Wozu überhaupt Bildung? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Wozu überhaupt Bildung?

Lesedauer: 2 Minuten

Wie viel von dem, was man einmal in der Schule gelernt hat brauchen wir heute eigentlich wirklich? Unser Autor über Schulnoten, Literatur und Humor.

Text: Mikael Krogerus
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Es ist unschwer zu erkennen: Kinder von heute wollen nicht mehr lernen. Sie haben kein Interesse. Ihre Aufmerksamkeitsspanne reicht nicht mal aus, um das Laden einer Website abzuwarten, wie sollen sie sich da ernsthaft auf die Lektüre von, sagen wir, «Emilia Galotti» oder das Lösen eines mathematischen Problems einlassen? Ich sehe das an meinen Kindern. Sie kommen in die dritte und die achte Klasse, haben aber beide schon – beziehungsweise noch – keine Lust auf Lernen. Die einzigen Mittel sind Druck und Zwang. Notendurchschnitt, Nachhilfe, Elterngespräch – das Bermudadreieck des bildungsbürgerlichen Elterndaseins.

Ach, es ist zum Davonlaufen! Meine Tochter sagt gern, wenn sie an den Hausaufgaben sitzt: «Sooo wichtig ist Schule doch nicht.» «Was ist wichtiger?» frage ich. «Spielen.»

Mag ja sein, dass Selfies, Minecraft, und Let’s Play die Kids abstumpfen lassen. Aber wie lebensbejahend sind Differentialrechnungen, Walter von der Vogelweide oder Periodensysteme?

Ihre Antwort ist herzig. Aber wenn man drüber nachdenkt, fällt einem kein wirkliches Gegenargument ein. Denn seien wir ehrlich, was von dem, was wir in der Schule gelernt haben, brauchen wir heute schon? Zehn Jahre Französisch – Subjonctif rauf und runter, Textanalyse von Vercors’ «Le silence de la mer» –, aber in Frankreich sehe ich mich nicht im Stande, nach dem Halbzeitstand von Paris St-Germain gegen den FC Barcelona zu fragen oder wenigstens fehlerfrei ein lokales Bier zu bestellen.

Ich könnte vermutlich noch das endoplasmatische Retikulum auf einer schematischen Zeichnung erkennen, wüsste aber nicht, wofür es gut ist. So viel zur angewandten Biologie. Unser Deutschlehrer mit seiner Vorliebe für mittelhochdeutsche Literatur zwang uns zu seelenlos durchstrukturierten Erörterungen, einen Sinn für die Schönheit deutscher Sprache oder einen sicheren Blick für scharfe Argumente entwickelten wir dabei nicht.

Seien wir ehrlich, was von dem, was wir in der Schule gelernt haben, brauchen wir heute schon?

In Mathematik behielt ich mit meiner frühen Vermutung recht, dass mir Vektoren jenseits der Schule nie mehr begegnen würden. Und was war los in meinem Lieblingsfach Geschichte? Eurozentrisches Weltbild, komplett unkritische Antikenverehrung und eine fragwürdige Vorliebe für Grössenwahnsinnige wie Alexander der Grosse.

Mag ja sein, dass Selfies, Minecraft, und Let’s Play die Kids abstumpfen lassen. Aber wie lebensbejahend sind Differentialrechnungen, Walter von der Vogelweide oder Periodensysteme? Nie wieder in meinem Leben war ich so müde wie im Mathematikunterricht. Nie wieder vergass ich etwas so schnell wie die langsam eingepaukten Chemieformeln.

Und umgekehrt wird erst so richtig ein Schuh draus: Wenn ich mein bisheriges Leben betrachte, welche Kerneigenschaften haben mir am meisten geholfen? Ich würde spontan Zufall, Mitgefühl, Neugierde und Humor nennen. Ich bezweifle, dass sie in irgendeinem Lehrplan standen.

Ich rede hier übrigens nicht obskuren No-Schooling-Praktiken oder dem Homeschooling das Wort; es ist sicher nicht verkehrt, fehlerfrei lesen, schreiben und rechnen zu können und auch mal Dinge zu lernen, für die man nie wieder Verwendung findet. Ich sage nur, was ich auch meiner Tochter sagte: «Geh raus, spielen!»

Mikael Krogerus
ist Autor und Journalist. Der Finne ist Vater einer Tochter ­und eines Sohnes, lebt in Basel und schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi.

Alle Artikel von Mikael Krogerus

Lesen Sie mehr zum Thema Erziehung:

Erziehung
«Eltern brauchen viel Vertrauen. In sich selbst. Und in das Leben»
Viele Eltern wollen ihre Kinder bedürfnisorientiert erziehen und erfüllen dabei vor allem deren Wünsche, sagt die Pädagogin Inke Hummel. Als Ursache dafür sieht die Ratgeberautorin eine Konfliktscheue, die aus der eigenen Kindheit rührt.
Sackgeld
Advertorial
Durch Sackgeld den Umgang mit Geld lernen 
Sackgeld ist ein wichtiger Teil der Erziehung. So lernen Kinder, Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen.
Blog
Alles verwöhnte Saugoofen?
Unser Kolumnist Christian Johannes Käser erinnert sich an seine Grossmutter und fragt sich, ob wir unsere Kinder manchmal zu sehr verwöhnen.
bedürfnisorientert erziehen
Erziehung
«Bedürfnisorientiert heisst nicht konfliktfrei»
Im Video-Interview sagt Inke Hummel, was bedürfnisorientiert erziehen bedeutet und warum Kommunikation in diesem Kontext so wichtig ist.
Patchwork
Erziehung
Wie gelingt Patchwork? 10 Fragen und Antworten
Das Leben mit neuem Partner und dessen Kindern ist anspruchsvoll. Expertinnen und Experten antworten auf Fragen, die Patchworkfamilien umtreiben.
Video
Wie viel Schlaf braucht mein Kind?
Wie viel Schlaf benötigt ein Kind? Antworten liefert die Jugendmedizinerin Rabia Liamlahi in ihrem Vortrag.
Mikael Krogerus Kolumnist
Familienleben
Vom Stress, nicht gut genug zu sein
Der gesellschaftliche Druck drängt Jugendliche und Eltern in den Perfektionismus. In den dunkelsten Stunden wendet sich Kolumnist Mikael Krogerus an Gott und bittet um Erlösung. 
Was tun bei Geschwisterstreit?
Erziehung
Was tun bei Geschwisterstreit?
Geschwister streiten sich. Das ist normal. Dass man sich als Eltern darüber aufregt auch. Doch müssen Sie nicht bei jedem Streit sofort eingreifen.
Wie geht Erziehung ohne Schimpfen?
Elternbildung
Wie geht Erziehung ohne Schimpfen?
In den meisten Familien gehört Schimpfen zum Alltag: Eltern schimpfen mit ihren Kindern, mal mehr, mal weniger. Doch Grenzen und Regeln lassen sich durch Anbrüllen nicht durchsetzen.
Video
Das kindliche Spiel begleiten – was ist sinnvoll?
Oskar Jenni erklärt in seinem Vortrag, warum Kinder spielen und erläutert die verschiedenen Formen des Spieles sowie die Spielbereitschaft von Kindern.
Fritz+Fränzi
Kindliche Entwicklung: Unser Thema im Juli und August
Jedes Kind ist anders – trotzdem gibt es typische Entwicklungsphasen. Wer diese kennt, kann den Familienalltag gelassener angehen.
Erziehung
Mein Kind räumt sein Zimmer nicht auf
Viele Kinder sind mit der Aufforderung, ihr Zimmer aufzuräumen, überfordert. Anderen ist Ordnung einfach nicht so wichtig. In unserem Video zeigen wir Ihnen, wie Sie die Sache am besten angehen. 
Familie Grundlehner zum Thema Ängste und Mut
Gesundheit
«Amyras Ängste schränkten unser Leben zunehmend ein»
Familie Grundlehner lebt am Bodensee. Als die achtjährige Tochter Amyra immer ängstlicher wurde, holte sich das Paar professionelle Hilfe.
Erziehung
Jetzt beeil dich doch mal!
In Familien gibt es oft Konflikte rund um das Thema Zeit. Jüngere Kinder können mit vielen Zeitbegriffen noch gar nichts anfangen, ältere wollen sich bewusst davon abgrenzen.
Video
Zu viel oder zu wenig – wieviel Sport tut Kindern gut?
Wie fördert man Bewegungsmuffel und Sportskanonen? Im Interview spannt Susi Kriemler den Bogen von «zu wenig Sport» bis zu «zu viel Sport».
Fritz+Fränzi
Mutige Kinder: Unser Thema im Juni
Wie Kinder an der Überwindung ihrer Ängste wachsen – und was Eltern dazu beitragen können.
Was tun, wenn dem Kind langweilig ist?
Erziehung
Was tun, wenn dem Kind langweilig ist?
«Mir ist langweilig!» Dieser Satz kann Eltern ziemlich nerven. Oft neigt man dann reflexartig dazu, dem Kind Vorschläge zu machen, womit es spielen könnte.
Mikael Krogerus Kolumnist
Elternblog
Es ist nicht eure Aufgabe, eure Kinder glücklich zu machen!
Eltern sollten nicht darum bemüht sein, ihren Kindern jedes Problem abzunehmen, sondern sie in ihren Gefühlen ernst nehmen.
Elternbildung
Was tun, wenn sich die Tochter bauchfrei kleiden will?
Eine Mutter macht sich Sorgen: Ihre Tochter möchte sich freizügig anziehen, um mit Freundinnen in die Stadt zu gehen. Wie soll sie vorgehen?
Fritz+Fränzi
Jugend in der Krise: Unser Thema im Mai
Warum immer mehr Kinder und Jugendliche psychisch erkranken – und worauf Eltern achten sollten.
Was Eltern zu wissen glauben
Erziehung
Was Eltern zu wissen glauben
Erziehungsmythen prägen das Verhalten von uns Eltern oft mehr, als wir denken. 22 gängige Glaubenssätze auf dem Experten-Prüfstand.
Video
Pädagogische Autorität – eine verstaubte Kategorie?
Roland Reichenbach spricht im Kosmos Kind-Vortrag über Qualität, Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Beziehungsformen.
Erziehungsmythen: Unser Thema im April
Fritz+Fränzi
Erziehungsmythen: Unser Thema im April
Welche Glaubenssätze unser Verhalten im Umgang mit Kindern prägen – und was sie für Mütter, Väter und Lehrpersonen wirklich bedeuten.
Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!
Erziehung
«Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!»
«Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!» Elterncoach Sandra Schwendener sagt, wie Mütter und Väter es schaffen können, ihre eigenen Kräfte richtig einzuschätzen, bevor sie ausbrennen.
Lernen
Wo Kinder Erfinder sein dürfen
Wo Kinder Erfinder sein dürfen Was macht Kinder kreativ? Und warum ist das wichtig? Eine Innovationswerkstatt in Basel lässt Schülerinnen und Schüler eigene Lösungen finden.