Keine Panik vor dem Standortgespräch
Lädt die Lehrperson zum Gespräch in die Schule ein, sind viele Mütter und Väter zunächst verunsichert. Zu Unrecht. Denn es geht dabei vor allem darum, das Kind und sein Verhalten zu verstehen und es bestmöglich unterstützen zu können.
Philipp ist ein aufgewecktes Kind. Der Zehnjährige liest für sein Leben gern, ist fantasievoll und schiesst oft über das Ziel hinaus. In der Schule ist sein Verhalten für seine Lehrpersonen herausfordernd. Er äussert sich spontan, ohne aufzustrecken, sprudelt mit seinen Ideen heraus, ohne Rücksicht auf die Unterrichtssituation und die Regeln.
Doch wenn es im Unterricht darum geht, eine Geschichte zu lesen, zeigt Philipp Ausdauer und Konzentration. Geht es aber darum, im Stuhlkreis die Geschichte gemeinsam zu diskutieren, wird er unaufmerksam und ist häufig frustriert, weil er sich nicht verstanden fühlt. Um Philipps Verhalten besser verstehen und auf ihn eingehen zu können, lädt Philipps Klassenlehrerin seine Eltern zu einem Standortgespräch in die Schule ein.
Häufig werden Eltern mit einem schulischen Problem ihres Kindes konfrontiert, dessen vermeintliche Lösung erst mal nicht in ihrer Hand liegt. Auf der einen Seite steht die Schulschwierigkeit, die viele Massnahmen nach sich ziehen kann: Arztbesuche, Termine beim Schulpsychologischen Dienst, in der Psychomotoriktherapie usw.
Auf der anderen Seite stehen die Eltern mit ihren Ängsten und Nöten, dem Kind nicht zu genügen, nicht gut genug helfen und es nicht schützen zu können. Auch die Sorge, das Kind könnte in eine Art «Abklärungsmaschinerie» geraten, kann Mütter und Väter verunsichern. Es ist daher für Eltern, die vor einem schulischen Standortgespräch stehen, hilfreich, einige Dinge über dieses wichtige Instrument der pädagogischen Abklärung zu wissen.
Eine gute Vorbereitung ist wichtig
Leider gibt es für das Standortgespräch keinen schweizweit einheitlichen Ablauf, sondern kantonal unterschiedliche Leitfäden, die sich inzwischen allerdings an gewissen Standards orientieren. In Philipps Fall wird das Gespräch von der Klassenlehrperson geleitet. In Kantonen, die standardisierte Formulare für das schulische Standortgespräch kennen, werden diese den Eltern in der Regel vor dem Gespräch von der Lehrperson zur Vorbereitung ausgehändigt.
Anhand der Fragebögen können die Eltern im Vorfeld wichtige Informationen zusammentragen.
Die Vorbereitung auf das Standortgespräch ist für eine effiziente Gesprächsführung von grosser Bedeutung. Die Lehrperson kann nicht abschätzen, wie sich die Hausaufgabensituation oder Philipps Verhalten in der Freizeit mit Gleichaltrigen oder in Vereinen zeigt. Anhand der Fragebögen können die Eltern im Vorfeld wichtige Informationen zusammentragen und dann mit der Lehrperson während des Gesprächs teilen.
Oftmals werden auf diesen Formularen Themen wie Lernen, Spracherwerb, Mathematik, Umgang mit Anforderungen, Kommunikation, Bewegung, Selbständigkeit, Umgang mit Kindern und Erwachsenen sowie Freizeit abgefragt. Meist werden die Eltern gebeten, Stärken oder eben Probleme anzugeben. Die meisten Formulare bieten auch die Möglichkeit, Bemerkungen anzubringen. Im Kanton Zürich trägt dieses Formular den Titel «Gemeinsames Verstehen und Planen», was der Kernaufgabe der pädagogischen Abklärung entspricht: Der mit der schulischen Abklärung verbundene Aufwand ist notwendig, um Philipps ganze Lernsituation mitsamt dem Umfeld in den Blick zu nehmen und ihn so bestmöglich unterstützen zu können.
- Keine Angst vor pädagogischer Abklärung: Ziehen Sie Nutzen aus dem Gespräch.
- Füllen Sie die Formulare für ein Standortgespräch vollständig aus.
- Schreiben Sie sich Fragen auf, sollte etwas unklar sein.
- Halten Sie Stärken und Schwächen ehrlich fest.
- Nehmen Sie jemanden zur Unterstützung zum Standortgespräch mit.
Wenn Philipp am Computer eine kleine Recherche für ein Referat vorbereiten muss, zeigt er Ausdauer, Konzentration und Kreativität. Oft hilft er sogar schwächeren Lernenden. Bei Gruppenarbeiten ist es für ihn hingegen eine riesige Herausforderung, den Redebeiträgen der anderen zu folgen. Meist hat er viele Ideen, möchte diese unmittelbar teilen und auch entgegen den Meinungen der anderen umsetzen. Das führt zugleich zu Konflikten und behindert sein Lernen und das Lernen der Gruppe.
Philipps Eltern beschreiben, dass die Hausaufgabensituation von Lustlosigkeit und Ablenkungsmanövern geprägt ist. Die Aufgaben werden ohne Beisein der Eltern nicht in Angriff genommen. Häufiger Streit ist die Folge. Sobald jedoch Bewegung und Sport im Spiel sind, zeigt sich Philipp von seiner besten Seite. Seine Vereinskollegen beschreiben ihn als kollegial, zuverlässig und fokussiert.
Die Eltern mit ins Boot holen
Was also tun? Philipps Lehrerin und Eltern beschliessen gemeinsam, von weiteren Abklärungen durch den Schulpsychologischen Dienst zunächst abzusehen. Auch ohne Diagnose von Psychologen und Ärzten lässt sich das Lernen von Kindern verbessern. So geht es bei der «pädagogischen Abklärung» darum, die Eltern mit ins Boot zu holen, und nicht darum, eine psychologische oder medizinische Diagnose zu erstellen.
Die Lösungen müssen immer sowohl in Umweltfaktoren wie der Schule oder Freundschaften als auch beim Kind selbst gesucht werden.
Eltern und Lehrpersonen können Lernausgangslagen detailliert miteinander erfassen. Unterschiedliche Sichtweisen kommen zum Tragen. Die Lösungen müssen immer sowohl in Umweltfaktoren wie Schule, Unterricht, Hausaufgabensituation, Freundschaften gesucht werden als auch beim Kind, seinen inneren Notwendigkeiten und Bedürfnissen. Wenn man die Wechselwirkungen unter die Lupe nimmt, fällt auf, unter welchen Bedingungen Philipp konzentriert arbeiten kann. Pädagogische Massnahmen sollen bei ihm darauf abzielen, dass er lernt, abzuwarten oder sich nicht ablenken zu lassen. Im Unterricht braucht er Unterstützung für offene Gruppensituationen.
Im schulischen Standortgespräch wird nun Folgendes gemeinsam festgehalten:
- Zur Entlastung der Hausaufgabensituation wird den Eltern von der Lehrperson beispielsweise ein Ablauf aus einem gut untersuchten Trainingsprogramm zur Verfügung gestellt.
- Für Gruppensituationen übt Philipp, Wortbeiträge seiner Lernpartner und seine eigenen Ideen zunächst in einem Notizheft festzuhalten, um sie dann bei passender Gelegenheit einzubringen.
- Oft wurde Philipp damit bestraft, dass er nicht ins Fussballtraining durfte, wenn er die Hausaufgaben nicht erledigt hatte. Darauf soll während des nächsten halben Jahres verzichtet werden.
Sobald klar wird, wie die schulische Förderung, die Kontakte mit Gleichaltrigen, die Hausaufgabensituation sowie der Umgang mit den Schwierigkeiten in der Familie gelingen und welche Hilfsangebote in Anspruch genommen werden können, wird das Problem fassbarer und handhabbar. Eltern erleben sich dann als wirksam, als wichtige Unterstützung für das Kind. Sie sehen, dass sie nicht ohnmächtig vor dem Problem stehen oder sich gar schämen müssen.
Mit anderen Worten wird die Situation massgeblich davon beeinflusst, ob Eltern gemeinsam mit der Lehrperson eine für sie passende Lösung im Umgang mit der neuen Situation des Kindes finden. Sollten die Massnahmen nicht ausreichend sein, könnten weitere Abklärungen beim Schulpsychologischen Dienst oder weiteren Fachstellen initiiert werden.
- Abklärungsverfahren zielen darauf ab, Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Person aufzudecken.
- Eine Klärung der Problemlage und der Ressourcen baut Ängste ab.
- In der Abklärung werden keine «Schuldigen» gesucht, sondern Möglichkeiten gefunden, wie Kinder sich einbezogen und eingebunden fühlen können.
- Alle an der Bildung und Abklärung des Kindes beteiligten Personen unterstützen im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Wohl des Kindes.