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«Wenn Ängste Kinder einschränken, sollten Eltern handeln»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Susanne Meier erklärt, was «normale» Angst von einer Angststörung unterscheidet und was Eltern tun können, wenn ihr Kind ängstlich ist.

Interview: Katharina Hoch
Bilder: Vera Hartmann / 13 Photo / zVg

Frau Meier, ich war als Kind sehr schüchtern und ängstlich, wollte nie ohne meine Mutter sein und in die Schule zu gehen, war für mich eine grosse Überwindung. Fast schon ein Kampf. Hört sich das für Sie normal an?

Das kommt darauf an, bis zu welchem Alter ein solches Verhalten andauert. Gerade der Eintritt in den Kindergarten und in die Schule ist ein grosser Entwicklungsschritt. Dass Kinder sich da teilweise schwertun, ist völlig normal. Wenn die Angst aber mit der Zeit nicht abnimmt, sollten Eltern dem nachgehen.

Susanne Meier arbeitet seit knapp 20 Jahren mit psychisch belasteten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die dreifache Mutter ist als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie bei der Luzerner Psychiatrie AG und in der Leitung des Instituts für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie Luzern tätig.

Was sind denn typische Ängste im Schulalter?

Wenn Kinder in die Schule kommen, können noch mal Kleinkindängste wie das «Monster unter dem Bett» oder Ähnliches aufkommen. Trennungsängste sind normal und alles, was im sozialen Bereich liegt, also die Angst vor Situationen mit anderen Schülern zum Beispiel. Ausserdem die sogenannten Phobien, also eine übermässige Furcht wie beispielsweise vor Spinnen oder dem Erbrechen. Im Teenageralter drehen sich Ängste oft um Verletzungen oder Krankheiten, aber auch um soziale Situationen und Fragen, die mit der Umwelt oder dem Weltgeschehen zu tun haben.

Wie sollten Eltern auf die Ängste ihrer Kinder reagieren?

Zunächst einmal sollten sie dem Kind das Gefühl geben, dass es in Ordnung ist, Angst zu haben. Angst darf sein. Und dann schauen: Wovor hat das Kind Angst und wie können wir ihr gemeinsam begegnen?

Eltern sollten Ängste ernst nehmen, ihr Kind aber motivieren, diese zu überwinden.

So könnten Eltern beispielsweise sagen: «Der Hund ist ziemlich gross. Ich verstehe, dass man da Angst bekommt. Wir gehen jetzt einfach gemeinsam an ihm vorbei und sehen mal, wie sich das anfühlt, okay?» So oder ähnlich könnten Eltern eine in den Augen des Kindes gefährliche Situation handhaben. Die Angst ernst nehmen, aber das Kind motivieren, sie zu überwinden.

Was passiert im Gehirn, wenn man Angst empfindet?

Wenn ich Angst empfinde, heisst das, dass mein Gehirn einen Sinneseindruck aus der Umwelt als gefährlich bewertet hat. Das Gehirn schlägt Alarm. Es werden Stresshormone ausgeschüttet, um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Das passiert automatisch und geht sehr schnell. Gleichzeitig beurteilt mein Grosshirn aufgrund von Erfahrungen, ob die Situation wirklich gefährlich ist. Bei Entwarnung wird die Angstreaktion wieder gestoppt. Bei einer Angststörung gelingt es den Betroffenen nicht mehr, diese Angstreaktion zu stoppen.

Wann sind Ängste bei Kindern und Jugendlichen nicht mehr «normal»?

Eine klare Definition gibt es da nicht. Wenn das Kind aber wegen der Angst viel weint, oft Bauch- oder Kopfschmerzen sowie andere körperliche Reaktionen hat, sich zudem immer mehr zurückzieht, vermeidendes Verhalten zeigt, also zum Beispiel nicht mehr in die Schule gehen oder nicht an Freizeitaktivitäten teilnehmen will, ist das keine «normale» Angst mehr. Wenn die Angstreaktion in keinem angemessenen Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung steht und die Betroffenen die Angst psychisch und körperlich intensiv erleben, spricht man von einer Angststörung oder Phobie. Davon sind in der Schweiz ungefähr fünf bis zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen.

Was wäre für Sie ein eindeutiges Indiz, dass man sich als Eltern Hilfe holen soll?

Wenn sich die Lebensqualität des Kindes deutlich verschlechtert und die Ängste das Kind im alltäglichen Leben sehr einschränken, dann sollten Eltern handeln.

Typische Ängste in der kindlichen Entwicklung

Ängste sind individuell und abhängig vom Temperament und von den Lebensumständen eines Kindes. Trotzdem gibt es Ängste, die in bestimmten Entwicklungsstadien typischerweise auftreten und nach einer gewissen Zeit wieder vergehen.

0 bis 6 Monate In den ersten Monaten erschrecken sich Babys zum Beispiel vor lauten Geräuschen.

6 bis 9 Monate Ab ungefähr sechs Monaten beginnt das Fremdeln. Babys beginnen zu weinen, wenn sich die engsten Bezugspersonen entfernen beziehungsweise jemand anderes sich ihnen nähert.

9 bis 12 Monate Mit knapp einem Jahr kann es zu vermehrter Angst vor Trennung und Verletzung kommen.

2 bis 4 Jahre Im Kleinkindalter fürchten Kinder sich oft vor imaginären Figuren, vor der Dunkelheit und dem Alleinsein.

6 bis 12 Jahre In dieser Altersspanne drehen sich Ängste vor allem um die Themen Schule, Verletzung, Krankheit und soziale Situationen.

13 bis 18 Jahre Im Jugendalter können noch Sorgen rund um Sexualität, Umwelt und Weltgeschehen hinzukommen.

Welche Anlaufstellen gibt es für Betroffene?

Auf jeden Fall kann man sich mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin austauschen. Dann gibt es Beratungsstellen wie zum Beispiel Pro Familia oder Pro Juventute. Therapeutische Hilfe bekommen Kinder und Familien wenn nötig in einer kinderpsychiatrischen oder kinderpsychologischen Praxis oder Fachstelle. Ich würde Eltern immer empfehlen, sich Rat zu holen, wenn sie unsicher sind, lieber früher als später. Denn Angststörungen kann man sehr gut behandeln, wenn sie noch nicht chronisch sind.

Was kann die Ursache dafür sein, dass Kinder starke Ängste entwickeln?

Es gibt nie eine Ursache und es handelt sich immer um Wechselwirkungen zwischen Kind, Familie und Umwelt. Manche Menschen haben die Veranlagung, auf eine Belastung oder Stress stärker zu reagieren als andere. Zudem spielt das Umfeld eine wesentliche Rolle.

Wenn man die Angstsituation vermeidet, nimmt die Angst zu.

Ängstliche Eltern haben eher ängstliche Kinder. Auch ein überbehütender Erziehungsstil kann dazu führen, dass Kinder Ängste nicht so leicht überwinden können, weil sie gar nicht die Chance bekommen, den Umgang damit zu lernen. Und dann gibt es noch zusätzliche Belastungsfaktoren wie zum Beispiel den Tod oder die Erkrankung eines Familienangehörigen, die Trennung der Eltern, einen Umzug, eine schwierige Klassensituation. All diese Faktoren können die Entwicklung von Ängsten begünstigen.

Und wie können Eltern Kinder mit Angststörungen konkret unterstützen?

Eltern sollten die Angst ernst nehmen und mit dem Kind besprechen, wie es üben kann, die Situation trotzdem zu meistern. Sie sollten ihm Mut machen, dass sie ihm zutrauen, das zu schaffen. Denn wenn man die Angstsituation vermeidet, nimmt die Angst zu. Eltern sollten loben, wenn das Kind es geschafft hat, und nicht kritisieren, wenn es nicht geklappt hat. Eltern können ausserdem die Ressourcen des Kindes stärken. Das bedeutet, das Kind unabhängig von seinen Ängsten in dem zu bestärken, was es gut kann oder gerne macht. Vielleicht hat es tolle Ideen beim Basteln, geht gerne zum Reiten, ist gut im Turnverein oder kümmert sich gut um das Haustier. Das sollte man dann unbedingt fördern und durch Lob und Anerkennung das Selbstbewusstsein des Kindes stärken.

Katharina Hoch
ist freischaffende Journalistin und lebt mit ihrer Familie in München.

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