Die Not mit den Noten
Sie stressen Schülerinnen und Schüler, belasten das Familienklima und werden auch von Lehrpersonen oft als ungerecht empfunden: Schulnoten. Warum sie sich dennoch halten und was sich in Zukunft ändern könnte.
Zum Glück gibt es Noten und es interessiert sich jemand für meine Leistung! Diese Aussage klingt verrückt? Nicht für Schulkinder und Eltern im 17. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt wurden in der Schweiz die Schulnoten eingeführt, um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Denn bis dahin galt: Nur wer aus einem reichen Elternhaus stammte, durfte zur Schule gehen. Um den Zugang zum Schulsystem gerechter zu machen und Abstammung durch Leistung zu ersetzen, wurden Schulnoten eingeführt.
Nun gibt es in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine Schulpflicht und damit das allgemeine Recht auf Schulbesuch – unabhängig von Geld oder Können. Noten sind dem Schulsystem dennoch erhalten geblieben, obwohl sie von Schülerinnen, Eltern und Lehrern heute häufig als ungerecht und unzureichend empfunden werden. Und obgleich viele Pädagogen oder Psychologinnen wie Stefanie Rietzler sagen: «Noten erhöhen nicht etwa die Lust auf Schule, sie wirken vielfach eher demotivierend» und Schüler wie Eltern sie als Druck- und Stressquelle bezeichnen.
Im Jahr 2021 hat die Stiftung Pro Juventute 1056 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 15 Jahren zum Thema Stress befragt. Ein Drittel gab an, gestresst zu sein, weil sie sich den Anforderungen, Erwartungen und Aufgaben in der Schule nicht gewachsen fühlten. Insbesondere Prüfungen und Noten sorgen für Stress.
Ähnlich nehmen das die Eltern wahr, wie eine aktuelle Studie der Stiftung Mercator Schweiz zeigt. Von 8000 befragten Erwachsenen – darunter ein Drittel Eltern – beobachtet die Hälfte dieser Eltern bei den eigenen Kindern Belastungen und Stress im Zusammenhang mit Prüfungen und Bewertungen in der Schule. Abschaffen möchte die Mehrheit der Befragten die Schulnoten aber dennoch nicht. Gibt es also auch heute noch gute Gründe für Noten?
Die Noten abschaffen reicht nicht
«Sie sind zumindest ein transparentes und pragmatisches Mittel, mit dem die Schule einer ihrer Funktionen in der Gesellschaft nachkommen kann», sagt Erziehungswissenschaftler Philipp Eigenmann von der Pädagogischen Hochschule Thurgau, der zum Thema der historischen und soziologischen Bedeutung der Leistungsorientierung in der Schule forscht.
Diese Funktion sei die Allokation, also die Zuweisung der Schülerinnen und Schüler an ihren künftigen und zu ihnen passenden Platz in der Arbeitswelt. Das geschehe in einer stark leistungsorientierten Gesellschaft eben durch Leistungsbewertungen. «Wenn die Schulen das nicht machen, dann tun es später die Betriebe oder die Unis», so Eigenmann. Dort könnten Eignungstests dann wiederum Geld kosten, was einer Chancengleichheit im Wege stünde.
Wenn nicht die Schulen die Leistungen bewerten, dann tun es später die Betriebe oder die Unis.
Philipp Eigenmann, Erziehungswissenschaftler
Auch Versuche verschiedener Schulen, die Ziffern in den Zeugnissen durch Worte zu ersetzen, würden daran nicht viel ändern, findet Philipp Eigenmann. «Dadurch kann der Lehrer zwar eine ausführlichere Rückmeldung geben. Das Ziel aber bleibt das gleiche, nämlich eine individuelle Leistungsbeurteilung geben zu müssen, die letztlich zu einer Selektion führt.» Wer das nicht wolle, müsse das ganze Schulsystem von Grund auf reformieren – und nicht nur die Noten abschaffen.
Individualisiertes Lernen nimmt zu
Tatsächlich hat sich an den Schweizer Schulen in den vergangenen Jahren bereits viel getan. Individualisiertes Lernen und Inklusion nehmen überall mehr Raum ein. Doch an den Noten rüttelt man bislang nur verhalten – was von Eltern, Lehrpersonen und Lernenden zu- nehmend als belastend empfunden wird, wie die Psychologin Stefanie Rietzler beobachtet. «Es passt einfach nicht zusammen, dass Lehrpersonen auf der einen Seite versuchen sollen, Kinder in ihrem eigenen Tempo lernen zu lassen, auf der anderen Seite aber am Tag X alle Lernenden einen Test auf dem gleichen Leistungsniveau schreiben müssen.»
Ihrer Erfahrung nach resultiert daraus ein grosser Teil des Druckes, weil Schülerinnen und Schüler, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit sind mit dem Lernen, dies andauernd zu spüren bekommen. «Sie können sich dann nicht auf ihren individuellen Fortschritt konzentrieren, sondern sehen nur: Ich bin wieder ungenügend, noch immer schlechter als die anderen und trotzdem geht es jetzt weiter im Stoff», sagt Rietzler, «das ist natürlich sehr demotivierend.»
Leistung sollte differenzierter beurteilt werden
Sie plädiert deshalb dafür, dass die Lehrpersonen die Zeit, die sie bislang in Testkorrekturen und Notengebung stecken, für mehr individuelles Feedback verwenden. So wüssten die Kinder regelmässig und ausführlich Bescheid darüber, welche Fortschritte sie auf ihrer jeweiligen Kompetenzstufe gerade gemacht haben und was ihre nächsten Ziele sind.
Es gibt bereits einige Testschulen in der Schweiz, an denen Schüler und Schülerinnen ihre Prüfungen zu einem bestimmten Thema dann ablegen, wenn sie mit dem Lernen so weit sind. Dafür bekommen sie dann Punkte, Noten dagegen gibt es während des Schuljahres nicht. Zumindest rechtlich wäre das an vielen Schulen in der Schweiz möglich. Vorgeschrieben sind Noten in vielen Kantonen nämlich nur am Ende des Jahres im Zeugnis. Während des Semesters müssen keine Noten vergeben werden.
Für eine Zeugnisnote braucht man keine Teilnoten, die am Schluss zu einem Durchschnitt verrechnet werden.
Marcel Naas, Hochschuldozent
Marcel Naas, Dozent für Bildung und Erziehung an der Pädagogischen Hochschule Zürich, wünscht sich, dass mehr Schulen und Lehrpersonen diesen Freiraum auch nutzen. «Man braucht für eine Zeugnisnote keine Flut an Teilnoten, die am Schluss arithmetisch zu einem Durchschnitt verrechnet und auf- oder abgerundet werden.»
Vielmehr solle sich eine Zeugnisnote auf vielseitige Beurteilungssituationen stützen, um die Leistung differenziert bewerten zu können. «Das kann eine schriftliche Prüfung sein, aber auch mündliche Darbietungen oder Kompetenznachweise in innovativen Medienformaten bieten sich an», sagt Marcel Naas und ergänzt: «Diese können dann auch anhand transparenter Kriterienraster bewertet werden statt mit Noten.»
Mehrheit der Eltern hält an Noten fest
Naas weiss aber ebenso, dass eine solche neue Beurteilungskultur sehr viel Überzeugung und Standhaftigkeit aufseiten der Lehrpersonen und ein Umdenken bei den Eltern erfordert. Denn auch er beobachtet in seinem Alltag das, was die aktuelle Schulstudie der Stiftung Mercator Schweiz herausgefunden hat: Die Mehrheit der Eltern möchte – aller Kritik zum Trotz – die Schulnoten beibehalten. «Sie kennen diese Art der Bewertung aus ihrer eigenen Schulzeit und halten sie für transparent», sagt Marcel Naas.
Gleichzeitig wünschen sie sich aber auch, dass ihre Kinder gern zur Schule gehen und einen guten Draht zu ihren Lehrerinnen haben. Auch dafür hält Stefanie Rietzler Noten eher für hinderlich, insbesondere in der Primarschule. «Für Kinder sind Noten auch ein Sympathiebekenntnis. Sie lernen, um ihre Lehrer oder Eltern stolz zu machen. Eine schlechte Note schadet dieser Beziehung dann natürlich sehr.»
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.