Was habe ich als Lehrer mit den Hausaufgaben nur angerichtet?
Bild: Désirée Good / 13Photo
Hausaufgaben sorgen in vielen Familien regelmässig für Streit und rote Köpfe. Unser Kolumnist ist Seklehrer und weiss, wie eine gute Hausaufgabenpraxis aussieht. Und wie Dramen abgewendet werden können.
Es ist Montagvormittag, ich sitze in einem Elterngespräch, nach vier Lektionen Unterricht. Am Tag zuvor, am Sonntagabend, er reichte mich um 17 Uhr der Anruf einer aufgebrachten Mutter: «Das kann so nicht weitergehen!», teilte sie mir am Telefon mit. Sie habe nach dreieinhalb Stunden Mathehausaufgaben die «Reissleine» gezogen und dem Sohn die Mathematiksachen weggenommen.
Wir Lehrpersonen erfahren von diesen Dramen oft erst, wenn die Situation bereits verfahren ist.
Nun sitze ich also mit Mutter und Sohn an diesem Gespräch. Die Mutter schildert, dass ihr Sohn in der vergangenen Woche «nur für Ihre Matheaufgaben, Herr Zingg», zehn Stunden aufgewendet habe. Sie ist sehr erbost, und ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich war der Ansicht, ich hätte Hausaufgaben für etwa 20 Minuten gegeben. Was stimmt hier nicht?
Als Lehrperson auf der Sekundarstufe I mache ich mir sehr wohl Gedanken, wie viele und vor allem welche Art Hausaufgaben ich den Lernenden erteile. Aus meiner eigenen Schulzeit kenne ich noch das «Fertigmachen» von Aufgaben, das «Aufholen». Heute weiss man aus verschiedenen Forschungsarbeiten, dass diese Hausaufgaben keinen Lernzuwachs bewirken, sondern die Schüler und Schülerinnen eher demotivieren.
Eine gute Hausaufgabenpraxis sieht wie folgt aus:
- Hausaufgaben sollen von den Jugendlichen selbständig gelöst werden können.
- Übungsaufgaben dürfen vorkommen, sollten aber eher die Ausnahme bilden.
- Kluge Aufgaben sind abwechslungsreich, attraktiv, handlungsorientiert und werden selbständig verstanden. Dann braucht es weniger, um den gleichen Lernzuwachs zu erreichen.
- Quantitativ sollte man lieber regelmässig wenige als punktuell viele Hausaufgaben geben.
- Damit Hausaufgaben bedeutsam und lernwirksam werden können, soll regelmässig individuelles, förderorientiertes Feedback zu den Hausaufgaben erfolgen.
Gute Hausaufgaben sind abwechslungsreich, attraktiv und können selbständig gelöst werden.
Bei mir sollen die Schülerinnen und Schüler nicht mehr als 20 Minuten Hausaufgaben pro Tag für Mathe machen. Trotzdem hat dieser Schüler länger daran gearbeitet. Wieso? Weil er ehrgeizig ist und es unbedingt perfekt machen will. Das ist lobenswert, aber ich möchte das nicht.
Ich habe also der Mutter den Auftrag gegeben, die Hausaufgaben nach spätestens 30 Minuten abzubrechen. Wenn die Aufgaben in dieser Zeit nicht erledigt werden können, liegt der Fehler bei mir, weil ich mich unklar ausgedrückt oder eine für den Schüler zurzeit noch nicht lösbare Hausaufgabe aufgegeben habe. Die Mutter war erleichtert. Weitere Dramen konnten abgewendet werden. Zwar macht der Schüler noch heute manchmal während mehr als 30 Minuten Hausaufgaben, aber die Situation hat sich deutlich gebessert. Dann und wann ist er sogar bereits nach 15 Minuten fertig.
Eltern sollten ihrem Kind vor allem ein ruhiges Umfeld zum Lernen schaffen.
Man stelle sich vor, die Mutter hätte sich nicht gemeldet. Der Schüler wäre in der Folge immer frustrierter geworden, seine Leistungen wären wahrscheinlich gesunken. Als Lehrperson hätte ich dann immer mehr nachgefragt und schliesslich, nach einem Monat oder zwei, die Eltern zu einem Gespräch eingeladen, weil ihr Sohn ungenügende Leistungen erbracht hätte. Dieses Elterngespräch wäre dann mit Sicherheit für alle unangenehmer ausgefallen. Da bin ich gerne bereit, mehrere Elterngespräche wie das eben geschilderte zu führen. Deshalb, liebe Eltern, kontaktieren Sie uns Lehrpersonen bei Fragen oder Problemen frühzeitig – es hilft allen Beteiligten.
Kindern, die nach der Schule allein zu Hause sind, sollte nach dem Unterricht eine kostenlose Betreuung zur Verfügung stehen.
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