Die Krux mit den Noten
Gehören sie abgeschafft oder geht Schule nun mal nicht ohne? Die Diskussion über Sinn und Unsinn von Schulnoten ist allgegenwärtig. Dieses Dossier beleuchtet den Stand der Debatte, alternative Beurteilungssysteme und was Kinder zum Lernen brauchen.
Schule heute hat, so viel ist sicher, nicht mehr viel gemein mit dem, was wir von ihr in Erinnerung haben. Allein das neue Jahrtausend hat der Volksschule hierzulande zahlreiche Reformen beschert – angestossen von neuen pädagogischen Erkenntnissen, internationalen Leistungsvergleichen oder Managementmodellen zur organisatorischen Modernisierung. Umso erstaunlicher, dass dem Wandel trotzt, was schon vorher umstritten war: Schulnoten. Das Thema ist ein Dauerbrenner, die Diskussion darüber neu entflammt.
Immer lauter werden Forderungen nach Abschaffung der Noten, die Zweifel daran, ob diese Form der Leistungsbeurteilung sinnvoll und noch zeitgemäss sei. Aber: Wie steht es denn um Alternativen? Sind Lernberichte, Kriterienraster oder Smileys besser fürs Lernen als Zahlen im Zeugnis? Welche Erfahrungen machen Schulen, die mit notenfreien Modellen arbeiten? Wie geht es Lehrpersonen, Eltern und Kindern damit? Und was sagt die Wissenschaft zu den Pro- und Kontra-Argumenten in dieser hitzig geführten Debatte? Diesen und weiteren Fragen sind wir für dieses Dossier nachgegangen.
Besuch bei den Pionieren
Die Reise führt zunächst ins Berner Seeland. Der Weiler Schüpberg liegt im Nebel, aus dem Riegelhaus am Ende der Strasse dringt Licht. Drinnen sitzen Kinder im Morgenkreis. Die Gitarre setzt ein, der Unterricht an der Gesamtschule Schüpberg beginnt. Schüpberg ist einer von vier Schulstandorten der Gemeinde Schüpfen und liegt abseits von deren Zentrum auf einer Anhöhe. Die Minischule ist in mehrerlei Hinsicht ein Sonderfall. Sie besteht aus einer einzigen Klasse, die 17 Kinder und Jugendliche ab Anfang Primar- bis Ende Oberstufe gemeinsam besuchen. Wer im Weiler wohnt, wird der Gesamtschule Schüpberg automatisch zugeteilt.
Sie bietet aber auch Platz für Kinder aus anderen Teilen der Gemeinde, die in grösseren Klassen Mühe hatten, weil Tempo, Lärmpegel oder die Gefahr von Ablenkung zu hoch waren. Auf dem Schüpberg dagegen ist die Gruppe überschaubar, die Betreuung durch die Lehrpersonen intensiver. Und im Sinne der Individualisierung setzt man hier auf ein komplett notenfreies Beurteilungskonzept. 2015 bewilligte die kantonale Erziehungsdirektion ein entsprechendes Gesuch der Schulleitung. Selbst wer in die Berufswahlphase startet, tut dies ohne Notenzeugnis.
Beurteilungsbericht statt Noten
So auch Achtklässlerin Anja, die vor zwei Jahren zur Klasse stiess. Nach einer Schnupperlehre als Köchin peilt sie weitere als Bäuerin und als Pferdefachfrau an. Betrieben kann sie kein Zeugnis vorweisen, aber einen erweiterten Beurteilungsbericht, in dem Lehrpersonen die schulischen Fähigkeiten der 15-Jährigen beschreiben und dabei auch ihre überfachlichen Kompetenzen thematisieren.
Ein verfremdetes Beispiel zeigt, wie ein solcher Bericht daherkommt: «Sie fällt durch ihre gewissenhafte und selbständige Arbeitsweise auf. Nicht zuletzt deshalb hat sie im vergangenen Schuljahr beim Verfassen von Texten nochmals grosse Fortschritte erzielt. Sie kann ihre Gedanken und Ideen in einer verständlichen und sinnvollen Abfolge verschriftlichen.» Die Arbeit an den überfachlichen Kompetenzen habe an der Gesamtschule Schüpberg einen hohen Stellenwert, sagt Lehrer und Schulleiter Philippe Villiger: «Für viele Lehrbetriebe sind sie genauso wichtig wie die Schulleistungen.»
Noten verursachen Stress
Der erweiterte Beurteilungsbericht, den die Kinder einmal jährlich anstelle eines Notenzeugnisses erhalten, stützt sich auf unterschiedliche Instrumente, die die Gesamtschule Schüpberg zur Leistungsbeurteilung entwickelt hat. Dazu gehören auch Lernkontrollen, aber eben noch viel mehr. Zum Beispiel das Portfolio, in dem die Schülerinnen und Schüler Arbeiten ablegen, die besonders gut gelungen sind. Auch schriftliche Rückmeldungen der Lehrpersonen kommen hinein, sei es zu schulischen oder überfachlichen Themen. Lob gab es jüngst zum Projekt über Schnecken, das Anja abgeschlossen hat. Lehrerin Vanessa Cracknell anerkennt in handgeschriebenen Zeilen, dass es Anja gelungen sei, ihr Motivationstief zu überwinden. «Ich bin froh, geht es bei uns entspannter zu», sagt Anja. «Anderswo auf der Oberstufe lernst du entweder schnell – oder du kommst halt nicht mit.» Noten setzen Kinder unter Druck.
Die Zweifel, ob Noten die schulische Leistung sinnvoll abbilden können, werden nicht kleiner.
Eines der Hauptargumente gegen das traditionelle Bewertungssystem ist auch Fazit diverser Erhebungen. 2021 befragte etwa Pro Juventute über 1000 Schulkinder zu Stress. Der Untersuchung zufolge zeigte ein Drittel von ihnen starke Anzeichen davon. Unter den Hauptstressoren rangierte die Schule beziehungsweise das Gefühl, deren Anforderungen nicht zu genügen. Und im Rahmen einer Studie der Stiftung Mercator Schweiz gab 2023 rund die Hälfte der 2600 befragten Mütter und Väter an, dass Prüfungen und Bewertungen an der Schule bei ihren Kindern zu Belastungen und Stress führten. Aus derselben Umfrage geht aber auch hervor: Obwohl die Anzahl derjenigen, die für eine Abschaffung der Noten votieren, vor allem unter Müttern und jüngeren Eltern steigt, ist die Mehrheit insgesamt dagegen. Daniel Auf der Maur von der Stiftung Mercator Schweiz überrascht dies wenig: «Die meisten Erwachsenen kennen die Schule halt nur mit Noten. Sie haben höchstens vage Vorstellungen von Alternativen. Es ist hauptsächlich Unsicherheit, die uns an Altbekanntem festhalten lässt.» Und der ehemalige Sekundarschullehrer weiss: «Viele Eltern fordern Noten ein, weil sie wissen wollen, wo ihr Kind schulisch steht. Dafür habe ich Verständnis.»
Die Macht des Zufalls
In der Vorstellung, Noten seien ein aussagekräftiges und objektives Mass für den Lernstand und die Leistung eines Kindes, liegt aus Sicht der Wissenschaft allerdings die Krux. «Noten dienen zwar als Basis für schulische Selektionsentscheide, sagen aber relativ wenig über die effektive schulische Leistung aus», fasst Winfried Kronig das Problem zusammen. Er ist Professor für Allgemeine Sonderpädagogik an der Universität Freiburg und forscht zu schulischer Selektion, Leistungsbewertung und Bildungschancen.
Seine Untersuchungen legen nahe, dass Schulerfolg weniger von Fleiss und Begabung abhängt als angenommen, sondern in erster Linie ein Produkt von sozialen Privilegien ist – und von Zufällen. Denn: «Es gibt eine ganze Reihe von Effekten, die schulische Leistungsurteile verfälschen.» Der spektakulärste ist laut Kronig der sogenannte Referenzgruppenfehler. Dazu kommt es, weil Klassen sich deutlich voneinander unterscheiden, was die Bandbreite der schulischen Leistungen betrifft.
Kronig wertete in dem Zusammenhang Daten von 2000 Sechstklässlerinnen und Sechstklässlern aus. Die Resultate am Beispiel zweier Klassen zeigen: Während in Klasse B – Kleinstadtumgebung, 22 Kinder, 4 mit Migrationshintergrund – rund 90 Prozent der Prüfungsaufgaben richtig gelöst werden mussten, um auf die Note 5,5 zu kommen, reichten in Klasse A – Kleinstadtumgebung, 20 Kinder, 5 mit Migrationshintergrund – bereits 60 Prozent der Gesamtpunkte für dieselbe Note. Solche Abweichungen, weiss Kronig, sind keine Ausnahme: «Eher ist es die Regel, dass dieselbe Leistung in der einen Klasse mit einer guten und in der anderen mit einer schlechten Note bewertet wird.» Ausserhalb des Klassenzimmers verlören Noten damit ihre Gültigkeit.
Gleiche Leistung, andere Note
Konkret kann dies bedeuten, dass die stärkste Schülerin der einen Klasse zu den schwächsten gehörte, sässe sie zufälligerweise in einer anderen. «Dieses Leistungsspektrum können Lehrpersonen auf ihrer Bewertungsskala nicht abbilden», sagt Winfried Kronig. «Es würde im gesetzten Fall bedeuten, dem Klassenbesten eine tiefe Durchschnittsbewertung zu geben. Weil das nicht geht, wählen Lehrpersonen jeweils eine ähnliche Bandbreite auf der Skala, auch wenn Klassen unterschiedlich leistungsfähig sind. Dadurch entstehen massive Verzerrungen.»
So kommt ein Kind in einer schwächeren Klasse einfacher zu guten Noten. Mit der Leistungsentwicklung verhält es sich aber umgekehrt. Kronig konnte nachweisen, dass durchschnittliche und schulschwächere Kinder in stärkeren Klassen grössere Lernfortschritte erzielen – sie erhalten dafür aber schlechtere Noten. Rückmeldungen aus der Schule prägen das Selbstkonzept eines Kindes, die Art und Weise, wie es die eigene Person, seine Fähigkeiten und Eigenschaften wahrnimmt.
Ein positives Selbstkonzept hilft Kindern, Entwicklungsaufgaben gut zu meistern, zuversichtlich zu sein und auch dann dranzubleiben, wenn es mal nicht rund läuft. Dazu gehört das Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen, sagt Philipp Bucher, Dozent für Schul- und Unterrichtsentwicklung an der Pädagogischen Hochschule FHNW. «Mathe kann ich nicht» beispielsweise sei ein wenig differenziertes Fähigkeitskonzept. Eine ergiebigere Selbsteinschätzung könnte demgegenüber lauten: «Algorithmen und Sachrechnen kann ich gut, Geometrie liegt mir auch, aber mit binomischen Formeln habe ich Mühe.»
Noten abzuschaffen, ohne das Bildungssystem zu reorganisieren, ist sinnlos.
Markus Neuenschwander, Erziehungswissenschaftler
Eine solche Haltung entwickeln Kinder nicht von selbst, sie sind dafür auf entsprechende Rückmeldungen angewiesen. Es gibt unterschiedliche Arten, schulische Leistungen zu beurteilen, die Wissenschaft nennt in dem Zusammenhang drei Bezugsnormen: die individuelle – wo habe ich Fortschritte gemacht? –, die sachbezogene – was muss ich können und wo stehe ich diesbezüglich? – und die soziale – wie schneide ich im Vergleich mit anderen ab? «Wir wissen, dass Kinder am meisten profitieren, wenn sie individuelle, aber auch kriterienorientierte Rückmeldungen bekommen », sagt Bucher. «Der soziale Vergleich, wie Noten ihn herstellen, schwächt das Selbstkonzept und ist dem Lernen eher abträglich. Auf der Oberstufe führt er etwa dazu, dass Schüler sich mit einer mittelmässigen Note zufriedengeben, nur weil andere schlechter abschnitten.»
Fortschritte sichtbar machen
Eine bare Ziffer taugt als Rückmeldung wenig, weiss auch Katharina Maag Merki, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. «Was Kinder zum Lernen brauchen, sind nachvollziehbare Informationen dazu, was sie schon können, wo sie noch üben müssen und welche Lernschritte als Nächstes anstehen.»
Wie das aussehen kann, zeigt ein Blick in den Ordner einer Viertklässlerin an der Primarschule Staffeln. Die Schule gehörte zu den ersten in Luzern, die Ziffernoten durch vielfältige alternative Beurteilungsformen ersetzt hat – zumindest unter dem Semester. Halbjährlich muss sie, so fordert es das kantonale Gesetz, Kindern ab der dritten Klasse ein Notenzeugnis ausstellen.
«Orientieren im Millionenraum» lautet aktuell das Thema in Mathe. Dazu haben Klassenlehrerin Daniela Muff und Juliette Kopp, Lehrperson für integrative Förderung, ein Kriterienraster mit 13 Lernzielen erstellt. Die erste Spalte beschreibt das jeweilige Lernziel in Worten, die zweite illustriert es bildlich, die dritte ist reserviert für Rückmeldungen der Lehrerin. Dort setzt Muff auf einer Skala Kreuzchen, die Auskunft darüber geben, wo das Kind in Bezug auf das Lernziel steht. Die besagte Viertklässlerin liegt am oberen Ende der Skala, wenn es darum geht, Zahlen der Grösse nach zu ordnen oder sie auf dem Zahlenstrahl abzulesen – das kann die Schülerin schon gut. Beim Subtrahieren befindet sie sich im Mittelfeld, das Teilen muss sie noch intensiver üben.
«Laufende Standortbestimmung»
Das Raster soll Kindern ihre Fortschritte aufzeigen und ihnen im Lernprozess zur Orientierung dienen. Anlass zur Rückmeldung beziehungsweise Einschätzung durch die Klassenlehrerin geben unterschiedliche Gelegenheiten. «Das kann beispielsweise eine Lernkontrolle sein, eine Hausaufgabe oder ein mündlicher Beitrag », sagt Muff. «Oft verfahren wir auch so, dass ein Kind Bescheid gibt, wenn es bereit ist, mir zu zeigen, was es gelernt hat. Dann plane ich für das Kind Exklusivzeit ein, während die Heilpädagogin mit der Klasse weiterarbeitet.»
Das Überprüfen von Kompetenzen, Einschätzungen dazu, wie gut entwickelt diese sind – das dürfen sich Lehrpersonen nicht für Prüfungen aufsparen, betont Bildungsforscherin Maag Merki: «Es muss in den schulischen Alltag integriert sein, denn guter Unterricht lebt von Feedback.» Dafür böten sich unterschiedliche Varianten an, seien es digitale Lern-Apps, Selbstkontrollen im Multiple-Choice-Verfahren, Arbeiten mit Kriterienrastern oder ein paar persönliche Worte der Lehrperson. «Solche Rückmeldefunktionen gilt es möglichst oft zu nutzen», sagt Maag Merki. «Ziel ist eine laufende Standortbestimmung, statt sie alle paar Wochen für 20 Kinder aufs Mal zu stemmen.»
Woran Alternativen scheitern
An Kritik am System mangelt es nicht. Und doch scheint, zumindest auf breiter Front, kein Weg an den Noten vorbeizuführen. Warum eigentlich? Zumal viele Schulen bereits mit einer Vielzahl von alternativen Beurteilungsverfahren arbeiten. Aus Sicht der Bildungsforschung ist deren Bilanz allerdings durchzogen, was Aussagekraft, pädagogische Qualität oder praktische Umsetzbarkeit betrifft. Zwar sind Expertinnen und Experten zufolge gute Feedbackinstrumente darunter, die mehr taugen als Noten, um Kindern eine förderorientierte Rückmeldung zu geben. Geht es allerdings darum, das Notenzeugnis als Grundlage für schulische Laufbahnentscheidungen abzulösen, gibt sich die Wissenschaft skeptisch.
«Noten bilden Leistungen bekanntlich unzureichend ab, und trotzdem haben sie als Selektionsinstrument weitreichende Folgen für den Bildungsweg», weiss Bildungsforscher Kronig. «Das Problem ist: Die gängigen Alternativen sind genauso anfällig für Verzerrungen.» Mehr Aussagekraft als Zeugnisnoten und bessere Vergleichbarkeit zwischen Schulleistungen böten Kronig zufolge Kriterienraster, welche die im Lehrplan aufgelisteten Kompetenzen in konkrete Lernziele übersetzen und sichtbar machen, wo ein Kind in Bezug auf diese steht. «Im jetzigen System», ist er überzeugt, «wäre so eine Beurteilungsform aber nicht leistbar. Sie würde am Aufwand scheitern.»
So geschehen im Kanton Bern. Dort bodigte vor bald 20 Jahren die Opposition der Lehrpersonen die damals neu eingeführte «Schülerbeurteilung», erdacht mit dem Anspruch, Leistungen transparenter zu beurteilen als durch Noten allein. In einem Raster sollten Lehrpersonen zusätzlich festhalten, wo das Kind im Hinblick auf die vom Lehrplan geforderten Ziele steht. «Sie waren so lange mit Listen beschäftigt», sagt Kronig, «dass die Zeit zum Unterrichten darunter litt.» Auch in Basel-Stadt haperte es mit der Umsetzbarkeit alternativer Bewertungssysteme: In der mittlerweile abgeschafften Orientierungsschule – sie umfasste ab den späten Neunzigern die vierte bis siebte Klasse – war die Beurteilung ohne Noten «so komplex, dass sie die Redaktion eines Handbuchs für Lehrpersonen nötig machte und in Kursen eingeführt werden musste», schreibt Pierre Felder, ehemaliger Leiter der Volksschulen, im Buch «Für alle! Die Basler Volksschule seit ihren Anfängen».
Fallen die Würfel zu früh?
Noten ja oder nein – dies sei nicht die entscheidende Frage, sagt Markus Neuenschwander, Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation an der Pädagogischen Hochschule FHNW: «Es geht darum, was für ein Bildungssystem wir wollen: ein integratives, in dem Kinder unabhängig von ihren schulischen Fähigkeiten gemeinsam lernen, oder ein segregierendes, das sie in Leistungskurse oder Niveaus gruppiert? Wenn wir an Letzterem festhalten, braucht es ein Instrument, das Leistung in irgendeiner Form messbar macht und diese Gruppierung rechtfertigt. Noten abzuschaffen, ohne das Bildungssystem zu reorganisieren, ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll.»
Die Entscheidung, ab welcher Schulstufe Noten ins Zeugnis müssen, fällen in der Regel die kantonalen Parlamente. Dies führt, wie so oft in der Schweiz, zu einem föderalen Flickenteppich. In den Kantonen Aargau, St. Gallen, Wallis, Zug oder Zürich beispielsweise erhalten Kinder ab der zweiten Primarklasse ein Notenzeugnis, im Kanton Glarus gar ab der ersten – während es in Bern und Basel-Stadt erst ab der vierten respektive fünften Primarklasse losgeht.
Der Zeitpunkt der Noteneinführung ist unterschiedlich geregelt, aber eines haben fast alle Kantone gemeinsam: Ab dann muss, so will es die jeweilige Gesetzesgrundlage, ein Zeugnis mit Zahlen her. In manchen Kantonen nur einmal pro Jahr, in anderen halbjährlich. Zwar haben Schulgemeinden sowie einzelne Schulen die Möglichkeit, im laufenden Semester oder Schuljahr auf Noten zu verzichten und Leistungen von Kindern mit anderen Mitteln zu beurteilen – davon machen schweizweit auch immer mehr Schulen Gebrauch. Was allerdings nichts daran ändert, dass auch sie zur Zeugnisabgabe nicht um Noten herumkommen. Ausnahmen sind selten. In Bern etwa können Schulen, die aufs Notenzeugnis verzichten wollen und andere Beurteilungskonzepte vorweisen können, bei der kantonalen Bildungsdirektion ein Gesuch für einen entsprechenden, zeitlich begrenzten «Schulversuch» einreichen.
Ähnlich sieht es Bildungsforscher Kronig. «Der Selektionsauftrag beisst sich mit dem Förderauftrag», sagt er. «Da liegt der Haken. Wir können Zeugnisnoten durch Alternativen ersetzen, die Selektion fällt dadurch nicht weg. Ein gesellschaftliches Problem lässt sich nicht pädagogisch lösen.» Ist die Forderung nach Abschaffung der Noten also im Grunde genommen die nach einer Schule ohne Selektion? «Die Anforderungen der Berufswelt werden immer spezifischer», sagt Bildungsforscherin Maag Merki.
«Es ist eine wichtige Aufgabe der Schule, da vorzuspuren, damit junge Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeitsprofilen dahin gelangen, wo sie hinpassen.»
Allerdings müssten die Weichen, wenn es nach Maag Merki oder Kronig geht – beide erforschen die Gründe für ungleiche Bildungschancen –, nicht so bald gestellt werden, wie es hierzulande der Fall ist. Nach sechs Jahren Primarschule erfolge die Selektion zu früh. «Die Gleise, auf die Kinder dann gelenkt werden, verlassen die meisten nicht mehr», sagt Maag Merki. «Daran ändert die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems wenig. Die Tatsache, dass ein höherer Schulabschluss, der bessere Perspektiven bietet, später noch möglich wäre, erweist sich in der Realität oft als reine Theorie.»
Ganz ohne Schulnoten geht es nicht
Besser wäre es laut der Bildungsexpertin, wenn zumindest der Fokus der Primarschule allein dem Förderauftrag, dem Lernen, gälte – ohne Selektionspflicht, die davon ablenkt und Lehrpersonen unter Druck setzt, Zwölfjährige treffsicher zu schubladisieren. «Je länger sich Kinder aufs Lernen konzentrieren können, desto besser», sagt Maag Merki. «Eine spätere Selektion erhöht die Chance, sich fachlich verbessert und an Reife gewonnen zu haben, wenn weitreichende Entscheidungen für den persönlichen Bildungsweg anstehen.»
In einem Punkt sind sich wohl alle einig: Unser schulisches Bewertungssystem ist in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Deshalb sind Lehrpersonen aber nicht die Hände gebunden, findet die Luzerner Primarlehrerin Daniela Muff. «Kritische Stimmen sagen, dass alternative Beurteilungsformen eine Alibiübung sind, wenn am Ende doch Noten ins Zeugnis müssen», sagt sie. «Einerseits stimmt das. Anderseits betrifft die Zeugnisabgabe zwei Tage im Jahr. Ich sehe keinen plausiblen Grund, wieso wir uns an den restlichen Tagen nicht um differenziertere Rückmeldungen bemühen sollten, die Kindern motivierteres Lernen ermöglichen.»
- Björn Nölte, Philippe Wampfler:
Eine Schule ohne Noten. Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung.
Hep Verlag 2021, ca. 26 Fr. - Winfried Kronig:
Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs: Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zu Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen.
Haupt Verlag 2007, ca. 30 Fr. - Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant:
Lernen ohne Noten. Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung.
Kohlhammer 2019, ca. 40 Fr.