Schüler brauchen Feedback statt Noten

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Neu werden bei uns bis Ende zweiter Klasse keine Noten mehr vergeben.» Dieser Satz der Lehrerin löste beim Elternabend unseres Kolumnisten, Fabian Grolimund, heftige Diskussionen aus. Fabian Grolimund erzählt, welchen Sinn und Unsinn er selbst in Schulnoten sieht…
In Lehrerweiterbildungen erlebe ich schon lange, dass sich viele Lehrpersonen hier zumindest für die Primarschule eine Veränderung wünschen. Sie möchten ihre Schülerinnen und Schüler auf ihrem individuellen Lernweg begleiten, lernschwache und leistungsstarke Kinder dort abholen, wo sie stehen, und ein Lernangebot schaffen, von dem alle Kinder profitieren können, ohne über- oder unterfordert zu werden.
Ein Problem ist immer wieder die Verpflichtung, Prüfungen zu stellen und zu benoten.
Am Donnerstag muss sie ein Diktat schreiben lassen und ihm zurückmelden, dass seine Leistung wieder ungenügend ist. Der Schüler ist verwirrt: «Eben hat sie noch gesagt, dass ich mir Mühe gebe und es gut mache, und jetzt bin ich doch wieder so schlecht.»
Die Lehrperson kommt in Erklärungsnot. Die Motivation, die sie am Montag sorgfältig aufgebaut hat, ist eine Woche später mit der schlechten Note wieder am Boden. Vielleicht hat der Schüler sogar ein Stück weit Vertrauen in die Lehrerin eingebüsst und denkt bei der nächsten positiven Rückmeldung: «Das sagt die nur, damit ich mitmache. Ich weiss genau, dass ich es nicht kann.»
Weshalb sich Noten und individuelle Förderung nicht vertragen…
Notengebung und Prüfungen stammen jedoch aus einer Zeit, in der es darum ging, dass alle im Gleichschritt marschieren. Die einzelne Lehrperson muss nun diesen Widerspruch im Alltag auflösen. Beispielsweise, indem sie unter die schlechte Note einen aufmunternden Kommentar schreibt, einen «Bravo-Sticker» draufklebt, nach einer Abklärung die Lernziele anpasst oder durch einen Nachteilsausgleich versucht, dem Kind bei der Prüfung entgegenzukommen. Das alles frisst Zeit und Ressourcen, die wahrscheinlich anderweitig besser investiert wären.
«Aber ohne Noten wissen Schüler doch gar nicht, wo sie stehen!»
Viele Lehrpersonen versuchen dieses Problem durch sehr detaillierte Korrekturen zu lösen. Aber was interessiert Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Prüfung zurückerhalten? Die Note. Der Rest wird kaum angeschaut und fast nie als Anlass gesehen, selbständig eine Lücke oder Unverstandenes aufzuarbeiten.
Damit Lernende wirklich wissen, wo sie stehen, brauchen sie das, was der Bildungsforscher John Hattie unter formativem Feedback versteht: Schüler und Lehrperson ergründen gemeinsam, was das Ziel ist, welche Fortschritte bereits gemacht wurden, was der nächste Schritt ist und wie man dorthinkommt.
Durch Feedback erfahren Schüler, dass sich ihre Bemühungen auszahlen und Fortschritte möglich sind.
«Du hast es nicht verstanden – und jetzt gehen wir weiter!»
Wenn wir möchten, dass Schülerinnen und Schüler möglichst viel lernen, sollte Feedback in erster Linie darauf ausgerichtet sein, Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Prüfungen werden jedoch meist am Ende eines Themas angesetzt, um eine abschliessende Beurteilung vorzunehmen. Dem Schüler mit der ungenügenden Note wird damit quasi gesagt: «Du hast das Thema nicht verstanden – und jetzt gehen wir weiter.» Wenn es sich dabei um ein Thema wie «die Römer» handelt, klafft halt einfach eine Lücke in der Allgemeinbildung. Hat er «die Grundlagen der Algebra» nicht verstanden, lässt sich gleich voraussagen, dass er in den nächsten Mathematikprüfungen ebenfalls schlecht abschneiden wird.
«Aber wir müssen Kinder doch auch auf das echte Leben vorbereiten!»
Im Zusammenhang mit Noten höre ich von Eltern immer wieder den Satz, dass Kinder doch auch lernen müssten, mit Konkurrenz und Wettbewerb umzugehen, und die Schule sie auf das echte Leben vorbereiten soll.
Studien zeigen, dass Kinder in kooperativen Lernformen mehr lernen als in kompetitiven.
Zudem: Wer wird denn im Berufsleben noch benotet? Würde uns der Chef einmal pro Jahr ein Notenblatt austeilen und uns anschliessend zurück an die Arbeit schicken, würden wir höchstens komisch gucken. Stattdessen erwarten wir von einem guten Chef doch genau das, was so viele Lehrpersonen heute gerne machen würden: Dass er sich Zeit nimmt für eine klare, persönliche Rückmeldung, in der wir erfahren, wo unsere Stärken liegen, wie wir uns in der letzten Zeit entwickelt haben, wie wir zum Team beigetragen haben und wo unsere Entwicklungsmöglichkeiten liegen. Genau mit diesen Informationen zu meinem Sohn kam ich aus dem ersten Elterngespräch.
Über den Autor:
www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com
Fabian Grolimund schreibt in jeder Ausgabe fürs Elternmagazin Fritz+Fränzi. Sichern Sie sich ein Abo, damit Sie keinen seiner Texte verpassen!
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