Eine Aargauer Schule geht neue Wege ohne Noten
Kinder sind von Natur aus motiviert zu lernen, zu entdecken und zu zeigen, was sie wissen. Damit das so bleibt, suchte man an der Aargauer Schule Rütihof unter der damaligen Schulleiterin Lisa Lehner neue Wege in der Beurteilung der Leistungen.
Vor rund zehn Jahren begann man in Rütihof AG mit der Planung eines neuen Schulhauses. Wie muss die Raumgestaltung sein, damit sie das Lernen der Kinder und den Unterricht unterstützt und anregt? Wie sollten Kinder zukünftig lernen? In klassen- oder sogar jahrgangsübergreifenden Gruppen?
Je tiefer wir uns mit dem Unterricht in heterogenen Klassen auseinandersetzten, umso klarer wurde uns, dass die Beurteilung mit Noten nicht in unser Konzept passte, ja uns hinderte, die Kinder vielfältig und mit dem Schwerpunkt auf ihre Entwicklung beurteilen zu können. Das neue Beurteilungskonzept des Kantons Aargau liess uns so viel Spielraum, dass wir uns auf den Weg der kompetenzorientierten Bewertung begeben konnten.
Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr für eine gute Note lernen.
Wir begannen damit, dass die Schülerinnen und Schüler keine Noten mehr unter Prüfungen und Leistungsnachweisen erhielten und vermehrt Kompetenzraster zum Einsatz kamen. Die Kantonsvorgabe, dass das Jahreszeugnis mit Noten ausgestellt werden muss, konnten wir nicht umgehen, aber der Weg zu dieser Notenbeurteilung änderte sich.
Doch wie funktioniert die förderorientierte Beurteilung ohne Noten? Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr für eine gute Note lernen. Sie lernen, weil sie gezielte, differenzierte und individuelle Rückmeldungen zu ihren Leistungen erhalten und so motiviert sind, sich stets zu verbessern und Neues zu entdecken. Die Lehrperson führt mit den Kindern regelmässig Lerngespräche durch. Gemeinsam werden die Aufgaben, Leistungen und Arbeiten besprochen.
In diesen Besprechungen geht es um Fragen wie:
Wie ist es mir beim Lösen der Aufgabe ergangen? Wo lief es gut, wo traten Schwierigkeiten auf? Konnte ich konzentriert arbeiten, war ich abgelenkt? Was hat mir geholfen, was hat mich unterstützt? Wo tauchten Schwierigkeiten auf?
Welche Lernfortschritte habe ich gemacht? Wo, in welchen Kompetenzen bin ich besser geworden? Was habe ich noch nicht verstanden? Was muss ich noch mehr üben?
Welche Ziele habe ich erreicht? Für welche Ziele muss ich nochmals arbeiten? Welche Ziele möchte ich in einem nächsten Schritt erreichen? Wie plane ich die Umsetzung?
Durch diese Gespräche lernen die Kinder, sich selbst richtig einzuschätzen. Um die Lernfortschritte zu dokumentieren, werden im Beurteilungsdossier alle relevanten Arbeiten, Gesprächsnotizen, Leistungsnachweise, Prüfungen, Fotos von Arbeiten, Tonaufnahmen von Texten und so weiter gesammelt. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrperson entscheiden gemeinsam, was ins Beurteilungsdossier kommt. Jedes Kind wird auf seinem individuellen Lernweg unterstützt. Die individuelle Begleitung gibt den Kindern Sicherheit und Selbstvertrauen. Der Vergleich mit anderen Kindern fällt weitgehend weg. Ade Konkurrenzk(r)ampf!
Smileys statt 1 bis 6
Wie kommt dies bei den Kindern an? «Wir bekommen für unsere Arbeiten Smileys. Unsere Lehrerin gibt uns entweder ein trauriges, ein neutrales, ein lachendes oder ein strahlendes Smiley», sagt der zehnjährige Max*, und: «Ich finde das gut, weil es nicht so absolut ist. Ein trauriges Smiley ist nicht so schlimm wie eine schlechte Note.» Emily, zwölf, meint: «Wenn ich keine Noten bekomme, habe ich keinen Stress!»
Da die Kinder nicht mit Noten in Berührung kommen, haben diese auch keine grosse Bedeutung für sie.
Die elfjährige Joana schaut optimistisch in die Zukunft: «Wenn ich später in der Oberstufe Noten erhalte, wird es ernster und anstrengender, aber ich freue mich auch auf die neue Erfahrung.» Marie, elf: «Wenn ich mit Kolleginnen spreche, die eine Schule mit Noten besuchen, stelle ich fest, dass sie sich mehr über eine Sechs als ich mich über ein strahlendes Smiley freue. Dafür ist für sie eine schlechte Note schlimmer und für mich weniger!»
Da die Schülerinnen und Schüler während des Schuljahrs nicht mit Noten in Berührung kommen, kennen sie deren Bedeutung nicht. Und so spielen sie im Jahreszeugnis auch nicht solch eine grosse Rolle für sie.
Die Eltern erhalten nicht mehr wöchentlich Noten nach Hause, die sie unterschreiben, und sie dann in der (vielleicht falschen) Sicherheit wiegen, sie wüssten, wo ihr Kind steht. Dafür werden sie regelmässig von ihrem Kind selbst über den aktuellen Lernstand informiert. Nach einer abgeschlossenen Lerneinheit oder mindestens monatlich bringt das Kind seine Arbeiten mit nach Hause und erklärt den Eltern, was es gelernt hat, wo es steht und welche Ziele es weiterverfolgt. Die Mehrheit der Eltern bestätigt, dass sie durch diese Lernstandgespräche mit ihren Kindern umfassender informiert sind.
Dieses Feedback an die Eltern gehört zur Vorgabe der neuen Beurteilungsform der Schule Rütihof. Da die Kinder im Unterricht viel über Leistungen sprechen, sind die Voraussetzungen gut, dass sie dies auch zu Hause können. Natürlich gelingt es nicht überall gleich gut. Die Eltern bestätigen jeweils mit ihrer Unterschrift, dass sie das Beurteilungsdossier angeschaut und mit dem Kind besprochen haben.
Aus ihrer eigenen Schulzeit kennen die Eltern nur die Beurteilung durch Noten. Es ist verständlich, dass es nicht einfach ist, sich im neuen System zurechtzufinden. Nach bald acht Jahren seit der Einführung gibt es aber kaum noch kritische Fragen oder Einwände. Die vielen Vorteile der neuen Form der Beurteilung überwiegen und werden geschätzt. Ihre Kinder kennen kaum mehr Prüfungsangst, denn es ist nicht mehr angstbehaftet, dass man zeigt, was man gelernt hat und was man kann. Das erzeugt auch weniger Stress bei den Eltern.
Beurteilung mit Noten wird dem Lehrplan weniger gerecht
Es ist erfreulich, dass Rütihof bis heute auf dem Weg der kindergerechten Beurteilung geblieben ist. Die Lehrpersonen wollen die Kinder differenzierter, ganzheitlicher und aufbauender (positiver) beurteilen. Dies passt auch zum neuen kompetenzorientierten Lehrplan 21. Eine Beurteilung mit Noten wird diesem weniger oder nicht gerecht.
«Die Kinder sind motiviert. Sie wollen zeigen, was sie gelernt haben», sagt eine Lehrerin über ihre Schülerinnen und Schüler. Für eine andere Lehrerin ist überraschend, dass die Kinder beim Lösen von offenen Aufgaben nicht immer den Weg mit dem geringsten Aufwand wählen.
Anderen Kolleginnen und Kollegen fällt auf, wie gut sich die Schulkinder selbst einschätzen können und wie sehr sie in der Lage sind, aussagekräftige Lernstandgespräche zu führen. Diese Feststellung ist umso erfreulicher, da Studien des neuseeländischen Erziehungswissenschaftlers John Hattie belegen, dass die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler massgeblich zu gutem Lernerfolg beiträgt.