Mein Sohn, das aggressive Problemkind?
Bild: Marianne Gobble / Plainpicture
Der Sohn von Autorin Sandra Casalini war als Kleinkind der klassische Spielplatz-Schreck. Auch später fiel er immer wieder in alte Aggressionsmuster zurück – bis er auf Lehrpersonen traf, die ihn nicht in die «Problemkind»-Schublade steckten.
Ich war verzweifelt. Und fragte mich immer wieder, was ich falsch machte. Wie konnte es sein, dass eines meiner Kinder so sozial war und das andere so aggressiv? Ich hatte immer gedacht, aggressive Kinder seien so, weil sie das von zu Hause mitbekommen. Bei uns herrschte ein liebevoller Umgang untereinander und weder verbale noch körperliche Gewalt waren je ein Thema. Woher kam diese Aggression?
«Die vielen Eindrücke überforderten ihn.»
So war es auch während der folgenden Jahre. Immer wenn mein Sohn in eine neue Situation kam, fiel er in sein aggressives Verhaltensmuster zurück – und wir hatten das Pech, dass das bis vor zwei Jahren regelmässig der Fall war, da er jährlich wechselnde Lehrpersonen und/oder Klassen hatte. Die Kindergartenzeit war anspruchsvoll. Er brauchte eine Ewigkeit, bis er halbwegs einen Platz in der Gruppe gefunden hatte, plagte andere Kinder, äffte die Kindergärtnerin nach und räumte auf dem Heimweg regelmässig Briefkästen aus und stiess Mülltonnen um. Mir wurde immer wieder nahegelegt, meinen Job zu kündigen, dann wäre das Kind vielleicht etwas ‹normaler›. Oder ihn abzuklären – auf ADS, Asperger, irgendetwas, das sein ‹abnormales Verhalten› erklären würde. Aber ich wollte mein Kind nicht stigmatisieren, noch bevor es in die Schule kam.
Auch der Schulanfang war nicht einfach. Im Klassenzimmer schubste oder kniff er andere Kinder, in der Pause schlug er auch immer wieder zu. Das Schlimmste aber waren die Hausaufgaben. Er schrie und warf Sachen um sich, wenn beispielsweise beim Spitzen die Spitze des Bleistifts abbrach. Ich sass manchmal zwei Stunden neben ihm, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen, meine Nerven dem Zerreissen nahe.
Seit zwei Jahren hat er nun dieselben Lehrpersonen und ist mehr oder weniger in derselben Klasse, wo er sich gut integriert hat. Zwei Mal pro Woche geht er in die Hausaufgabenhilfe, das ist eine grosse Erleichterung für mich. Seit über einem Jahr gab es keine Vorfälle mehr in der Schule. Und: Im letzten Zeugnis war er in fast jedem Fach besser als vorher. Das liegt sicherlich nicht zuletzt an den Lehrpersonen, die seine Sensibilität erkannt und ihn nicht einfach in die Problemkind-Schublade gesteckt haben.
In einem guten Jahr kommt mein Sohn in die Oberstufe. Ich hoffe sehr, dass die vergangenen Jahre ihn dann so selbstbewusst gemacht haben, dass er nicht wieder in alte Muster zurückfällt. Und dass er auch dort auf Lehrpersonen trifft, die sein Potenzial erkennen, und – sollten sie wieder auftauchen – nicht nur seine Aggressionen sehen.»
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