«Eltern sollten Entwicklung anstossen, nicht bremsen»
Das Verhältnis zwischen Jugendlichen und Eltern sei so gut wie nie, sagt Soziologe Klaus Hurrelmann, der profilierteste Jugend- und Generationenforscher im deutschsprachigen Raum. Er erklärt, weshalb das für alle Beteiligten auch Stolpersteine birgt.
Herr Hurrelmann, Sie erforschen seit Jahrzehnten Beziehungen, Befinden und Werte von 12- bis 25-Jährigen. Wie erlebt die aktuelle Jugendgeneration das Verhältnis zu ihren Eltern?
Die Shell-Studie, eine der grössten Jugendumfragen im deutschsprachigen Raum, aber auch andere Untersuchungen zeigen: Die Beziehung zwischen Jugendlichen und ihren Eltern hat sich in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich verbessert.
Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen hat ein gutes oder sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern, in der Shell-Studie berichteten nur rund 10 Prozent von Spannungen. Entsprechend zufrieden sind Jugendliche mit der Erziehung durch ihre Eltern. Drei Viertel von ihnen bezeichnen diese als Vorbild und wollen ihre Kinder dereinst ähnlich erziehen. Die starke Revolte gegen die Eltern, wie sie einst gang und gäbe war, fällt heute weitgehend aus.
Die Entwicklungsaufgabe, sich von den Eltern zu lösen, dauert heute bis weit über die Pubertät hinaus.
Wie ist das zu erklären?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Der vermutlich gewichtigste ist das veränderte Erziehungsverhalten – weg vom autoritären Ansatz, der auf Gehorsam und Disziplin, schlimmstenfalls Einschüchterung und Gewalt beruht, hin zu einer partizipativ-demokratischen Herangehensweise. Zu meiner Zeit wollte man möglichst schnell weg von zu Hause, sich nicht länger gängeln lassen.
Heute ist das Verhältnis zwischen den Generationen geprägt von gegenseitigem Verständnis, Solidarität und weitgehender Harmonie – für einen 68er wie mich eine überraschende Konstellation. Wir haben zudem die besondere Situation, dass die Jugend früher beginnt und viel später endet.
Inwiefern?
Den Beginn der Jugend gibt die Biologie vor: Das Eintreten der Pubertät, das sich in den letzten 200 Jahren um vier bis sechs Jahre nach vorne verschoben hat. Das Ende der Jugend ist weniger klar definiert. Im üblichen Verständnis gilt als erwachsen, wer ungefähr weiss, welche gesellschaftlichen und beruflichen Interessen er oder sie hat, wer den Absprung aus dem Elternhaus geschafft und sich in die Gesellschaft integriert hat. Mit 18 oder 20 erfüllt diese Kriterien kaum noch jemand.
Europaweit ziehen die meisten Jugendlichen nicht vor 25 aus. Hierbei spielt sicher eine Rolle, dass Ausbildungen länger dauern und Heranwachsende finanziell abhängig sind von den Eltern. Gewiss sind manche zu bequem, um auszuziehen: Man hat eine günstige Schlafstätte, geniesst die Vorzüge eines funktionierenden Haushalts. Es würde aber zu kurz greifen, solche Umstände allein als Grund dafür anzuführen, dass die räumliche Distanzierung zu den Eltern so spät vonstattengeht.
Solange der Nachwuchs da ist, muss man sich nicht mit der Frage beschäftigen, wie es danach weitergeht.
Warum?
Weil man sich auch innerlich, also emotional nicht von ihnen entfernt hat. Umfragen bei über 20-Jährigen zeigen, dass für viele die Eltern noch immer als wichtigste Berater in allen Lebenslagen fungieren. Eltern bringen dem Nachwuchs bis in die späten Jugendjahre Fürsorglichkeit entgegen und die Kinder sind froh, auf deren Unterstützung zurückgreifen und ihnen gewisse Entscheidungen überlassen zu können.
Die Entwicklungsaufgabe, sich von den Eltern zu lösen, dauert heute bis weit über die Pubertät hinaus. Das muss man nicht bewerten, man kann es so stehen lassen – und darf nicht vergessen, dass die Eltern auch etwas davon haben.
Wie meinen Sie das?
Zum einen bezieht sich der Begriff der Jugendlichkeit heute nicht nur auf einen Lebensabschnitt, er wird auch als Lebensstil gedeutet, der für Offenheit, Spontaneität und Experimentierfreude steht und zu einer Art Maxime avanciert ist: Man will, unabhängig vom Alter, jung bleiben, sprich aufgeschlossen, unternehmungslustig. Mit Jugendlichen im Haushalt ergibt sich das ein Stück weit automatisch.
Die Kinder halten einen geistig in Bewegung, und ihre Unterstützung ist, gerade wenn es um digitale Themen geht, nicht zu unterschätzen. Zum anderen muss man sich, solange der Nachwuchs da und einem emotional so nah ist, nicht mit Fragen beschäftigen, die man lieber verdrängt: wie es nach der Familienphase weitergehen soll – beruflich, in der Partnerschaft. Das ist aber ein zweifelhafter Gewinn, der Eltern zum Nachteil gereichen kann, weil sie es nicht schaffen, ihre Rolle neu zu definieren.
Was ist mit den Heranwachsenden? Laufen die durch den aktuellen Zeitgeist nicht Gefahr, in Bezug auf Selbständigkeit zu scheitern? Ein neuerer Bestseller bezeichnet die heutigen Jugendlichen als «Generation lebensunfähig».
Das wäre ein sehr pessimistisches Szenario: dass wir in 15 Jahren lauter unselbständige Erwachsene haben, die bei jeder Kleinigkeit auf Unterstützung angewiesen und stets auf Bestätigung aus sind. Die optimistische Variante wäre die Annahme, dass alles bloss etwas länger dauert und junge Menschen sich mehr Zeit nehmen für die Frage, wer sie sein und wohin sie gehen wollen. Vermutlich wird die Realität irgendwo dazwischen liegen.
Sicher ist: Mit den Autonomiebemühungen des Kindes in der Pubertät können Eltern nur dann angemessen umgehen, wenn sie das Rad der Zeit nicht zurückdrehen oder die Tatsache verwischen wollen, dass zwei unterschiedliche Generationen unter einem Dach wohnen. Die Aufgabe der Eltern liegt darin, Entwicklung anzustossen, nicht, sie zu bremsen. Sie können bereits während der Pubertät ihrer Kinder ein paar Weichen stellen, damit die Sache mit dem Erwachsenwerden innert nützlicher Frist gelingt.
Fragen rund um Ausbildung, Finanzen und auch den Auszug sollten Eltern mit ihren Teenagern möglichst früh diskutieren – lange, bevor das jeweilige Ereignis ansteht.
Wie?
Indem sie Teenagern Familie vorleben als solidarische Gemeinschaft, der unterschiedliche Generationen angehören, und dass die Aufgabe der älteren darin liegt, die jüngere auf den Weg zu bringen, ihr Stück für Stück die Verantwortung für sich selbst zu übertragen.
Da gehört mit einer 15-, 16-Jährigen auch ein Gespräch auf den Tisch: Was hat sie vor, wenn sie in zwei, drei Jahren mit Schule oder Lehre fertig ist? Falls ein Studium ansteht: Bis wann finanzieren wir sie, und zu welchen Konditionen? Oder ein Zwischenjahr – da kann man sagen: Kannst du machen, aber wir finanzieren es nicht oder nur teilweise.
Fragen rund um Ausbildung, Finanzen und auch den Auszug sollten Eltern mit ihren Teenagern möglichst früh diskutieren – lange, bevor das jeweilige Ereignis ansteht. Und dabei signalisieren: Unser Interesse ist, dass du zügig in die nächste Phase kommst. So lernen Jugendliche, vorausschauend zu denken und sich mit wichtigen Fragen zeitig auseinanderzusetzen.