Eine Aargauer Schule geht neue Wege ohne Noten -
Merken
Drucken

Eine Aargauer Schule geht neue Wege ohne Noten

Lesedauer: 4 Minuten

Kinder sind von Natur aus motiviert zu lernen, zu entdecken und zu zeigen, was sie wissen. Damit das so bleibt, suchte man an der Aargauer Schule Rütihof unter der damaligen Schulleiterin Lisa Lehner neue Wege in der Beurteilung der Leistungen.

Text: Lisa Lehner
Bild: Adobe Stock

Vor rund zehn Jahren begann man in Rütihof AG mit der Planung eines neuen Schulhauses. Wie muss die Raumgestaltung sein, damit sie das Lernen der Kinder und den Unterricht unterstützt und anregt? Wie sollten Kinder zukünftig lernen? In klassen- oder sogar jahrgangsübergreifenden Gruppen? 

Je tiefer wir uns mit dem Unterricht in heterogenen Klassen ausein­andersetzten, umso klarer wurde uns, dass die Beurteilung mit Noten nicht in unser Konzept passte, ja uns hinderte, die Kinder vielfältig und mit dem Schwerpunkt auf ihre Entwicklung beurteilen zu können. Das neue Beurteilungskonzept des Kantons Aargau liess uns so viel Spielraum, dass wir uns auf den Weg der kompetenzorientierten Bewertung begeben konnten.

Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr für eine gute Note lernen.

Wir begannen damit, dass die Schülerinnen und Schüler keine Noten mehr unter Prüfungen und Leistungsnachweisen erhielten und vermehrt Kompetenzraster zum Einsatz kamen. Die Kantonsvorgabe, dass das Jahreszeugnis mit Noten ausgestellt werden muss, konnten wir nicht umgehen, aber der Weg zu dieser Notenbeurteilung änderte sich.

Doch wie funktioniert die förderorientierte Beurteilung ohne Noten? Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr für eine gute Note lernen. Sie lernen, weil sie gezielte, differenzierte und individuelle Rückmeldungen zu ihren Leistungen erhalten und so motiviert sind, sich stets zu verbessern und Neues zu entdecken. Die Lehrperson führt mit den Kindern regelmässig Lerngespräche durch. Gemeinsam werden die Aufgaben, Leistungen und Arbeiten besprochen. 

In diesen Besprechungen geht es um Fragen wie:

Wie ist es mir beim Lösen der Aufgabe ergangen? Wo lief es gut, wo traten Schwierigkeiten auf? Konnte ich konzentriert arbeiten, war ich abgelenkt? Was hat mir geholfen, was hat mich unterstützt? Wo tauchten Schwierigkeiten auf?

Welche Lernfortschritte habe ich gemacht? Wo, in welchen Kompetenzen bin ich besser geworden? Was habe ich noch nicht verstanden? Was muss ich noch mehr üben? 

Welche Ziele habe ich erreicht? Für welche Ziele muss ich nochmals arbeiten? Welche Ziele möchte ich in einem nächsten Schritt erreichen? Wie plane ich die Umsetzung?

Durch diese Gespräche lernen die Kinder, sich selbst richtig einzuschätzen. Um die Lernfortschritte zu dokumentieren, werden im Beurteilungsdossier alle relevanten Arbeiten, Gesprächsnotizen, Leistungsnachweise, Prüfungen, Fotos von Arbeiten, Tonaufnahmen von Texten und so weiter gesammelt. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrperson entscheiden gemeinsam, was ins Beurteilungsdossier kommt. Jedes Kind wird auf seinem individuellen Lernweg unterstützt. Die individuelle Begleitung gibt den Kindern Sicherheit und Selbstvertrauen. Der Vergleich mit anderen Kindern fällt weitgehend weg. Ade Konkurrenzk(r)ampf!

Smileys statt 1 bis 6

Wie kommt dies bei den Kindern an? «Wir bekommen für unsere Arbeiten Smileys. Unsere Lehrerin gibt uns entweder ein trauriges, ein neutrales, ein lachendes oder ein strahlendes Smiley», sagt der zehnjährige Max*, und: «Ich finde das gut, weil es nicht so absolut ist. Ein trauriges Smiley ist nicht so schlimm wie eine schlechte Note.» Emily, zwölf, meint: «Wenn ich keine Noten bekomme, habe ich keinen Stress!»

Da die Kinder nicht mit Noten in Berührung kommen, haben diese auch keine grosse Bedeutung für sie.

Die elfjährige Joana schaut optimistisch in die Zukunft: «Wenn ich später in der Oberstufe Noten erhalte, wird es ernster und anstrengender, aber ich freue mich auch auf die neue Erfahrung.» Marie, elf: «Wenn ich mit Kolleginnen spreche, die eine Schule mit Noten besuchen, stelle ich fest, dass sie sich mehr über eine Sechs als ich mich über ein strahlendes Smiley freue. Dafür ist für sie eine schlechte Note schlimmer und für mich weniger!» 

Da die Schülerinnen und Schüler während des Schuljahrs nicht mit Noten in Berührung kommen, kennen sie deren Bedeutung nicht. Und so spielen sie im Jahreszeugnis auch nicht solch eine grosse Rolle für sie. 

Die Eltern erhalten nicht mehr wöchentlich Noten nach Hause, die sie unterschreiben, und sie dann in der (vielleicht falschen) Sicherheit wiegen, sie wüssten, wo ihr Kind steht. Dafür werden sie regelmässig von ihrem Kind selbst über den aktuellen Lernstand informiert. Nach einer abgeschlossenen Lerneinheit oder mindestens monatlich bringt das Kind seine Arbeiten mit nach Hause und erklärt den Eltern, was es gelernt hat, wo es steht und welche Ziele es weiterverfolgt. Die Mehrheit der Eltern bestätigt, dass sie durch diese Lernstandgespräche mit ihren Kindern umfassender informiert sind.

Dieses Feedback an die Eltern gehört zur Vorgabe der neuen Beurteilungsform der Schule Rütihof. Da die Kinder im Unterricht viel über Leistungen sprechen, sind die Voraussetzungen gut, dass sie dies auch zu Hause können. Natürlich gelingt es nicht überall gleich gut. Die Eltern bestätigen jeweils mit ihrer Unterschrift, dass sie das Beurteilungsdossier angeschaut und mit dem Kind besprochen haben.

Aus ihrer eigenen Schulzeit kennen die Eltern nur die Beurteilung durch Noten. Es ist verständlich, dass es nicht einfach ist, sich im ­neuen System zurechtzufinden. Nach bald acht Jahren seit der Einführung gibt es aber kaum noch kritische Fragen oder Einwände. Die vielen Vorteile der neuen Form der Beurteilung überwiegen und werden geschätzt. Ihre Kinder kennen kaum mehr Prüfungsangst, denn es ist nicht mehr angstbehaftet, dass man zeigt, was man gelernt hat und was man kann. Das erzeugt auch weniger Stress bei den Eltern.

Beurteilung mit Noten wird dem Lehrplan weniger gerecht

Es ist erfreulich, dass Rütihof bis heute auf dem Weg der kindergerechten Beurteilung geblieben ist. Die Lehrpersonen wollen die Kinder differenzierter, ganzheitlicher und aufbauender (positiver) beurteilen. Dies passt auch zum neuen kompetenzorientierten Lehrplan 21. Eine Beurteilung mit Noten wird diesem weniger oder nicht gerecht. 

«Die Kinder sind motiviert. Sie wollen zeigen, was sie gelernt haben», sagt eine Lehrerin über ihre Schülerinnen und Schüler. Für eine andere Lehrerin ist überraschend, dass die Kinder beim Lösen von offenen Aufgaben nicht immer den Weg mit dem geringsten Aufwand wählen. 

Anderen Kolleginnen und Kollegen fällt auf, wie gut sich die Schulkinder selbst einschätzen können und wie sehr sie in der Lage sind, aussagekräftige Lernstandgespräche zu führen. Diese Feststellung ist umso erfreulicher, da Studien des neuseeländischen Erziehungswissenschaftlers John Hattie belegen, dass die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler massgeblich zu gutem Lernerfolg beiträgt.

Lisa Lehner VSLCH

Lisa Lehner
ist Vizepräsidentin des Deutschschweizer Schulleiterinnen- und Schulleiterverbands. Sie ist gelernte Primarlehrerin und Schulleiterin. In den 20 Jahren, welche sie in der Leitung der Volksschule Baden tätig war, führte sie neun Jahre lang als Schulleiterin den Kindergarten und die Primarschule in Baden-Rütihof.

Alle Artikel von Lisa Lehner

Mehr zum Thema Noten:

2404 dossier schulangst schulverweigerer sonja hasler elternmagazin fritzundfraenzi hg
Psychologie
«Es ist okay, Angst zu haben»
Flucht ist nicht immer eine gute Lösung, weiss Psychologin Sonja Hasler. Sie arbeitet mit Kindern, die unter Schulangst leiden.
24-03-körper-privatschule-mercator-sandra-markert-schweizer-elternmagazinfritzundfraenzi hg
Lernen
Das erhoffen sich Eltern von einer Privatschule
Nicht einmal fünf Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler besuchen eine private Lerneinrichtung. Die Mehrheit der Eltern kann sich jedoch vorstellen, ihr Kind dorthin zu schicken.
Advertorial
Sicherheit für die Kleinsten – so senken Sie das Risiko verschluckter Batterien
Verschluckt ein Kleinkind eine Knopfbatterie, kann das schlimme Folgen haben. Die neue Batterie von Duracell möchte das verhindern.
Schule ohne Noten: Schulleiter Philippe Villiger erzählt.
Lernen
«Beim Lernen zählen die eigenen Fortschritte»
Schulleiter Philippe Villiger erzählt, warum seine Schule seit acht Jahren auf Notenzeugnisse verzichtet und welche Erfahrungen sie damit macht.
Verzicht auf Noten. Portrait von Michael Renaudin, Co-Präsident des Elternrats Länggasse in Bern.
Lernen
Schule ohne Noten: «Wir wissen, wo unsere Tochter steht»
Verzicht auf Schulnoten auf der Oberstufe? Michael Renaudin hält viel vom neuen Modell, ortet aber auch einige Stressfaktoren.
Lernen
Schulnoten unter der Lupe
Das Thema Schulnoten polarisiert. Wir haben Expertinnen und Experten gebeten, gängige Meinungen dazu einzuordnen.
Lernen
Schule ohne Noten: «Ist ‹gut› gut genug?»
Schule ohne Noten. Fünf Jugendliche an der Gesamtschule Schüpberg in Schüpfen BE gehen diesen Weg und erzählen.
Alternativen zur Note. Lehrer sitzt im Klassenzimmer mit Kind und bespricht dessen Leistung.
Lernen
Alternativen zur Note – ein Überblick
Ist eine Leistungsbeurteilung ohne Noten möglich? Welche Alternativen zu Noten gibt es? Stimmen aus der Bildungsforschung ordnen ein.
Lernen
Karrierenachteil Elternhaus
Die Schweiz hat zwar ein durchlässiges Bildungssystem, dennoch entscheidet vor allem die soziale Herkunft der Kinder über ihre Schullaufbahn.
Schule ohne Noten
Lernen
«Wir sind auch ohne Noten eine Leistungsschule»
Seit 2017 verzichtet die Luzerner Primarschule Staffeln während des Semesters auf Noten. Der Schulleiter und zwei Lehrerinnen berichten.
Lernen
Die Krux mit den Noten
Schulnoten, ja oder nein? Dieses Dossier beleuchtet den Stand der Debatte, alternative Beurteilungssysteme und was Kinder zum Lernen brauchen.
Alternativen zur Note. Lehrer sitzt im Klassenzimmer mit Kind und bespricht dessen Leistung.
Fritz+Fränzi
Schulnoten: Unser Thema im Februar
Sie bilden das Leistungsvermögen nur ungenügend ab. Trotzdem halten sich die Noten hartnäckig. Weshalb das so ist und was die Alternativen taugen.
Noten
Lernen
Zutrauen vermitteln statt Noten überbewerten
Nach dem Übertritt in die Primarschule bekommt ein Kind irgendwann die ersten Noten. Deren Bedeutung hängt nicht zuletzt von der Einstellung der Eltern ab.
Lernen
So gehen Kinder gerne in die Schule
Viele Kinder starten mit Freude in die erste Klasse. Damit dies so bleibt, müssen drei psychologische Grundbedürfnisse erfüllt sein.
Lernen
Die Not mit den Noten
Schulnoten stressen Schülerinnen und Schüler. Auch Lehrpersonen empfinden sie oft als unfair. Dennoch halten sie sich. Warum eigentlich?
Schluss mit der Selektion
Gesellschaft
Schluss mit der Selektion
Die Selektion nach der Primarschule ist ungerecht, findet unser Kolumnist und fordert ein radikales Umdenken.
«Hilfe
Elternbildung
«Hilfe, muss ich meine Tochter für gute Noten belohnen?»
Unsere Tochter, 10, besucht die 4. Klasse. Am letzten Elternabend erklärte uns ihre Lehrerin, dass sie uns empfehle, die Kinder für gute Noten zu belohnen.
Video-Serie: Wie sollen Eltern auf schlechte Noten reagieren?
Video
Wie sollen Eltern auf schlechte Noten reagieren?
In der Serie «Und was denkst du?» befragen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund Jugendliche rund um die Themen Schule, Eltern, Freundschaft und Zukunft.
Erziehungsmythen: Soll man Kinder für gute Noten mit Geld belohnen?
Entwicklung
Gute Noten sollte man mit Geld belohnen. Stimmt’s?
Die Mythen der Kindererziehung. Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi, geht 15 Erziehungsmythen auf den Grund.
Fabian Grolimund Kolumnist
Gesellschaft
Schüler brauchen Feedback statt Noten
Unser Kolumnist Fabian Grolimund findet sich als Vater mitten im Streit um Sinn und Unsinn von Noten wieder.
Dagmar Rösler: Das alte Lied von den Noten
Gesellschaft
Das alte Lied von den Noten
Noten sind umstritten. Höchste Zeit, dass sich die Schule hin zu einem zeitgemässen, fairen und am Kind orientierten System der Beurteilung weiterentwickelt.
Wir erzählen: Selbstliebe ist wichtiger als Noten
Familienleben
Wir erzählen: «Selbstliebe ist uns wichtiger als gute Noten»
Bedingungslose Liebe ist das, was Rahel in ihrer Kindheit erfahren hat. Und jetzt möchte sie das an ihre Kinder weitergeben.
«Jeder kann Bestnoten schreiben!»
Gesellschaft
«Jeder kann Bestnoten schreiben!»
Herr Mehrzad, beim Lesen Ihres Buches habe ich mich ein bisschen gefragt, für wen sie es geschrieben haben. Vermutlich für Schülerinnen oder Schüler, die ohnehin schon strebsam unterwegs sind… Ich habe während meiner Schulzeit festgestellt, dass Schulnoten erstaunlich wenig mit Intelligenz zu tun haben. Da gab es sehr intelligente Klassenkameraden mit schlechten Noten und solche, […]
Welchen Einfluss haben die Schulnoten bei der Berufswahl?
Berufswahl
Welchen Einfluss haben die Schulnoten bei der Berufswahl?
Herauszufinden, was man will, ist schwer genug. Und schon kommt die nächste Herausforderung: Genüge ich den Anforderungen? Bin ich gut genug für meinen Traumberuf? Eine Studie mit 514 Jugendlichen* kommt zu einem erfreulichen Resultat: Der Aussage «Ich habe die Ausbildung gewählt, die mich am meisten interessiert hat» stimmen 58 Prozent voll und ganz zu, weitere […]