mehr sehen würde, die Schulnoten nachlassen oder sie oft bei der Arbeit fehlt, gehen Sie näher mit Ihrer Aufmerksamkeit und fragen genauer nach. Sie suchen nach einem entspannten Moment und bitten Ihre Tochter um ein Gespräch, in dem Sie Ihre Sorge äussern.

Als Mutter müssen Sie die Verantwortung übernehmen und entscheiden.

Beraterin

Mutter: Und wenn ich nun merke, dass sie Hilfe braucht und sie aber alles verweigert? Ich bin zum Beispiel auch unsicher, ob sie sich manchmal ritzt. Ich weiss, dass das auch eine Art Modeerscheinung ist, aber es ist doch auch ein Hilferuf.

Beraterin: Dann gehen Sie auf die dritte Stufe und erklären Ihrer Tochter, dass Sie nicht weiter zusehen werden und nun Hilfe beanspruchen. Es kann sein, dass Sie für Ihre Tochter einen Besuch bei der Hausärztin in die Wege leiten, um sicher zu sein, dass körperlich alles in Ordnung ist. Es kann aber auch sein, dass Sie ihr erklären, dass Sie psychologische Hilfe suchen, und sie fragen, ob sie lieber eine Frau oder einen Mann möchte und was ihr sonst noch wichtig ist. Wenn es Ihnen gelingt, in diesem Gespräch mit Ihrer Tochter ohne Schuldzuweisungen in Beziehung zu bleiben, wird sie sich mit grösster Wahrscheinlichkeit darauf einlassen. Es ist wichtig, dass Sie in dieser Situation als Mutter die Verantwortung übernehmen und entscheiden.

Mutter: Im Moment ist es doch aber sehr schwierig, überhaupt Therapeutinnen und Therapeuten zu finden.

Beraterin: Es ist wichtig, dass Sie sich nicht zu schnell abwimmeln lassen, sondern bei jedem Anruf, in dem es heisst, dass keine Kapazität frei sei, nachfragen, ob es eine Warteliste gebe und ob die Person am anderen Ende der Leitung jemanden empfehlen könne. Die Suche nach therapeutischen Fachkräften ist zeitaufwendig, aber es lohnt sich, dranzubleiben. Auch die Nachfrage im persönlichen Umfeld kann hilfreich sein.

Mutter: Aber ich schäme mich so, dass ich meinem Kind nicht helfen kann.

Beraterin: Ich kann mir gut vorstellen, dass es anderen Eltern ähnlich geht und dass es tröstlich sein kann, miteinander darüber zu sprechen. Wenn Sie selbst Ihre Scham so gut spüren, kann das hilfreich sein im Umgang mit Ihrer Tochter. Es ist gut möglich, dass auch sie sich schämt, zum Beispiel weil sie sich ritzt.

Elternnotruf

Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch 

An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.

Mutter: Das stimmt, das habe ich mir so gar noch nicht überlegt. Ich werde also im Gespräch mit meiner Tochter vorsichtig sein, wie ich meine Sorge anspreche. Und ich werde mir immer wieder gut überlegen, auf welcher der drei Stufen ich mich gerade befinde. Das Konzept finde ich recht anschaulich. Vielen Dank dafür. Es hat mir gutgetan, diese Sorgen mit jemandem zu besprechen.

Beraterin: Sehr gerne, Sie können sich jederzeit wieder bei uns melden.

Yvonne Müller
ist Co-Leiterin des Elternnotrufs, Beraterin, Dozentin und Supervisorin. Sie ist Mutter eines Teenagers.

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