Das erhoffen sich Eltern von einer Privatschule
Nicht einmal fünf Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler besuchen eine private Lerneinrichtung. Die Mehrheit der Eltern kann sich jedoch vorstellen, ihr Kind dorthin zu schicken.
Eine grosse Sekundarschule, 24 Jugendliche in einer Klasse. Für Colin war das kein Ort, an dem er sich wohlfühlen konnte. Also ist er nicht mehr zur Schule gegangen, erst einzelne Tage, dann ist er ganz in seinem Zimmer geblieben – und musste wegen seiner Schulangst in einer Klinik behandelt werden. Inzwischen besucht der 14-Jährige eine Privatschule. «Es gibt dort kleinere Klassen. Colin fühlt sich wohler an diesem Ort, er hat sich sehr gut entwickelt», sagt seine Mutter Diana Vonarburg, die mit ihrer Familie im Kanton Thurgau lebt.
Die Vonarburgs sind damit kein Einzelfall. Eine bessere Betreuungssituation, mehr Bedürfnisorientierung, weniger Leistungsdruck, eine individuellere Förderung, gesundheitliche Gründe – all das nannten Eltern auch in der gross angelegten Studie «Welche Schule will die Schweiz?» als Auslöser für den Wechsel ihres Kindes auf eine Privatschule.
Durchgeführt wurde die Befragung im November 2022 von der Stiftung Mercator Schweiz gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo. Auffallend dabei war auch die Antwort auf die Frage: «Könnten Sie sich vorstellen, Ihr Kind auf eine Privatschule zu schicken?» Eine Mehrheit von 60 Prozent der befragten Eltern wählte «Ja». Ist die Unzufriedenheit unter Schweizer Eltern mit den öffentlichen Schulen wirklich so gross und erhöht das die Anzahl der Wechsel auf eine private Schule?
In Zug und Zürich besuchen mehr Kinder eine Privatschule
Rein zahlenmässig zumindest nicht – seit Jahren liegt der Anteil der Kinder, die eine Privatschule besuchen, schweizweit stabil bei 4,6 Prozent. In Kantonen, in denen mehr Kinder auf eine Privatschule gehen, wie etwa in Zug oder Zürich, hängt das vor allem mit zwei Gründen zusammen.
Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), nennt sie: Erstens ist da das durchschnittliche Einkommen der Eltern höher, schliesslich kostet der Besuch einer Privatschule im Schnitt jährlich rund 24 000 Franken. Zweitens leben in diesen Kantonen mehr Expats, die ihre Kinder häufig auf internationale Privatschulen schicken, sei es wegen der Sprache oder wegen der besseren Kompatibilität mit dem Schulsystem des Heimatlandes
Bewusstes Bekenntnis zur Volksschule
Auch die Zürcher Elternmitwirkungsorganisation KEO hat im Jahr 2022 Eltern zur Schulsituation befragt. Gut ein Drittel der Befragten zieht hier einen Wechsel an eine Privatschule in Erwägung. «Gründe, warum es dann nicht umgesetzt wird, sind demnach oft die finanzielle Situation oder ein längerer Schulweg», sagt Elternverbandspräsidentin Gabriela Kohler. Genauso gebe es aber auch gut situierte Eltern, die sich bewusst zur Volksschule bekennen würden.
Auch eine Privatschule ist keine Garantie, dass es besser läuft. Man kann dort ebenso Pech haben.
Maja Studer, Inhaberin einer Agentur für Privatschulen
Die Eltern, die über einen Wechsel nachdenken, sind dieser Befragung zufolge meist auf der Suche nach einer Schule, die mehr auf die besonderen Bedürfnisse ihres Kindes eingeht, andere Betreuungszeiten bietet oder spezielle pädagogische Konzepte. Aber auch der Mangel an Lehrpersonen ist in diesem Zusammenhang ein Thema.
«Wenn Eltern vor den Sommerferien noch nicht wissen, wer im neuen Schuljahr vor der Klasse ihres Kindes steht, oder die Schule auf Laien ohne Lehrdiplom setzen muss, kann das schon ein ungutes Gefühl auslösen. Immerhin vertraut man der Schule sein Kind täglich mehrere Stunden an», sagt Gabriela Kohler. Daten, die belegen würden, dass Privatschulen eine bessere Lehrerversorgung haben, gibt es dem LCH zufolge jedoch keine.
Wechsel erst bei individuellen Problemen
Maja Studer hat täglich mit Eltern zu tun, die sich meist schon mehrere Privatschulen vor Ort angeschaut haben und vor dem Wechsel dorthin stehen. Studer leitet eine Agentur für Privatschulen, welche Eltern bei der Auswahl einer passenden Schule berät. Auch sie nimmt keinen grundsätzlich gewachsenen Unmut der Elternschaft gegenüber dem öffentlichen Schulsystem wahr. «Die meisten starten mit ihren Kindern dort und wechseln erst auf eine Privatschule, wenn es zu individuellen Problemen kommt.»
Die Eltern würden in der Regel auch nicht erwarten, dass eine öffentliche Schule in der Lage sei, all diese Probleme wie etwa Lernschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, Mobbing oder mangelnde individuelle Förderung zu lösen. «Ich erlebe ein grosses Verständnis dafür, dass eine Lehrperson an einer öffentlichen Schule mit 25 Schülerinnen und Schülern eben nicht so individuell auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes eingehen kann wie an einer Privatschule, wo eher 16 oder noch weniger Schüler in einem Klassenzimmer sitzen.»
Bessere individuelle Förderung steht im Zentrum
Zudem seien öffentliche Schulen einfach für alle Kinder da, während eine Privatschule Schwerpunkte setzen und sich auch die dazu passenden Schüler auswählen könne. Das erhöhe natürlich die Chancen, dass Schüler, Lehrerinnen, Lernformen und -inhalte gut harmonieren, findet Maja Studer. Sie gibt aber zu bedenken: «Auch eine Privatschule ist keine Garantie, dass es wirklich besser läuft. Man kann dort ebenso Pech haben mit einer Lehrperson – genauso wie man eine wunderbare öffentliche Schule mit tollen Lehrpersonen erwischen kann.»
Die Eltern wissen, dass wir ihnen zuhören und ein Problem nicht unter den Teppich kehren.
Rose-Anne Mettler-White, Leiterin Privatschule SIL
Rose-Anne Mettler-White leitet die private Schule für individuelles Lernen (SIL) im Kanton Zürich. Ihre Schule trägt das im Namen, was die Mehrheit der befragten Eltern in der Mercator-Studie als Hauptgrund für den Wechsel auf eine Privatschule angegeben hat: eine bessere individuelle Förderung.
Im Alltag bedeutet das in der SIL-Schule etwa, dass jedes Kind auf seinem Niveau abgeholt wird, lernt, selbst zu planen, wann und wie es welche Aufgaben erledigen kann, um seine persönlichen Lernziele zu erreichen. «Die Lehrpersonen sind dann immer da, wenn die Schülerinnen und Schüler individuelle Hilfestellungen brauchen», sagt Rose-Anne Mettler-White.
Vorteil Privatschule: Kleine Klassen
Ähnliche Konzepte gibt es auch an öffentlichen Schulen. «Wir haben aber in keiner Klasse mehr als 14 Lernende und bis zu zwei Lehrpersonen im Raum», nennt Rose-Anne Mettler-White einen grossen Unterschied, warum die Beziehung zu den Kindern sehr eng sei. «Vor allem aber pflegen wir auch einen sehr engen Kontakt zu allen Eltern.»
Denn auch an ihrer Schule gebe es Probleme, natürlich seien auch hier nicht alle Eltern immer zufrieden. «Aber sie wissen, dass wir ihnen zuhören und dass wir ein Problem nicht unter den Teppich kehren, sondern auch nach Lösungen suchen.» Die Schulleiterin erlebt im Alltag, dass der Gesprächsbedarf der Eltern im Vergleich zu früher gewachsen sei. «Sie sind eher bereit, anzusprechen, wo der Schuh drückt, erwarten dann aber auch, dass sich jemand Zeit dafür nimmt und handelt», sagt Rose-Anne Mettler- White. Häufig hört sie, dass Kommunikationsschwierigkeiten oder ein Vertrauensbruch der Auslöser dafür waren, warum Familien von einer öffentlichen Schule an ihre Schule wechselten. «Viele vermissen auch mehr Unterstützung bei der Berufswahl der Kinder und vor allem bei den Hausaufgaben.»
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.