«Eltern sollten Entwicklung anstossen, nicht bremsen»
Merken
Drucken

«Eltern sollten Entwicklung anstossen, nicht bremsen»

Lesedauer: 4 Minuten

Das Verhältnis zwischen Jugendlichen und Eltern sei so gut wie nie, sagt Soziologe Klaus Hurrelmann, der profilierteste Jugend- und Generationenforscher im deutschsprachigen Raum. Er erklärt, weshalb das für alle Beteiligten auch Stolpersteine birgt.

Interview: Virginia Nolan
Bild: Marvin Zilm / 13 Photo

Herr Hurrelmann, Sie erforschen seit Jahrzehnten Beziehungen, Befinden und Werte von 12- bis 25-Jährigen. Wie erlebt die aktuelle Jugendgeneration das Verhältnis zu ihren Eltern?

Die Shell-Studie, eine der grössten Jugendumfragen im deutschsprachigen Raum, aber auch andere Untersuchungen zeigen: Die Beziehung zwischen Jugendlichen und ihren Eltern hat sich in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich verbessert.

Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen hat ein gutes oder sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern, in der Shell-Studie berichteten nur rund 10 Prozent von Spannungen. Entsprechend zufrieden sind Jugendliche mit der Erziehung durch ihre Eltern. Drei Viertel von ihnen bezeichnen diese als Vorbild und wollen ihre Kinder dereinst ähnlich erziehen. Die starke Revolte gegen die Eltern, wie sie einst gang und gäbe war, fällt heute weitgehend aus.

Die Entwicklungsaufgabe, sich von den Eltern zu lösen, dauert heute bis weit über die Pubertät hinaus.

Wie ist das zu erklären?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Der vermutlich gewichtigste ist das veränderte Erziehungsverhalten – weg vom autoritären Ansatz, der auf Gehorsam und Disziplin, schlimmstenfalls Einschüchterung und Gewalt beruht, hin zu einer partizipativ-demokratischen Herangehensweise. Zu meiner Zeit wollte man möglichst schnell weg von zu Hause, sich nicht länger gängeln lassen.

Klaus Hurrelmann ist ein deutscher Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Er war lange an der Universität Bielefeld tätig und leitete mehrere Ausgaben der Shell-Jugendstudie. Seit 2009 ist Klaus Hurrelmann Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. (Bild: Robert Rieger)

Heute ist das Verhältnis zwischen den Generationen geprägt von gegenseitigem Verständnis, Solidarität und weitgehender Harmonie – für einen 68er wie mich eine überraschende Konstellation. Wir haben zudem die besondere Situation, dass die Jugend früher beginnt und viel später endet.

Inwiefern?

Den Beginn der Jugend gibt die Biologie vor: Das Eintreten der Pubertät, das sich in den letzten 200 Jahren um vier bis sechs Jahre nach vorne verschoben hat. Das Ende der Jugend ist weniger klar definiert. Im üblichen Verständnis gilt als erwachsen, wer ungefähr weiss, welche gesellschaftlichen und beruflichen Interessen er oder sie hat, wer den Absprung aus dem Elternhaus geschafft und sich in die Gesellschaft integriert hat. Mit 18 oder 20 erfüllt diese Kriterien kaum noch jemand.

Europaweit ziehen die meisten Jugendlichen nicht vor 25 aus. Hierbei spielt sicher eine Rolle, dass Ausbildungen länger dauern und Heranwachsende finanziell abhängig sind von den Eltern. Gewiss sind manche zu bequem, um auszuziehen: Man hat eine günstige Schlafstätte, geniesst die Vorzüge eines funktionierenden Haushalts. Es würde aber zu kurz greifen, solche Umstände allein als Grund dafür anzuführen, dass die räumliche Distanzierung zu den Eltern so spät vonstattengeht.

Solange der Nachwuchs da ist, muss man sich nicht mit der Frage beschäftigen, wie es danach weitergeht.

Warum?

Weil man sich auch innerlich, also emotional nicht von ihnen entfernt hat. Umfragen bei über 20-Jährigen zeigen, dass für viele die Eltern noch immer als wichtigste Berater in allen Lebenslagen fungieren. Eltern bringen dem Nachwuchs bis in die späten Jugendjahre Fürsorglichkeit entgegen und die Kinder sind froh, auf deren Unterstützung zurückgreifen und ihnen gewisse Entscheidungen überlassen zu können.

Die Entwicklungsaufgabe, sich von den Eltern zu lösen, dauert heute bis weit über die Pubertät hinaus. Das muss man nicht bewerten, man kann es so stehen lassen – und darf nicht vergessen, dass die Eltern auch etwas davon haben.

Wie meinen Sie das?

Zum einen bezieht sich der Begriff der Jugendlichkeit heute nicht nur auf einen Lebensabschnitt, er wird auch als Lebensstil gedeutet, der für Offenheit, Spontaneität und Experimentierfreude steht und zu einer Art Maxime avanciert ist: Man will, unabhängig vom Alter, jung bleiben, sprich aufgeschlossen, unternehmungslustig. Mit Jugendlichen im Haushalt ergibt sich das ein Stück weit automatisch.

Die Kinder halten einen geistig in Bewegung, und ihre Unterstützung ist, gerade wenn es um digitale Themen geht, nicht zu unterschätzen. Zum anderen muss man sich, solange der Nachwuchs da und einem emotional so nah ist, nicht mit Fragen beschäftigen, die man lieber verdrängt: wie es nach der Familienphase weitergehen soll – beruflich, in der Partnerschaft. Das ist aber ein zweifelhafter Gewinn, der Eltern zum Nachteil gereichen kann, weil sie es nicht schaffen, ihre Rolle neu zu definieren.

Was ist mit den Heranwachsenden? Laufen die durch den aktuellen Zeitgeist nicht Gefahr, in Bezug auf Selbständigkeit zu scheitern? Ein neuerer Bestseller bezeichnet die heutigen Jugendlichen als «Generation lebensunfähig».

Das wäre ein sehr pessimistisches Szenario: dass wir in 15 Jahren lauter unselbständige Erwachsene haben, die bei jeder Kleinigkeit auf Unterstützung angewiesen und stets auf Bestätigung aus sind. Die optimistische Variante wäre die Annahme, dass alles bloss etwas länger dauert und junge Menschen sich mehr Zeit nehmen für die Frage, wer sie sein und wohin sie gehen wollen. Vermutlich wird die Realität irgendwo dazwischen liegen.

Sicher ist: Mit den Autonomiebemühungen des Kindes in der Pubertät können Eltern nur dann angemessen umgehen, wenn sie das Rad der Zeit nicht zurückdrehen oder die Tatsache verwischen wollen, dass zwei unterschiedliche Generationen unter einem Dach wohnen. Die Aufgabe der Eltern liegt darin, Entwicklung anzustossen, nicht, sie zu bremsen. Sie können bereits während der Pubertät ihrer Kinder ein paar Weichen stellen, damit die Sache mit dem Erwachsenwerden innert nützlicher Frist gelingt.

Fragen rund um Ausbildung, Finanzen und auch den Auszug sollten Eltern mit ihren Teenagern möglichst früh diskutieren – lange, bevor das jeweilige Ereignis ansteht.

Wie?

Indem sie Teenagern Familie vorleben als solidarische Gemeinschaft, der unterschiedliche Generationen angehören, und dass die Aufgabe der älteren darin liegt, die jüngere auf den Weg zu bringen, ihr Stück für Stück die Verantwortung für sich selbst zu übertragen.

Da gehört mit einer 15-, 16-Jährigen auch ein Gespräch auf den Tisch: Was hat sie vor, wenn sie in zwei, drei Jahren mit Schule oder Lehre fertig ist? Falls ein Studium ansteht: Bis wann finanzieren wir sie, und zu welchen Konditionen? Oder ein Zwischenjahr – da kann man sagen: Kannst du machen, aber wir finanzieren es nicht oder nur teilweise.

Fragen rund um Ausbildung, Finanzen und auch den Auszug sollten Eltern mit ihren Teenagern möglichst früh diskutieren – lange, bevor das jeweilige Ereignis ansteht. Und dabei signalisieren: Unser Interesse ist, dass du zügig in die nächste Phase kommst. So lernen Jugendliche, vorausschauend zu denken und sich mit wichtigen Fragen zeitig auseinanderzusetzen.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

Alle Artikel von Virginia Nolan

Mehr zum Thema Pubertät

Fielmann, Brillen für Kinder. Ein Mädchen und ein Junge schauen in die Kamera und tragen Kinderbrillen von Fielmann.
Advertorial
Kinderbrille von Fielmann – gemacht für jedes Abenteuer
Mit einer Kinderbrille kann der turbulente Alltag auch bei Fehlsichtigkeit sicher weitergehen. Dafür muss die Brille perfekt zum Kind passen.
Pubertät: Zwei Teenager-Mädchen liegen mit ihren Smartphones auf dem Bett
Entwicklung
Wie lässt sich die Pubertät gemeinsam meistern?
Die Pubertät ist für Teenager wie Eltern eine turbulente Zeit. Auf alle Beteiligten wartet eine neue Rolle, in die es sich einzufinden gilt.
Pubertät: Eine Teenager-Tochter mit ihren Eltern
Fritz+Fränzi
Pubertät: Unser Thema im Oktober
In der Pubertät verändert sich auch die Rolle der Eltern. Wie alle gelassener durch die Zeit des Umbruchs kommen.
Pubertät und Teenager: Eine Zeit in der Kopf und Körper umgebaut werden. Im Bild sind zwei Teenager-Freundinnen zu sehen.
Entwicklung
Pubertät: Eine Zeit des Wandels
Wie sich Kopf und Körper in der Pubertät verändern und warum Freundschaften plötzlich im Fokus stehen. Ein kurze Übersicht.
Drogen in Pubertät: Mutter und Sohn vor einem Haus
Entwicklung
«Distanz bedeutet kein Ende»
In der Pubertät von Renato erlitt die Beziehung zu seiner Mutter Tamara einen Bruch. Mittlerweile haben die beiden wieder zusammengefunden.
Pubertät und Probleme: Tochter mit ihren zwei Müttern auf Balkon
Entwicklung
«Ich will Probleme selbst lösen»
Tobi, 14, weiss, dass sie mit ihren Eltern Bettina und Fiona über alles reden kann – manches behält sie trotzdem lieber für sich.
Jugendliche, Pubertät: Junge Frau mit rotem T-Shirt
Entwicklung
10 Fragen rund um das Leben mit Teenagern
Pubertierende sind für ihre Eltern manchmal ein Buch mit sieben Siegeln – und umgekehrt genauso. Expertinnen über Stolpersteine im Alltag.
Eine Patchworkfamilie in der Pubertät: Aline, Sophie, Manuela, Nora, Jarno und Christof
Entwicklung
«Die Pubertät macht manches auch einfacher»
Mitten in der Pubertät: Manuela und ihre Töchter Sophie und Aline bilden mit Christof und seinen Kindern Nora und Jarno eine Patchworkfamilie.
Thomas Feibel Medienexperte
Medien
Radikalisiert Social Media unsere Jugend?
Das Schwarz-Weiss-Denken auf Social Media schadet Kindern und Jugendlichen. Es schürt Konflikte und verstärkt Zukunftsängste.
Thema Loslassen: Vater und Tochter umarmen sich. Sie lacht.
Erziehung
Loslassen verändert sich je nach Entwicklungsphase
Eltern müssen sich mit dem Kind mitentwickeln und ihm einerseits Sicherheit, Halt und andererseits Freiheit und Vertrauen zu schenken.
Berufswahl: Manuel Wüthrich
Berufswahl
Berufswahl: Was macht mich aus?
Je besser man sich kennt, desto eher findet man einen passenden Beruf. Sich selbst realistisch einzuschätzen, ist für junge Menschen allerdings nicht immer einfach.
Cannabis
Gesellschaft
Ab wann wird Kiffen zum Problem?
Kiffen wird bald legalisiert. Schon jetzt ist der Konsum von Cannabis unter Schweizer Jugendlichen weit verbreitet. Wie gefährlich ist das?
Gamen: «Ein Verbot schlägt einen Keil in die Elter-Kind-Beziehung»
Medien
«Ein Game-Verbot schlägt einen Keil in die Beziehung»
Warum es Jugendliche manchmal schlicht nicht schaffen, selbst mit dem Gamen aufzuhören, weiss Präventionsexpertin Christina Thalmann.
Psychologin Giulietta von Salis über den Umgang mit Gefühlen.
Erziehung
«Kinder verstehen vieles gut, aber wir trauen ihnen zu wenig zu»
Psychologin Giulietta von Salis plädiert dafür, Kinder alle Emotionen erfahren zu lassen und sich als Eltern den eigenen Gefühlen zu stellen.
Vergleiche: Wer kann was am besten?
Gesellschaft
Wer kann was am besten?
Sei es in der Schule oder auf Social Media: Kinder und Jugendliche vergleichen sich ständig. Sie gewinnen damit wichtige Informationen über sich selbst.
Jungs in der Pubertät
Entwicklung
«Ich schäme mich, weil ich klein und dünn bin»
Der 13-jährige Elia wäre gern muskulöser. Doch obwohl er fleissig Sport macht, bleibt der Junge schmächtig. Das sagt unsere Expertin.
Eine Krebsdiagnose stellte Morenos Leben auf den Kopf.
Gesellschaft
«Mir ist viel Gutes widerfahren»
Moreno Isler, 22, ist in der Lehre zum Fachmann Betreuung. Mit 14 stellten erst eine Krebsdiagnose, dann die Folgen der Behandlung sein Leben auf den Kopf.
Schulfrust: Junge steht im Treppenhaus mit Handy
Psychologie
5 Tipps gegen Schulfrust
Worauf Eltern achten sollten, wenn ihr Kind nicht mehr in die Schule will, erklärt Schulpsychologe Matthias Obrist.
Muskeln, Macker und Maseratis
Blog
Muskeln, Macker und Maseratis
Auf Insta, TikTok und Co. torpedieren sogenannte «Manfluencer» mit viel Muskeln und wenig Hirn die Erziehung unserer Kolumnistin.
Menstruation
Erziehung
Period Positivity – die erste Mens entspannt erleben
Die einen Mädchen* werden vollkommen überrascht. Andere wünschen sie sich sehnlichst herbei. Und wieder andere haken ihre erste Periode als selbstverständliche Nebensächlichkeit ab. Gänzlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass sie mit dem Einsetzen der Mens keine kleinen Mädchen mehr sind, sondern Frauen, die Kinder gebären könnten. Durchschnittlich 12,5 Jahre alt sind Mädchen heute in der […]
Thomas Feibel Medienexperte
Familienleben
«Hallo? So was kannst du echt nicht sagen!»
Wenn Kinder in die Rolle der Sprachpolizei schlüpfen und ihre Eltern für deren Wortwahl kritisieren, ist der Ärger vorprogrammiert.
Elternbildung
Hilfe, meine Tochter will ein Tattoo! 
Ramonas 14-jährige Tochter will ein Tattoo, ihre Mutter ist dagegen. Verbieten oder erlauben? Das sagt unser Expertenteam. 
Michele-Binswanger-Kolumne-Mutter-Kinder-Teenager
Elternblog
«Lose yourself» oder Tschüss mit Eminem
Dies ist die letzte Kolumne von Michèle Binswanger für Fritz+Fränzi. Das Loslassen fällt ihr nicht leicht. Doch nur so können wir fliegen.
Elternblog
Nichts gehört mir mehr!
Das Leben mit Teenagern kommt bisweilen einer Enteignung gleich: Persönliches Eigentum – Fehlanzeige. Existiert im Leben einer Mutter nicht mehr.
Entwicklung
Die emotionale Stärke von Jugendlichen fördern
Das Üben von sozialen und emotionalen Fähigkeiten kann die psychische Gesundheit von Jugendlichen verbessern.