«Wenn mich einer provoziert, verliere ich die Kontrolle»
Bild: Sophie Stieger / 13 Photo
Phillippe, 16, geht in die zehnte Klasse. Er schlägt immer wieder zu und verletzt dabei andere und sich selbst. Jetzt möchte er das ändern.
Ich habe auch schon andere verletzt. Kürzlich hat sich einer bei einer Rangelei die Rippe gebrochen. Das wollte ich nicht, und ich habe mich total schlecht gefühlt, als ich ihn blutend am Boden liegen sah. Ich will mich eigentlich nicht prügeln, aber wenn mich einer provoziert, verliere ich die Kontrolle. Der Typ hat etwas Blödes gegen meinen Cousin gesagt. Dessen Vater – mein Onkel – ist vor einiger Zeit gestorben. Das hat mich sehr mitgenommen. Wenn jemand in dieser Situation über deine Familie pöbelt, flippst du aus, ist doch klar. Alle sagen, ich solle dann einfach davonlaufen. Aber das kann ich nicht. Das hat etwas mit Stolz zu tun.
Seit etwa zwei Jahren gehe ich regelmässig zum Sozialarbeiter. Hier sagt mir niemand, ich sei ein Löli. Ich kann erzählen, ohne dass jemand über mich urteilt. Ich glaube, ich bin schon ruhiger geworden, auch wenn ich weiss, dass ich noch viel lernen muss. Ich muss gewisse Verhaltensmuster ablegen, um Neues lernen zu können. Ich möchte mehr Kontrolle über mich, möchte nicht mehr so schnell aggressiv werden. Aber das ist halt nicht so einfach, wenn man schon immer so war.
Ich glaube, ich bin einfach anders als andere, emotionaler, sensibler. Ich nehme vielleicht mehr auf. Auf der anderen Seite kann ich mich nämlich auch viel mehr über Dinge freuen als andere. Zum Beispiel über ein Weihnachtsgeschenk. Da habe ich schon geweint vor Freude.
Was mich glücklich macht? Zeit mit meinem Cousin und meinem besten Freund zu verbringen. Er geht aufs Internat und ich sehe ihn nicht sehr oft. Aber er ist immer für mich da, wenn ich ihn brauche. Und mein Training. Der Kampfsport gibt mir unendlich viel. Mein grösster Traum ist es, einmal Trainer zu werden. Dafür müsste ich ein Vorbild sein für die Kids. Mir ist klar, dass ich das nicht bin, wenn ich zuschlage. Deshalb hoffe ich, dass ich das irgendwann in den Griff kriege.»
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