Die Zukunft Ihres Kindes ist jetzt!
Eltern planen, organisieren, sorgen sich. Völlig unnötig, meint unser Kolumnist Jesper Juul. Viel zentraler sei der wahrhaftige Umgang zwischen uns und unseren Kindern. Wie sollte dieser aussehen?
Seit Jahrhunderten schon haben Eltern versucht, die Zukunft ihrer Kinder zu planen. Es gab viel, worüber sie sich Sorgen machten. Bis zu einem gewissen Mass waren sie dabei Geiselnehmer der kindlichen Individualität und Zukunft. «Alles, was wir wollen, ist, dass du glücklich bist!», lautete das jahrzehntelange elterliche Mantra. Im 21. Jahrhundert gewannen die sozialen Ambitionen der Eltern beträchtlich an Bedeutung. Und zwar so stark, dass es an der Zeit ist, sich einige grundlegende und ethische Fragen zu stellen.
Welche Rolle spielen Kinder im Leben ihrer Eltern – und deren eigenem? Wollen Sie einfach, dass Ihr Kind glücklich ist? Denken Sie oft über die Ausbildung und die Karriere Ihres Kindes nach? Was sind Ihre grössten Sorgen? Welche Träume gibt es für die Zukunft Ihres Kindes – und inwieweit beeinflussen Ihre Träume Ihr Kind? Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihr Kind zu einem gesunden und kompetenten Menschen heranwächst?
Wenn das Kind zum Egoprojekt wird
Wir müssen uns daran erinnern, dass Kinder zu bekommen ein sehr egoistisches Projekt ist. Wir bekommen Kinder nicht der Kinder wegen, sondern in der Hoffnung, dass sie unser Leben bereichern werden. Sobald ein Kind geboren ist, sinkt unsere Selbstsucht und steigt das Interesse an der Sorge um das Kind. Als Eltern schwankt man oft zwischen zwei Extremen: «Du bist mein Kind und ich entscheide!» und «Mein Kind ist mein Leben!». Zwischen diesen beiden Polen gibt es Eltern mit einer ausgewogenen Einstellung.
Doch unabhängig davon, wie ein Kind geboren wird und welche Träume und Ängste Eltern beschäftigen, gibt es unzählige Dinge, die Familien richtig machen können – und noch mehr, die falsch verstanden werden können.
Selbstkompetenz ist der beste Schutz für Kinder – weit effektiver als Strafen, Regeln oder Grenzen setzen.
Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder im Alter von 20 Jahren physisch gesund sind und über gute psychosoziale Kompetenzen verfügen, damit sie fähig sind, mit sich selbst und anderen zurechtzukommen. Dieses Ziel gilt für alle Kinder, egal unter welchen Umständen und in welches Umfeld sie geboren werden. Ein selbstkompetentes Wesen zu sein, ist die Voraussetzung fürs Lernen, sowohl in der Schule als auch vom Leben selbst. Es ist der optimale Schutz gegen jegliche Art von Gefahr oder Risiken, welche die Zukunft bringen könnte.
Es ist ausserdem das Beste, um Abhängigkeiten, Missbrauch, Gewalt, Essstörungen und vieles mehr zu verhindern. Und es ist weitaus effektiver als Grenzen zu setzen, Regeln auf zustellen, zu strafen, moralisch aufzurüsten oder alles andere, was wir gemeinhin als Präventionsmassnahmen erachten.
Trotzdem sind wir noch weit von diesem Ziel entfernt. In vielerlei Hinsicht geht es Erwachsenen und Kindern heute besser als je zuvor. Wenn wir allerdings unsere psychische und soziale Gesundheit betrachten, sieht es anders aus.
Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Missbrauch und Abhängigkeit nehmen zu, ebenso die Zahl Kinder und Jugendlicher in psychologischer Behandlung. Der Verbrauch an Medikamenten ist erschreckend hoch. Der Traum einer Wohlstandsgesellschaft, die Sorge zu unserer Gesundheit und Lebensqualität trägt, hat sich also in einen Albtraum verwandelt. Die einzige brauchbare Lösung ist deshalb: persönliche Verantwortung.
Das Gefühl, dass wir okay sind
Der bestmögliche Schutz, physisch und psychisch gesund zu sein, besteht aus den folgenden Teilen:
- Ein gesundes Gefühl seines Selbst und die Erfahrung, uns als wertvoll für die Menschen zu fühlen, die wir lieben. Das Gefühl, dass wir okay sind. Wir es wert sind, geliebt zu werden, genau so, wie wir sind – hier und jetzt.
- Die Möglichkeit, unser Leben in vollem Umfang zu leben, unser Potenzial bestmöglich zu entfalten, auf intellektueller, emotionaler und psychischer Ebene. All das unterstützt unseren Selbstwert.
Diese Qualitäten entwickeln sich in erster Linie innerhalb der Familie. Es ist ein ernsthaftes Problem für die heutigen Kinder, dass ihre Eltern die Freizeit der Kinder mit externen Anregungen überfrachten. Die Folge davon sind Kinder, die von Unterhaltungsprogrammen überstimuliert sind. Sie haben weder gelernt noch wissen sie, wie sie ihren Weg in ihr Innerstes finden können – jenen Ort, wo die unverfälschte Kreativität verborgen liegt.
Wenn nun Eltern zu alldem auch noch Ambitionen und Ziele für die Zukunft ihres Kindes hegen, so wird Folgendes passieren. Zuerst entsteht ein hoher Stressfaktor. Kinder können im Grunde mehr Stress aushalten als Erwachsene, aber nur wenn sie gelernt haben, sich auch zu entspannen. Das bedeutet, die Fähigkeit zu haben, innezuhalten und dem, was im Inneren passiert, Aufmerksamkeit zu schenken. Das bezeichnet man heute als «Achtsamkeit».
Nun denkt aber das Kind: «Wenn die Erwachsenen ständig mit den nächsten Schritten meiner Entwicklung beschäftigt sind, dann fühle ich mich nicht okay, so wie ich jetzt gerade bin.» Genau diese Beschäftigung mit dem Leben, der Laufbahn und dem Lernprozess des Kindes durch seine Eltern verhindert, dass es ein gutes Gefühl für sich selbst entwickeln und an seine Fähigkeiten glauben kann.
Das Selbstwertgefühl ist aber ein weitaus wichtigerer Schutz als das Selbstvertrauen, das ich mir durch das Erlernen verschiedenster Fähigkeiten aneigne. Gerade für Kinder, die sich aus irgendeinem Grund anders als andere fühlen, ist ein gutes Selbstwertgefühl von besonderer Bedeutung.
Im Moment sind Kinder einem Zuviel an Erziehung ausgesetzt. Das wirkt sich kontraproduktiv aus.
Das bedeutet, dass die Ambitionen, die Eltern für ihre Kinder hegen, letztlich scheitern müssen. Oder kennen Sie jemanden über 45, der sagt, dass Statussymbole sein Leben, seine Beziehungen oder sein Familienleben bereichert haben? Ich bin sicher, die Antwort lautet «nein».
Egal, wen wir fragen, Hirnforscher, Naturwissenschaftler, die sich mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden befassen, Geisteswissenschaftler, Pädagogen oder Entwicklungspsychologen – sie alle kommen zum gleichen Schluss: Es ist nichts daran auszusetzen, sich Ziele zu setzen oder einen Traum zu verfolgen.
Ohne einen Zufluchtsort zu haben, den das «Hier und Jetzt» dem Geist, dem Körper und der Seele bietet, könnte vieles fehlschlagen. Aussergewöhnliche Leistungen brauchen die Fähigkeit, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. So wie eine gute persönliche Beziehung die Fähigkeit braucht, präsent und aufmerksam zu sein.
Im Moment sind Kinder einem Zuviel an «Erziehung» ausgesetzt. Die unübersehbare Folge dessen ist, dass «Erziehung» immer mehr an Einfluss verliert und unerheblich wird, ja sogar kontraproduktiv. Wieder erfahren Kinder, dass sie zu Werkzeugen ihrer Eltern wurden, um ein öffentliches und persönliches Image zu schaffen. Ungefähr 50 Prozent der Kinder unterliegen den elterlichen Bedürfnissen, während die andere Hälfte ihre Eltern herausfordert. Die Anzahl der Kinder mit sogenanntem «unbegründetem Ärger» oder «oppositionellem Syndrom» steigt.
Wieso setzen sich manche Kinder ihren Eltern entgegen oder werden wütend? Weil Eltern zu ihnen sagen: «Wenn du es nicht für uns tust, wirst du niemals ein anständiger Mensch werden!» Diese Aussage ist eine elementare Deklaration des Misstrauens in die natürliche Fähigkeit und den Wunsch eines Kindes, zu kooperieren. Und es ist auch ein Versuch, seine Zukunft zu kontrollieren. Die meisten Eltern sind immer noch nicht daran interessiert, was Kinder wirklich denken und was sie fühlen. Sie sind mehr daran interessiert, wie Kinder zu denken und zu fühlen haben. Das schwächt den Selbstwert des Kindes enorm.
Manche von ihnen entwickeln eine erlernte Hilflosigkeit. Es ist gleichermassen einfach wie schwierig: Verbringen Sie viel Zeit mit Ihrem Kind – vorzugsweise ohne sogenanntes «Lernspielzeug». Sie müssen gar nichts sagen. Sitzen Sie still, beobachten Sie und Sie werden etwas Neues über Ihr Kind erfahren. Versuchen Sie nicht, es zu belehren oder es zu erziehen. Nehmen Sie es einfach so wahr, wie es ist, und seien Sie persönlich. Eine neue Welt wird sich Ihnen öffnen.
Es trifft Sie keinerlei Schuld an der Langeweile Ihres Kindes.
Wenn Ihr Kind zu Ihnen sagt: «Mir ist soooo langweilig!», machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt keinen Grund, sich für die Langeweile Ihres Kindes schuldig zu fühlen oder einen Veranstaltungs- oder Beschäftigungskatalog zu inszenieren, denn dieser würde ohnehin zurückgewiesen werden. Schenken Sie Ihrem Kind ein freundliches Lächeln und sagen Sie ihm: «Gratuliere dir, mein Kind, es wird spannend sein, zu sehen, welche Ideen du haben wirst.»
Langeweile dauert kaum länger als 20 Minuten. Das ist die Zeit, die ein Mensch braucht, um sich von den äusseren Anregungen zu lösen, sich mit sich selbst und seiner eigenen Kreativität zu verbinden. Versuchen Sie es einmal selbst, wenn Sie sich innerlich unruhig fühlen (das ist jener Zustand, den Kinder «langweilig» nennen): Schalten Sie Ihr Handy, Ihren Computer und Ihr Fernsehgerät aus und lassen Sie sich überraschen, was passiert.
- Wenn Sie mit Ihrem Kind spielen, so lassen Sie Ihr Kind die Initiative ergreifen anstatt die Beschäftigung zu steuern.
- Wenn Sie Ihr Kind zu Bett bringen, erzählen Sie von Ihrem Tag. Fragen Sie Ihr Kind nicht, wie sein Tag war – es wird es Ihnen automatisch erzählen.
- Es gibt keinen Grund, sich vor Stille oder Pausen zu fürchten – beides ist gut für die Atmosphäre. Versuchen Sie, sich weniger verantwortlich zu fühlen. Das, was Sie als Ihre Verantwortlichkeit als Eltern erachten, wird einer echten Verbindung zwischen Ihnen und Ihrem Kind im Weg stehen. Wenn Sie eine persönliche Beziehung entwickeln möchten, müssen Sie sich selbst dem Kind zeigen, sich
offenbaren und verletzlich sein.
Jede Minute und jede Stunde, in der Sie in diesem Sinne mit Ihrem Kind in Beziehung stehen, wird seinen seelisch-leiblichen Schutz stärken. Folglich müssen Sie sich nicht um die Zukunft sorgen, denn Sie bauen damit eine gesunde Beziehung zwischen Ihnen auf. Es wird Ihnen beiden gut tun – viel besser als jegliche präventive Massnahme, die Sie sich vorstellen können.
In Zusammenarbeit mit familylab.ch