Schule ohne Noten: «Wir wissen, wo unsere Tochter steht»
Michael Renaudin ist Co-Präsident des Elternrats Länggasse in Bern. Die Schule seiner Teenagertochter verzichtet auf der Oberstufe seit einiger Zeit auf Noten. Der Vater hält viel vom neuen Modell, ortet aber auch einige Stressfaktoren.
Unsere Tochter erhält in der Schule als Rückmeldung auf Tests oder andere Leistungsnachweise keine Zahlen mehr, sondern eine verbale Beurteilung wie beispielsweise ‹erfüllt›, ‹noch nicht erfüllt› oder ‹übertroffen›. Das Notenzeugnis am Ende des Schuljahrs gibt es zwar noch – was drinsteht, beruht auf besagten schriftlichen Beurteilungen, aber auch auf Standortgesprächen zwischen Lehrperson und Kind.
Ich habe den Eindruck, dieser bilaterale Austausch erfolgt nun häufiger. Das finde ich gut, ebenso, dass Schülerinnen und Schüler regelmässig angehalten werden, sich selbst einzuschätzen. Diese kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Person ist wichtig, weil sie Jugendlichen aufzeigt, wo sie Einfluss nehmen und etwas verbessern können, sie aber auch darin schult, sich ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden und Worte dafür zu finden.
Wir wissen, wo unsere Tochter schulisch steht.
Dass die Schule heute mehr auf persönliche Stärken fokussiert, finde ich gut. Ich persönlich habe sie eher so in Erinnerung, dass sie Defizite beheben wollte. Auch das Instrumentarium, um Gelerntes unter Beweis zu stellen, ist breiter geworden: Noten sind eines von vielen. Heute sind andere Faktoren genauso wichtig: die Beteiligung im Unterricht, Projektarbeiten, Präsentationen, Lerndossiers. Auch der Dialog mit der Lehrperson hat eine andere Qualität. Ich stelle mir vor, dass Schule heute interessanter ist als früher.
Gleichwohl diskutieren wir Eltern den notenfreien Unterricht kontrovers: Je höher die Schulstufe, desto stärker sind die Vorbehalte. Ich persönlich habe nicht den Eindruck, dass wir ohne Schulnoten nicht wissen, wo unsere Tochter schulisch steht. Durch die schriftlichen Bewertungen und die Rückmeldungen aus ihren Standortgesprächen sind wir gut im Bilde. Ich glaube aber, einigen Jugendlichen fehlt die Möglichkeit, Leistungen schnell und einfach abzugleichen. Auch meine Tochter fragt sich, ob ein ‹gut› gut genug ist für den Übertritt ins Gymnasium. Natürlich deuten sie diese Prädikate in Noten um. Ein Beispiel: Was heisst ‹übertroffen› – entspricht es einer Fünfeinhalb oder einer Sechs? Diese Unsicherheit kann Stress erzeugen, der dem entgegenwirkt, was der Verzicht auf Noten zum Ziel hat: einem entspannteren Lernen.
Bahnbrechende Veränderungen bringt das notenfreie Modell an unserer Schule vermutlich keine. Bewertet wird ja immer noch, und wenn Schulnoten subjektiv gefärbt sind, sind es auch Wortbeurteilungen. Ich finde es trotzdem gut, dass man sich dazu entschieden hat, in Richtung einer differenzierten Rückmeldung zu gehen, die sich nicht allein auf Zahlen stützt, sondern eine Vielzahl von Beobachtungen miteinbezieht.