Im Schulhaus zu Hause

Ob Kinder gern zur Schule gehen, hat auch viel mit den Räumen und der Atmosphäre zu tun, die sie dort vorfinden. Warum das Thema Schulhausbau und Schulraumgestaltung bislang dennoch nur wenig Beachtung findet.
Tische, Stühle, Wandtafel, vorn das Lehrerpult: So sehen die meisten Klassenzimmer seit vielen Jahrzehnten aus. Das Lernen in diesen Räumen aber hat sich verändert. Statt um Frontalunterricht und Lernen als passive Haltung geht es immer häufiger um individualisiertes Lernen im eigenen Tempo, um Inklusion und Integration.
Dazu kommen heterogene Klassen und der Lehrkräftemangel. «Für all diese Herausforderungen sind klassische Schulgebäude nicht geeignet. Ein normales Klassenzimmer hilft der Lehrperson bei diesen Themen nicht, es ist ihr im Gegenteil eher hinderlich bei der Arbeit», sagt Peter Fratton, Pädagoge und Schulberater. Dabei sollte es eigentlich umgekehrt sein.
Bis heute stehen beim Bau von Schulen vor allem politische und finanzielle Vorgaben im Vordergrund.
Schon in den 1960er Jahren prägte der italienische Erziehungswissenschaftler Loris Malaguzzi den Satz vom «Raum als drittem Pädagogen», der nach den Mitschülerinnen und -schülern und den Lehrpersonen eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob Kinder gut lernen können. Denn Räume erzeugen immer eine Stimmung. Das kann Geborgenheit sein oder Unbehagen, Angst oder Sicherheit.
Ein Raum wirkt einladend oder abweisend, beruhigend oder anregend. «Wenn ich mich irgendwo wohlfühle, sinkt mein Stresslevel und dann kann ich mich auch besser konzentrieren», sagt Karin Manz, Leiterin der Professur für Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Wie soll ein Schulhaus aussehen, damit sich Kinder darin wohlfühlen?
Eltern scheint dieser Zusammenhang – bewusst oder unbewusst – klar zu sein. Auf die Frage, was ihnen beim Schulbesuch ihrer Kinder besonders wichtig ist, sagen die meisten (84 Prozent), sie möchten spüren, dass es den Kindern dort wohl sei. Das zumindest ergab eine repräsentative Umfrage der Stiftung Mercator Schweiz zum Thema «Welche Schule will die Schweiz?», für die im Jahr 2022 mehr als 2500 Eltern schulpflichtiger Kinder befragt wurden.
Wie aber soll ein Schulgebäude aussehen, damit die Kinder sich darin wohlfühlen? Karin Manz hat dazu für das Forschungsprojekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» Schülerinnen und Schüler im Alter von sechs bis zwölf Jahren befragt. Als Antwort malten sie Sofas, Betten, Baumhäuser, Höhlen.
Das Kindswohl betrifft auch Räume, die Kinder in ihrer Entwicklung beeinflussen. Da gehören Schulen dazu.
Urs Mauer, Architekt
«Sie wünschten sich Orte, an denen sie sich entspannen und zurückziehen können. Aber auch Räume, um in Ruhe konzentriert arbeiten zu können. All das gibt es in einer Standardschule kaum», sagt Karin Manz. Denn bis heute stehen beim Bau von Schulen vor allem politische und finanzielle Vorgaben im Vordergrund. «Schülerinnen und Lehrer werden dagegen selten gefragt, was sie in der Schule erleben wollen oder was ihre pädagogische Haltung ist», so die Erfahrung von Peter Fratton.
Wohlfühlfaktor spielt kaum eine Rolle
Selbst Architektinnen und Architekten wundern sich, dass der Wohlfühlfaktor bei Wettbewerben um den Neubau von Schulhäusern kaum eine Rolle spielt. Urs Maurer, selbst Architekt und Lehrer und seit 20 Jahren als Schulbauberater tätig, bestätigt das.
«Es gibt in der Schweiz leider nur sehr wenige engagierte Menschen, die sich für den Schulhausbau einsetzen», so seine Erfahrung. Maurer muss es wissen, denn er hat im Jahr 2009 das Netzwerk Bildung und Architektur initiiert und mitgegründet, in welchem Dienstleistende, Architekturschaffende und einige Vertreter öffentlicher Verwaltungen versuchen, daran etwas zu ändern – mit mässigem Erfolg.
«Obwohl die Raumgestaltung an Schulen so wichtig ist, sehe ich in der Schweiz bislang keine Perspektive, dass der Wohlfühlfaktor mehr an Bedeutung gewinnt», sagt Urs Maurer. Er wünscht sich einen Vorstoss über die UN-Kinderrechtskonvention, welche auch die Schweiz unterzeichnet hat. «Das dort verankerte Kindswohl betrifft auch die Räume, die Kinder in ihrer Entwicklung beeinflussen, und da gehören Schulen mit Sicherheit dazu», sagt Urs Maurer.
Beispiel einer Vorzeigeschule
Wie so eine Wohlfühlschule aussehen könnte, zeigt das Beispiel der Alemannenschule Wutöschingen (siehe Bilder) im Landkreis Waldshut nahe der Schweizer Grenze. Frontalunterricht in einem grossen Raum haben die Lernenden hier kaum, also gibt es auch keine typischen Klassenzimmer. Die Schülerinnen und Schüler lernen meist selbständig nach einem Plan, den sie wöchentlich mit ihren Lernbegleitern, wie die Lehrpersonen hier heissen, festlegen.



Ob sie das lieber draussen, auf dem Sofa, auf dem Boden liegend oder im Baumhaus machen – einer Art hölzernem Balkon –, bleibt jedem Schüler selbst überlassen. «Kinder sind ständig in Bewegung, sie lümmeln auch auf dem ergonomisch besten Bürostuhl, also brauche ich ihnen so etwas gar nicht erst anzubieten», sagt Peter Fratton, der den Bau der Schule seit zwölf Jahren pädagogisch begleitet.
Was er wichtig findet, sind Alternativen. «In einer Schule lernen sehr viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, also brauchen wir auch ganz verschiedene Räume.» Zu Hause sehe das Wohnzimmer schliesslich auch anders aus als das Arbeitszimmer oder das Esszimmer.
Das grosse Ziel ist, dass alle Schülerinnen und Schüler gern zur Schule gehen.
Stefan Ruppaner, Schulleiter
Eine weitere Besonderheit der Alemannenschule Wutöschingen: Sie ist für die Schüler immer ein offenes Haus, auch abends oder am Wochenende. Wer dort am Sonntag lernen möchte, kommt mit seiner Zutrittskarte hinein. Auch die Sporthalle steht nicht nur während der Sportstunden zur Verfügung. Das alles setzt sehr viel Vertrauen in die Schülerinnen voraus: Vertrauen darin, dass sie lernen möchten. Und Vertrauen darin, dass sie Respekt haben vor ihrer Lernumgebung.
Viele Schulen versuchen, vandalensicher zu bauen
Der diesen Sommer in Ruhestand gegangene ehemalige Schulleiter Stefan Ruppaner spricht von einer grundlegenden Haltung, die das alles trägt: Das grosse Ziel sei, dass alle Schülerinnen und Schüler gern zur Schule gehen. Um das zu erreichen, habe man eine Umgebung geschaffen, in der sie sich wohlfühlen und selbständig lernen können. Und weil die Schülerinnen das schätzten, respektierten sie auch die Einrichtung. Vandalismus? Fehlanzeige. Warum sollten die Schüler etwas kaputt machen, das sie gern haben? Ein weiterer Aspekt: «In vielen Schulen wird ja versucht, möglichst unkaputtbar und vandalensicher zu bauen, aber das ermuntert geradezu zum Kräftemessen», findet Peter Fratton.
Zubetonierte Pausenhöfe mit einem Klettergerüst aus Stahl sind eine Katastrophe.
Karin Manz, Unterrichtsforscherin
Schulen: «Nicht immer gleich neu bauen»
Die meisten Kinder und Lehrpersonen werden in den nächsten Jahren weiterhin in Schulgebäude gehen, die nicht unbedingt nach einem Wohlfühlkonzept gestaltet wurden. «Aber man muss auch nicht immer gleich abreissen und neu bauen», sagt Peter Fratton. Oft würde es schon reichen, aus einem Klassenzimmer zwei zu machen oder aus zweien eins, um unterschiedliche Räume zu erhalten. Dazu die langen Schulkorridore mitnutzen und darin Ecken zum konzentrierten Arbeiten oder Entspannen einrichten. Und auch die Aussenbereiche mal genauer in den Blick nehmen.
Zubetonierte Pausenhöfe mit einem Klettergerüst aus Stahl hält Karin Manz für «eine Katastrophe», weil sie «wenig kindgerecht» seien. Stattdessen wünscht sie sich verschiedene Naturmaterialien, die sich verändern und mit denen man etwas verändern kann. «Steine zum Tragen, ein bisschen Wasser, kleine Herausforderungen zum Balancieren», nennt sie ein paar Beispiele. «All das würde den Kindern die Möglichkeit geben, Selbstwirksamkeit zu erfahren und soziale Kompetenzen zu schulen», sagt Karin Manz. Und gerade bei jüngeren Kindern sei der Bewegungsdrang noch so hoch, dass Unterricht in egal was für einem Klassenraum eigentlich nur möglich ist, wenn dieser zwischendurch gestillt werden kann – sowohl draussen als auch drinnen.
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.