Keine Panik vor dem Standortgespräch -
Merken
Drucken

Keine Panik vor dem Standortgespräch

Lesedauer: 4 Minuten

Lädt die Lehrperson zum Gespräch in die Schule ein, sind viele Mütter und Väter zunächst verunsichert. Zu Unrecht. Denn es geht dabei vor allem darum, das Kind und sein Verhalten zu verstehen und es bestmöglich unterstützen zu können.

Text: Liliana Tönnissen und Pierre-Carl Link
Bild: iStockphoto

Philipp ist ein aufgewecktes Kind. Der Zehnjährige liest für sein Leben gern, ist fantasievoll und schiesst oft über das Ziel hinaus. In der Schule ist sein Verhalten für seine Lehrpersonen herausfordernd. Er äussert sich spontan, ohne aufzustrecken, sprudelt mit seinen Ideen heraus, ohne Rücksicht auf die Unterrichtssituation und die Regeln.

Doch wenn es im Unterricht darum geht, eine Geschichte zu lesen, zeigt Philipp Ausdauer und Konzentration. Geht es aber darum, im Stuhlkreis die Geschichte gemeinsam zu diskutieren, wird er unaufmerksam und ist häufig frustriert, weil er sich nicht verstanden fühlt. Um Philipps Verhalten besser verstehen und auf ihn eingehen zu können, lädt Philipps Klassenlehrerin seine Eltern zu einem Standortgespräch in die Schule ein.

Häufig werden Eltern mit einem schulischen Problem ihres Kindes konfrontiert, dessen vermeintliche Lösung erst mal nicht in ihrer Hand liegt. Auf der einen Seite steht die Schulschwierigkeit, die viele Massnahmen nach sich ziehen kann: Arztbesuche, Termine beim Schulpsychologischen Dienst, in der Psychomotoriktherapie usw.

Auf der anderen Seite stehen die Eltern mit ihren Ängsten und Nöten, dem Kind nicht zu genügen, nicht gut genug helfen und es nicht schützen zu können. Auch die Sorge, das Kind könnte in eine Art «Abklärungsmaschinerie» geraten, kann Mütter und Väter verunsichern. Es ist daher für Eltern, die vor einem schulischen Standortgespräch stehen, hilfreich, einige Dinge über dieses wichtige Instrument der pädagogischen Abklärung zu wissen.

Eine gute Vorbereitung ist wichtig

Leider gibt es für das Standortgespräch keinen schweizweit einheitlichen Ablauf, sondern kantonal unterschiedliche Leitfäden, die sich inzwischen allerdings an gewissen Standards orientieren. In Philipps Fall wird das Gespräch von der Klassenlehrperson geleitet. In Kantonen, die standardisierte Formulare für das schulische Standortgespräch kennen, werden diese den Eltern in der Regel vor dem Gespräch von der Lehrperson zur Vorbereitung ausgehändigt.

Anhand der Fragebögen können die Eltern im Vorfeld wichtige Informationen zusammentragen.

Die Vorbereitung auf das Standortgespräch ist für eine effiziente Gesprächsführung von grosser Bedeutung. Die Lehrperson kann nicht abschätzen, wie sich die Hausaufgabensituation oder Philipps Verhalten in der Freizeit mit Gleichaltrigen oder in Vereinen zeigt. Anhand der Fragebögen können die Eltern im Vorfeld wichtige Informationen zusammentragen und dann mit der Lehrperson während des Gesprächs teilen.

Oftmals werden auf diesen Formularen Themen wie Lernen, Spracherwerb, Mathematik, Umgang mit Anforderungen, Kommunikation, Bewegung, Selbständigkeit, Umgang mit Kindern und Erwachsenen sowie Freizeit abgefragt. Meist werden die Eltern gebeten, Stärken oder eben Probleme anzugeben. Die meisten Formulare bieten auch die Möglichkeit, Bemerkungen anzubringen. Im Kanton Zürich trägt dieses Formular den Titel «Gemeinsames Verstehen und Planen», was der Kernaufgabe der pädagogischen Abklärung entspricht: Der mit der schulischen Abklärung verbundene Aufwand ist notwendig, um Philipps ganze Lernsituation mitsamt dem Umfeld in den Blick zu nehmen und ihn so bestmöglich unterstützen zu können.

5 Tipps für Eltern
  1. Keine Angst vor pädagogischer Abklärung: Ziehen Sie Nutzen aus dem Gespräch.
  2. Füllen Sie die Formulare für ein Standortgespräch vollständig aus.
  3. Schreiben Sie sich Fragen auf, sollte etwas unklar sein.
  4. Halten Sie Stärken und Schwächen ehrlich fest.
  5. Nehmen Sie jemanden zur Unterstützung zum Standortgespräch mit.

Wenn Philipp am Computer eine kleine Recherche für ein Referat vorbereiten muss, zeigt er Ausdauer, Konzentration und Kreativität. Oft hilft er sogar schwächeren Lernenden. Bei Gruppenarbeiten ist es für ihn hingegen eine riesige Herausforderung, den Redebeiträgen der anderen zu folgen. Meist hat er viele Ideen, möchte diese unmittelbar teilen und auch entgegen den Meinungen der anderen umsetzen. Das führt zugleich zu Konflikten und behindert sein Lernen und das Lernen der Gruppe.

Philipps Eltern beschreiben, dass die Hausaufgabensituation von Lustlosigkeit und Ablenkungsmanövern geprägt ist. Die Aufgaben werden ohne Beisein der Eltern nicht in Angriff genommen. Häufiger Streit ist die Folge. Sobald jedoch Bewegung und Sport im Spiel sind, zeigt sich Philipp von seiner besten Seite. Seine Vereinskollegen beschreiben ihn als kollegial, zuverlässig und fokussiert.

Die Eltern mit ins Boot holen

Was also tun? Philipps Lehrerin und Eltern beschliessen gemeinsam, von weiteren Abklärungen durch den Schulpsychologischen Dienst zunächst abzusehen. Auch ohne Diagnose von Psychologen und Ärzten lässt sich das Lernen von Kindern verbessern. So geht es bei der «pädagogischen Abklärung» darum, die Eltern mit ins Boot zu holen, und nicht darum, eine psychologische oder medizinische Diagnose zu erstellen.

Die Lösungen müssen immer sowohl in Umweltfaktoren wie der Schule oder Freundschaften als auch beim Kind selbst gesucht werden.

Eltern und Lehrpersonen können Lernausgangslagen detailliert miteinander erfassen. Unterschiedliche Sichtweisen kommen zum Tragen. Die Lösungen müssen immer sowohl in Umweltfaktoren wie Schule, Unterricht, Hausaufgabensituation, Freundschaften gesucht werden als auch beim Kind, seinen inneren Notwendigkeiten und Bedürfnissen. Wenn man die Wechselwirkungen unter die Lupe nimmt, fällt auf, unter welchen Bedingungen Philipp konzentriert arbeiten kann. Pädagogische Massnahmen sollen bei ihm darauf abzielen, dass er lernt, abzuwarten oder sich nicht ablenken zu lassen. Im Unterricht braucht er Unterstützung für offene Gruppensituationen.

Im schulischen Standortgespräch wird nun Folgendes gemeinsam festgehalten:

  • Zur Entlastung der Hausaufgabensituation wird den Eltern von der Lehrperson beispielsweise ein Ablauf aus einem gut untersuchten Trainingsprogramm zur Verfügung gestellt.
  • Für Gruppensituationen übt Philipp, Wortbeiträge seiner Lernpartner und seine eigenen Ideen zunächst in einem Notizheft festzuhalten, um sie dann bei passender Gelegenheit einzubringen.
  • Oft wurde Philipp damit bestraft, dass er nicht ins Fussballtraining durfte, wenn er die Hausaufgaben nicht erledigt hatte. Darauf soll während des nächsten halben Jahres verzichtet werden.

Sobald klar wird, wie die schulische Förderung, die Kontakte mit Gleichaltrigen, die Hausaufgabensituation sowie der Umgang mit den Schwierigkeiten in der Familie gelingen und welche Hilfsangebote in Anspruch genommen werden können, wird das Problem fassbarer und handhabbar. Eltern erleben sich dann als wirksam, als wichtige Unterstützung für das Kind. Sie sehen, dass sie nicht ohnmächtig vor dem Problem stehen oder sich gar schämen müssen.

Mit anderen Worten wird die Situation massgeblich davon beeinflusst, ob Eltern gemeinsam mit der Lehrperson eine für sie passende Lösung im Umgang mit der neuen Situation des Kindes finden. Sollten die Massnahmen nicht ausreichend sein, könnten weitere Abklärungen beim Schulpsychologischen Dienst oder weiteren Fachstellen initiiert werden.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Abklärungsverfahren zielen darauf ab, Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Person aufzudecken.
  • Eine Klärung der Problemlage und der Ressourcen baut Ängste ab.
  • In der Abklärung werden keine «Schuldigen» gesucht, sondern Möglichkeiten gefunden, wie Kinder sich einbezogen und eingebunden fühlen können.
  • Alle an der Bildung und Abklärung des Kindes beteiligten Personen unterstützen im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Wohl des Kindes.

Liliana Tönnissen
ist Senior Lecturer am Institut für Lernen unter erschwerten Bedingungen an der HfH, Zürich.

Alle Artikel von Liliana Tönnissen

Pierre-Carl Link
ist Professor für Erziehung und Bildung im Feld sozio-emotionaler und psychomotorischer Entwicklung am Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH, Zürich.

Alle Artikel von Pierre-Carl Link

Mehr zum Thema Spannungsfeld Schule – Elternhaus:

In der Schule steht das Kind im Zentrum.
Lernen
In der Schule steht das Kind im Zentrum, nicht die Eltern
Grundsätzlich ist es gut, wenn Eltern den Austausch mit der Schule suchen – solange sie dabei nicht ihre Kompetenzen überschreiten.
Wie soll eine Schule mit Vielfalt umgehen?
Lernen
Wie geht die Schule mit Mobbing an Lehrpersonen um?
Der Fall des geschassten schwulen Lehrers in Pfäffikon ZH darf nicht zur Norm werden, sagt Dagmar Rösler, oberste Lehrerin der Schweiz.
Elternmitarbeit Lehrerin spricht mit Vater und Sohn
Elternbildung
Wie Elternmitarbeit in der Schule gelingt
Eltern und Schule profitieren von Vertrauen und Zusammenarbeit. Erfahren Sie, wie Elternmitarbeit die Schulerfahrung Ihres Kindes verbessern kann.
Volksschule. Ein Mädchen sitzt im Klassenzimmer und schreibt.
Gesellschaft
Eine Schule für alle
Ein Artikel über die Bedeutung und Rolle der Volksschule in unserer Gesellschaft und warum die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern so wichtig ist.
Medienkompetenz
Lernen
Das kritische Denken als Kompass
Damit sich Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt zurechtfinden, müssen Schule und Eltern sie auf dem Weg zur Medienkompetenz begleiten.
Zankapfel Hausaufgaben
Lernen
Zankapfel Hausaufgaben – unverzichtbar oder überholt?
Warum bergen Hausaufgaben so viel Zündstoff und sind der Anlass für unzählige kontroverse Debatten? Ein Erklärungsversuch.
Umfrage Schule Mercator Stiftung
Schule
Welche Schule will die Schweiz?
Die Mercator-Stiftung wollte von Eltern hierzulande wissen, wie sie sich die ideale Schule für ihr Kind vorstellen. Projektleiter Daniel Auf der Maur ordnet die Resultate ein.
Blog
Danke, dass ihr für mich da wart!
Wir brauchen Lehrerpersonen, die Kinder und Jugendliche mögen, ihnen etwas fürs Leben mitgeben möchten und Freude an ihrem Beruf haben.
Lernen
Hinschauen hilft
10 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind gefährdet, gesundheitliche und soziale Probleme oder psychische Belastungen zu entwickeln. Was bedeutet das für Lehrerinnen und Lehrer?
Wenn zwei sich streiten, leidet das Schulkind
Lernen
Wenn zwei sich streiten, leidet das Schulkind
Lehrpersonen erleben noch häufiger Konflikte mit Eltern als mit Schülerinnen und Schülern. ­Die betroffenen Kinder geraten in einen Loyalitätskonflikt, der Hilflosigkeit und Sorgen auslöst.
«Wir haben das gesunde Mass verloren»
Lernen
«Wir haben das gesunde Mass verloren»
Sonderpädagogik-Experte Gérard Bless ist trotz vieler Stolpersteine ein Befürworter der integrativen Schule. Er erklärt, warum viele Lehrpersonen aussteigen, immer mehr Kinder therapiert werden – und ob Inklusion noch mehr Ressourcen braucht.
So wirkt sich Sport positiv auf das Lernen aus
Bewegung
So wirkt sich Sport positiv auf das Lernen aus
Die Psychologin Sharon Wolf ist der Frage nachgegangen, wie sehr Eltern in der Schule ihres Kindes präsent sein sollen.
Elternbildung
Meine 3 Höhepunkte als Schulleiterin
Welche Ereignisse vergisst eine Schulleiterin auch nach 20 Jahren nicht? Lisa Lehner blickt auf drei bewegende Momente zurück.
5. Klasse
Elternblog
Die 5. Klasse ist weniger schlimm, als Sie denken
Fritz+Fränzi-Redaktorin Maria Ryser über die Veränderungen in der Mittelstufe und wie sich Eltern selbst den Schuldruck nehmen können.
Elternbildung
Schminkverbot in der Schule – ja oder nein?
Die Lehrerin einer sechsten Klasse fordert die Eltern auf, ihren Töchtern zu verbieten, sich für die Schule zu schminken. Weltfremd oder berechtigt? Das sagt unser Expertenteam.
Elternbildung
Diese Schulen machen Eltern und Kinder sozial fit
Viele Schweizer Schulen bieten sozialpädagogische Konzepte an, die Kindern helfen sollen, ihre Sozialkompetenzen zu entfalten. Wie sich drei davon in der Praxis bewähren.
Elternbildung
«Eltern können die Einstellung ihrer Kinder gegenüber der Schule positiv beeinflussen»
Die Psychologin Sharon Wolf ist der Frage nachgegangen, wie sehr Eltern in der Schule ihres Kindes präsent sein sollen. Sie erläutert ein Programm, das die Beziehung zwischen Schule und Elternhaus verbessern soll.
Schule
Lehrerin und Mutter: In der Doppelrolle
Viele Lehrpersonen sind zugleich Eltern schulpflichtiger Kinder – auch die Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz Dagmar Rösler.
Elternbildung
Was tun, wenn die Lehrerin ein Kind vor allen anderen beleidigt?
Die Lehrerin im Kindergarten wertet ein Kind vor den anderen ab – wie soll ich reagieren? Ein Vater möchte Rat von unserem Experten-Team.
Wem gehört die Schule?
Schule
Wem gehört die Schule?
Früher gehörte das Schulhaus fraglos dem Hauswart. Wie sieht es in der zeitgemässen Schule von heute aus?
Entwicklung
Hilfe ohne Mahnfinger
Eltern und Lehrpersonen von verhaltensauffälligen Kindern stossen oft an ihre Grenzen. Unterstützung bietet eine sogenannte Multifamiliengruppe. Drei Schulpsychologinnen geben Einblick in ihre Arbeit mit einer Gruppe in Zürich.
Franca Portmann
Schule
«Schule kann man nicht erklären, man muss sie leben»
Franca Portmann, 53, arbeitet als Primarlehrerin in Wangen BE. An ihrer Schule veranstaltet sie ein Schulcafé, das Eltern vertiefte Einblicke in das Schulleben gibt.
Schule
«Man muss mit allem rechnen, auch mit dem Guten!»
Als Schulpsychologe unterstützt Benedikt Joos Lernende, Eltern sowie Lehrpersonen und bildet Beratungslehrkräfte aus. Im Interview erklärt er, wie sich Eltern am besten auf schulische Standortgespräche vorbereiten und eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Lehrperson begünstigen.
Schule
«Ich weiss, welche grosse Arbeit Lehrpersonen leisten»
Die Primarlehrerin Jasmin, 38, und der ­Ingenieur Fabian Bertschi, 38, leben mit zwei Söhnen, 10 und 11, und einer Tochter, 6, im Aargau. Von der Zusammenarbeit mit Lehrkräften können sie viel Positives berichten.