«Noten sind kein geeignetes Feedbackinstrument»
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«Noten sind kein geeignetes Feedbackinstrument»

Lesedauer: 4 Minuten

Kompetenzorientierung und Noten passen nicht zusammen, wenn es nach Bildungsforscher Urs Moser geht. Der Forderung nach Abschaffung der Noten steht er trotzdem skeptisch gegenüber.

Interview: Virginia Nolan
Bild: Fabian Hugo / 13 Photo

Herr Moser, wie hat der Lehrplan 21 das schulische Beurteilungssystem verändert?

Der Lehrplan 21 brachte diesbezüglich keine grundsätzlichen Reformen mit sich. Aber er rückte das Prinzip der Kompetenzorientierung ins Zentrum, deshalb ist die Beurteilung zum Thema geworden.

Inwiefern?

Für jeden Fachbereich beschreibt der Lehrplan 21 Kompetenzen, die Kinder im Verlauf der Volksschule erwerben sollen – in Stufen gegliederte, aufeinander aufbauende Lernziele. Eine solche Struktur legt nahe, dass auch in diesem Sinne geprüft und beurteilt wird. Das ist aber nicht der Fall. Genau genommen sind Noten und Kompetenzorientierung ein Widerspruch.

Bildungsforscher Urs Moser im Interview über Noten.
Urs Moser ist Titularprofessor für Pädagogik an der Universität Zürich und leitet dort das Institut für Bildungsevaluation. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Methoden der Leistungsmessung, die Förderung fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler sowie Fragen rund um die schulische Selektion. (Bild: Daniel Winkler / 13 Photo)

Das müssen Sie näher erklären.

Prüfungen fragen den Unterrichtsstoff der vergangenen Wochen oder Monate ab. Dafür erhalten Lernende eine Note – welche, hängt von der Gesamtleistung der Klasse ab. Noten beziehen sich also auf den Unterricht einer bestimmten Lehrperson, und sie orientieren sich an der Norm der entsprechenden Klasse. Sie lassen daher weder klassen- noch schulübergreifende Aussagen zu und haben einen beschränkten Informationswert im Hinblick auf die Frage, welche der im jeweiligen Lernzyklus relevanten Kompetenzen ein Kind erreicht hat. Eine kompetenzorientierte Leistungsüberprüfung müsste anders aussehen.

Nämlich?

Sinn der Kompetenzorientierung ist dem Lehrplan zufolge ja, dass Schülerinnen und Schüler Gelerntes nicht nur punktuell abrufen, sondern über ihre Lernentwicklung hinweg in verschiedenem Kontext anwenden können. Um zu beurteilen, wie gut sie das können, greift eine Lernkontrolle zu kurz. Es bräuchte eine individuelle Standortbestimmung, die aufzeigt, auf welcher Kompetenzstufe das Kind steht.

Wie könnte so ein Beurteilungsinstrument aussehen?

Wir haben mit Mindsteps eines in der Art entwickelt. Die Onlineplattform für kompetenzorientiertes Lernen ist seit 2019 in Verwendung und bietet Schulen eine Sammlung mit über 60’000 Aufgaben für Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik. Die Aufgaben decken alle Themen von der dritten Primar- bis zur dritten Sekundarschule ab. Stellvertretend für jede Kompetenz, die der Lehrplan 21 für den betreffenden Lernzyklus fordert, haben wir eine Vielzahl von Aufgaben entwickelt. Die Schwierigkeit ist, dass Kompetenzen eine sprachliche Angelegenheit sind: Man muss sie erst mal übersetzen, also mittels Aufgaben definieren, was die entsprechende Kompetenz konkret bedeutet. Die Aufgaben werden auf einer vertikalen Skala abgebildet, die Resultate der Lernenden ebenfalls. So wird messbar, wo der oder die Lernende im Hinblick auf die jeweilige Kompetenz steht.

Sie haben also einen kompetenzorientierten Test entwickelt.

Mit der Test-Bezeichnung tun wir uns schwer. Mindsteps soll Schülerinnen ein objektives Feedback zu ihrem Lernstand ermöglichen. Dafür lösen sie mehrere Aufgaben – diejenigen, für die sie sich bereit fühlen. Die Idee ist, dass Klassen das Tool regelmässig zum Üben und Prüfen nutzen. Mit Mindsteps wollen wir vor allem zweierlei: Fortschritte, also Lernen sichtbar machen – Schüler müssen wissen, wie Erfolg aussieht. Und ausserdem Informationen generieren, die unabhängig sind vom Klassenkontext. Noten sind es bekanntlich nicht. Sie sind auch kein geeignetes Feedbackinstrument, weil sie keine aufgabenbezogene Rückmeldung ermöglichen. Eine Zahl sagt wenig darüber aus, wo ich besonders gut bin oder noch üben muss.

Ja, der Selektionsauftrag beisst sich mit dem Förderauftrag. Trotzdem muss ihn die Schule wahrnehmen.

Es bräuchte keine Noten mehr, wenn Beurteilungsinstrumente wie Ihres in der Lage sind, den Lernstand objektiv zu erfassen.

Bis zu einem gewissen Grad stimmt das. Aber ein schulisches Urteil kann sich nicht allein auf solche Resultate stützen. Erstens bildet so ein Instrument nur einen beschränkten Teil dessen ab, was der Lehrplan 21 verlangt. Zweitens ist die Sicht der Lehrperson aus verschiedenen Gründen wichtig. Nicht zuletzt, weil es jemanden braucht, der für das Urteil die Verantwortung übernimmt. Zeugnisnoten bilden nicht einfach einen Moment ab. Sie enthalten – wenn auch ungenaue – Informationen darüber, in welche Richtung es weiter geht. Man könnte Zahlen auch durch Worte ersetzen, aber diese Aufgabe lässt sich nicht delegieren.

Die Forderung nach Abschaffung der Noten wird immer lauter.

Einerseits verstehe ich das Anliegen gut. Es gibt bessere Feedbackinstrumente, die dem Lernen und Fördern zuträglicher sind. Anderseits haben Lehrpersonen die Aufgabe, den Übertritt in weiterführende Schulen zu regeln und entsprechende Einschätzungen abzugeben. Ja, der Selektionsauftrag beisst sich mit dem Förderauftrag. Trotzdem darf ihn die Schule nicht ganz aus der Hand geben. Sie muss ihn wahrnehmen und irgendwann entscheiden können, wer aufs Gymnasium geht oder nicht, um ein Beispiel zu machen. Gerade die Nachfrage nach dem Gymnasium ist derart gross, sie würde sich nicht von allein regeln.

Ist eine Leistungsbeurteilung ohne Noten möglich? Welche Alternativen zu Noten gibt es? Lesen Sie hier den Artikel dazu.

Eine spätere Selektion aber, argumentieren viele, würde die Chancengerechtigkeit verbessern.

Ja, man kann sich überlegen, ob es sinnvoll ist, Kinder bereits nach der sechsten Primarklasse in Leistungszüge einzuteilen. Mit dieser Frage habe ich 1996 meine Karriere als Forscher gestartet.

Wie beantworten Sie sie heute?

Ich finde nicht schlecht, wie es beispielsweise im Kanton Zürich läuft: Nach sechs Jahren Primarschule kann, wer entsprechend motiviert ist, zur Aufnahmeprüfung ins Gymnasium antreten. Zwei, respektive drei Jahre später bietet sich noch einmal die Gelegenheit dazu. Man hat also drei Chancen, ins höchste Leistungsniveau aufzusteigen. Innerhalb der unterschiedlichen Leistungszüge an der Sekundarschule gibt es allerdings wenig Mobilität. Es besteht die Tendenz, da zu bleiben, wo man nach der sechsten Klasse eingeteilt wurde. Das ist problematisch – wobei ich ehrlich gesagt nicht sicher bin, ob eine spätere Selektion, etwa nach der achten Klasse, viel daran ändern würde.

Wenn Sie soziale Ungleichheiten bekämpfen wollen, müssen Sie anderswo ansetzen, über die Schulstrukturen allein erreichen Sie keine bedeutsame Besserung.

Warum nicht?

Wenn man die wissenschaftliche Datenlage zum Nutzen einer späteren Selektion überblickt, lassen sich entsprechende Belege – die vielen Vorteile – nicht so eindeutig nachweisen, wie immer behauptet wird. Die Sache ist nicht so einfach, weil sich Eltern und Lehrpersonen in verschiedenen Schulsystemen ähnlich verhalten. Was ich nach über zwei Jahrzehnten Forschung zum Thema sagen kann: Wenn Sie soziale Ungleichheiten bekämpfen wollen, müssen Sie anderswo ansetzen, über die Schulstrukturen allein erreichen Sie keine bedeutsame Besserung.

Was hilft dann?

Man müsste erstens viel mehr in die Unterrichtsentwicklung investieren, wenn es darum geht, Stereotypen entgegenzuwirken. Wir wissen, dass Lehrpersonen von Kindern aus weniger privilegierten Familien auch weniger erwarten, was in entsprechenden Beurteilungen resultiert. Es braucht unabhängige Beurteilungssysteme. Zweitens zeigt die Forschung, dass Kinder aus unterprivilegierten Familien auf Förderung angewiesen wären, die weit vor der Schule beginnt. Wobei ich wenige Programme kenne, die wirklich da greifen, wo sie sollen.

In dem Punkt erlebte ich als Wissenschaftler manche Enttäuschung: Ich war in die Entwicklung mehrerer Projekte für mehr Chancengerechtigkeit involviert – bei denen sich Familien am Ende nicht so beteiligten, wie wir dies erwartet hatten. Die Bildungserwartungen, die Eltern an ihre Kinder haben, sind ein entscheidender Faktor für soziale Ungleichheiten, und diese zu beeinflussen, ist relativ schwierig. Der Hoffnung, dass eine spätere Selektion uns mehr Chancengerechtigkeit bringt, hänge ich ehrlich gesagt nicht mehr an.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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