Digitale Medien im Kindergarten: Muss das sein?
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Tablets im Kindergarten: Muss das sein?

Lesedauer: 7 Minuten

Dass Kinder schon im Chindsgi digitale Geräte nutzen, weckt bei manchen Eltern Befürchtungen. Doch diese seien unbegründet, sagen Fachleute und rufen dazu auf, die Medienbildung als Chance zu begreifen.

Text: Claudia Landolt
Bilder: Maike Vará

Die Vorstellung, dass Kinder vor dem Eintritt in den Kindergarten oder in der Kindergartenzeit nur mit Bilderbüchern aufwachsen, ist schön. Aber ist sie auch realistisch? Wohl kaum, zieht man als Referenz die 2020 erschienene Adele-Studie der Fachgruppe Medien­psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zum Medien­umgang von vier- bis siebenjährigen Kindern im Kontext ihrer Familien hinzu. Die Untersuchung kommt zu folgenden Ergebnissen:

6 Erkenntnisse der Adele-Studie

  • Kinder in diesem Alter setzen digitale Medien vor allem unterhaltungsorientiert ein. Sie ­schauen fern, spielen Games und hören Musik. Mit zunehmendem Alter kommen kommunikative Funk­tionen wie Telefonieren oder Versenden von SMS hinzu.

Je mehr Alternativen Kinder haben, desto weniger nutzen sie digitale Medien.

  • Kinder werden häufig durch ihr Umfeld zu digitalen Aktivitäten angeregt. Die Hauptmotive für ihre Nutzung digitaler Medien sind Spass, Unterhaltung und Neugier. 
  • Die Nutzungszeit von digitalen Medien hängt von der Vermittlung und den Regeln der Eltern ab. Auch beeinflussen die Jahreszeit und das Wetter die Nutzung. Je mehr Alternativen die Kinder haben, desto weniger nutzen sie digitale Medien. Die zeitliche Kontrolle des Nutzungsverhaltens ist gut durchsetzbar, die Kont­rolle der Inhalte ist für die Eltern eine Herausforderung.
  • Die Eltern sind unsicher in Bezug auf die «richtige Medienerziehung». Sobald die Kinder die Fähigkeit besitzen, selbständig Geräte zu bedienen und nach Inhalten zu suchen, sind sie nicht mehr von der Einwilligung der Eltern abhängig. Die Eltern müssen in diesem Moment also ein Stück weit die Kontrolle über die Nutzung abgeben. 
  • Die bis siebenjährigen Kinder spielen drinnen wie draus­sen. Sie treiben Sport, bewegen sich, machen Gesellschaftsspiele und lesen mit ihren Eltern beziehungsweise die Eltern lesen vor. Auf den digitalen Geräten hören sie Musik, nutzen aber auch audiovisuelle Medien für Serien, Filme, Hörbücher oder Videogames.
  • Eine grosse Mehrheit der Kinder fotografiert auch oder macht ­kurze Videos, meist auf dem Gerät der Eltern. Fast die Hälfte der Eltern gibt die eigene Ruhe und Entspannung als Grund für die Mediennutzung ihrer Kinder an. Langeweile ist hingegen nur für eine Minderheit ein Grund, Medien zu nutzen.

Die Vorstellung einer medienabstinenten frühen Kindheit entspricht einer romantischen Verklärung.

Amt für Volksschulen und Sport Kanton Schwyz

Es geht um Medienkompetenz

Dass Kindergartenkinder digitale Geräte nutzen: Für Erziehungs­expertinnen, Medienpädagogen, Lehrpersonen und Magistratinnen bedeutet das den Abschied von einer analogen Kindheit. «Die Vorstellung einer medienabstinenten frühen Kindheit entspricht mehr einer romantischen Verklärung als der Realität», schreibt allerdings das Autorenteam des Amtes für Volksschulen und Sport des Kantons Schwyz in einem Positionspapier zum Lehrplan 21 und dem Fach «Medien und Informatik».

Der Lehrplan 21 sieht vor, dass das Fach «Medien und Informatik» auch auf Kindergartenstufe eingeführt wird. Was heisst das? Halten nun Smartphones und Tablets Einzug zwischen Legosteinen und Puppenecke?

Nein, wie Eveline Hipeli, Medienpädagogin an der Pädagogischen Hochschule Zürich erklärt: «Im Kindergarten soll keineswegs Medienkonsum eingeführt oder zum alltäglichen Konsumelement werden. Es geht vielmehr darum, dass die Kinder die digitalen Medien als vielseitig verwendbare Hilfsmittel kennen und nutzen lernen, die sie beim Informieren, Kommunizieren, beim spielerischen Lernen und vor allem beim kreativen Gestalten unterstützen können», sagt Eveline Hipeli, die mit ihrer Bücherreihe «Ulla aus dem Eulenwald» die Medienkompetenz junger Kinder fördern möchte.

Spielerischer Umgang mit digitalen Medien

Im Kindergarten steht das Spielen stark im Vordergrund – und das soll auch so bleiben. «Das Spielen ist der Ausgangspunkt allen Lernens», sagt Lukas Teufl, Psychologe und Väterforscher. «Die Kinder lernen sich und die Umwelt durch das Spiel kennen.» Es wird beobachtet, ausprobiert und erprobt. Diesem natürlichen Forscherdrang trägt auch das neue Fach «Medien und Informatik» Rechnung.

Der Kindergarten zählt dabei zum so­genannten ersten Zyklus, welcher vier Klassen umfasst: erstes und zweites Kindergartenjahr und erste und zweite Klasse. Dieser erste Zyklus sieht im Kindergarten den Aufbau von Kompetenzen in den Bereichen Medien, Informatik und Anwendung vor. Eine explizite Anzahl an Lektionen wird dabei nicht vorgegeben – dies liegt in der Entscheidungskompetenz der Kantone. 

Kindergartenkinder sollen die digitalen Medien als vielseitig verwendbare Hilfsmittel kennen und nutzen lernen.

Eveline Hipeli, Medienpädagogin

Sie entscheiden ebenfalls, ob die Präsenz von Computern und Internet schon im Kindergarten oder erst in der ersten und zweiten Klasse aufzubauen ist (dort sind sie verbindlich festgeschrieben). Empfohlen wird lediglich, dass die Kindergartenlehrpersonen jährlich mindestens ein aktives Mediengestaltungsprojekt durchführen.

«Es geht dabei nicht nur darum, digitale Werkzeuge vorzustellen oder sie als Unterstützung zur Stoffvermittlung oder zum Lernen zu verwenden», sagt Eveline Hipeli. «Im Vordergrund stehen Experimentieren, Beobachten, Ausprobieren.» Die Kinder werden von blossen Konsumenten zu Produzenten und lernen dabei viel.»

Was sieht der Lehrplan vor?

Vier Kompetenzen sollen Kinder in ihrer Schulzeit erwerben:

  1. Die Schülerinnen und Schüler können sich in der physischen Umwelt sowie in medialen und virtuellen Lebensräumen orientieren und sich darin entsprechend den Gesetzen, Regeln und Wertesystemen verhalten.
  2. Sie können Medien und Medienbeiträge entschlüsseln, reflektieren und nutzen.
  3. Sie können Erfahrungen Gedanken, Meinungen und Wissen in Medienbeiträgen umsetzen und unter Einbezug der Gesetze, Regeln und Wertesysteme auch veröffentlichen.
  4. Sie können Medien interaktiv nutzen sowie mit anderen kommunizieren und kooperieren.

Auf Stufe Kindergarten wird nur an den ersten beiden Kompetenzstufen gearbeitet. Erste Stufe: Die Schülerinnen und Schüler können Dinge nach selbstgewählten Eigenschaften ordnen, damit sie ein Objekt mit einer bestimmten Eigenschaft schneller finden (wie Grösse, Farbe, Form und Gewicht). Zweite Stufe: Kindergartenkinder können formale Anleitungen erkennen und ihnen folgen (wie Koch- und Backrezepte, Spiel- und Bastelanleitungen, Tanzchoreografien und Theater).

Noch mangelt es an einem gemeinsamen Verständnis darüber, was gelernt werden soll. Das verunsichert.

Die Ängste der Eltern

Weil jeder Kanton sowie jede Schule individuell informieren, herrscht unter Eltern vielleicht Verunsicherung. Diese Irritation hat Eveline Hipeli in verschiedenen nicht repräsentativen Erhebungen ermittelt. «Wir befinden uns in einer Übergangsphase, bis der neue Lehrplan implementiert ist», sagt Eveline Hipeli.

Solche Phasen sind oft von Unsicherheit geprägt, zumal ein gemeinsames Verständnis dessen, was gelernt werden soll, fehlt. Viele Eltern verfügten mangels Informationen über eine Art Halbwissen. Die Untersuchung der PHZ ergab, dass «viele Eltern befürchten, dass ihr Kind im Kindergarten auf einem iPad herumwischen, im Internet surfen oder gar einfach im Freispiel gamen würde», so Hipeli. 

Bei der Medienbildung geht es um viel mehr als nur die Mediennutzungszeit.

Auch die eigenen Erfahrungen fliessen in die Befürchtungen ein. «Wir erinnern uns alle an den ­Informatikunterricht unserer Jugend», sagt Eveline Hipeli. «Das hiess bei vielen Computerraum, Excel und Wordtabellen, der Fokus lag auf rein oberflächlicher Anwenderkompetenz.» Das sei heute völlig anders.

«Im Kindergarten geht es überhaupt nicht nur um Anwenderkompetenz, sondern darum, zu zeigen, wie bereits junge Kinder informatisches Denken lernen können, indem sie Dinge ordnen oder eine Anleitung präzise bis zum Ziel verfolgen lernen», sagt Hipeli.

Wie Informatikkompetenz gefördert wird

Das geschieht in erster Linie durch das Spiel. Zum Beispiel das «Roboterspiel»: Hier übernimmt ein Kind die Rolle des Roboters, das andere Kind die Rolle des Programmierers. Der Roboter folgt nur ganz exakten Anweisungen: «Gehe geradeaus!», «Laufe drei Schritte!». Die Kinder werden sehr schnell merken, dass es wichtig ist, die Anweisungen so genau wie möglich zu formulieren, damit der Roboter wirklich macht, was man von ihm will.

Ein anderes Beispiel ist das Auffädeln von Perlen nach einem Muster (wahlweise auch Legosteine oder Bügelperlen). Kinder lieben es, einander knifflige Aufgaben zu erteilen. Solche Übungen sind nicht nur sinnvoll für die Förderung der Feinmotorik, sondern bieten den Kindern auch die Möglichkeit, einfache wiederkehrende Abfolgen zu erkennen und zu bilden – Dinge, die zum Grundkonzept des Programmierens gehören.

Auch eine Fotoarbeit ist als Medienprojekt möglich. So kann man den Kindergarten fotografieren und ­daraus ein Fotorätsel machen, in dem die Kinder die auf Ausschnitten gezeigten Details finden müssen. Dasselbe Prinzip funktioniert auch mit Tönen (welches Kind, welches Tier, welches Geräusch hört man?) und wenn ein Kind eine Audioaufnahme vom Klatschen seiner Mitschüler für ein Hörspiel macht.

Ebenso gehört zur Informatikkompetenz, Dinge sortieren zu können. Das kann eine Aufräum­geschichte sein oder aber auch, die Klasse nach Grösse, Haarfarbe, T-Shirts und so weiter zu ordnen und dabei zu diskutieren, wie man beim Ordnen vorgehen kann.

Training von Basisfähigkeiten

Die Beispiele zeigen, dass viel von dem, was im Rahmen der Lehrplanverordnung vorgeschrieben ist, ­heute schon praktiziert wird – notabene auch zu Hause. Steckperlen zu einem Bild zusammenzufügen, Legos nach Farben zu sortieren, ein Ausmalbild zusammen mit der Lehrerin zu suchen, ein Znüni nach Rezept zu backen oder sein gemaltes Bild im Kreis zu zeigen als Vorstufe zu einer Präsentation – alle diese Tätigkeiten trainieren jene Basisfähigkeiten, die es auch fürs Programmieren braucht: das Erkennen von Regelmässigkeiten und Mustern, sortieren, eine Abfolge befolgen und so weiter.

Wenn es der Schuletat erlaubt, sind auch Lernroboter wie Beebots im Kindergarten denkbar. Diese sollen den Kindern die Denkweise des Programmierens auf spielerische Weise näherbringen. In der Regel sind dies programmierbare Bodenroboter, wie wir sie vielleicht privat als Rasenmäher- oder Staubsaug­roboter kennen. Die Bewegungsrichtung sowie die Anzahl der Schritte können mittels Tasten direkt programmiert werden.

Eltern sollen die eigenen Medienerfahrungen unbedingt thematisieren.

Eveline Hipeli, Medienpädagogin

«Kinder lernen bei der Arbeit mit den Bodenrobotern vorauszudenken, Geschehnisse einzuschätzen, entsprechende Entscheidungen abzuleiten und eigene Problemlöse­strategien zu entwickeln», erklärt Eveline Hipeli. Ebenso wichtig sei es für Kinder, zu erkennen, dass diese Roboter nicht selbständig denken können, sondern Befehle ausüben, die Menschen ihnen geben. 

«Wir Eltern wollen unseren Kindern das bestmögliche Rüstzeug mitgeben für eine digitale Zukunft, von der wir nicht exakt wissen, wie sie aussehen wird», sagt Eveline ­Hipeli, selbst Mutter von drei Kindern. Hipeli und auch weitere Medienexpertinnen werden nicht müde, zu betonen, wie wichtig es für Väter und Mütter sei, die eigenen Medienerfahrungen zu thematisieren, sowohl bei sich selbst als auch bei ihren Kindern, und darüber zu sprechen, in der Familie, aber auch im Kindergarten. «Was schaue ich im Fernsehen?», «Welche Musik oder Hörspiele höre ich?», «Wie und auf welchem Gerät höre ich sie?» könnten Fragen sein, die man zusammen erörtert.

Weitere Infos und Arbeitsblätter

Unterstützung durch die Schule

Gespräche über Medien sind laut Hipeli zentral. Sie betont, dass Verbote oder Schutzschilder ab einem gewissen Alter nicht mehr wirken würden: «Heute laufen Mediengespräche zwischen Kindern und Eltern normalerweise so ab, dass die Mediennutzungszeit im Vordergrund steht.»

Das fördere, so Hipeli, die Medienkompetenz der Kinder jedoch nur bedingt. So wünschten auch die meisten Eltern in Medienangelegenheiten Unterstützung durch die Schule, sagt Hipeli. Sei es, weil Eltern ihre Kinder vor dem World Wide Web beschützen wollen, sei es, weil sie aus eigener Erfahrung um die Sogwirkung der Geräte wissen. 

Wenn durch informative Gespräche klar wird, dass der «Medien und Informatik»-Unterricht in der ­Schule auch als Wegbereitung für eine erfolgreiche Berufslaufbahn dient, entwickeln die Eltern oft Verständnis. Daher muss es das Ziel sein, die Eltern so zu informieren, dass Medienbildung für Kinder nicht nur mit Ängsten, sondern auch mit Chancen besetzt ist.

Claudia Landolt
ist Journalistin und Autorin, diplomierte Yogalehrerin und Mutter von vier Söhnen. Sie lebt im Kanton Aargau.

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